Ungeschriebener Ordre-Public-Vorbehalt bei der Vollstreckung europäischer Haftbefehle
Zusammenfassung
Europa. Ein Raum gleicher Wertvorstellungen. Ein Raum gleicher Zielsetzungen. Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Aber gibt es diesen Raum wirklich? Gibt es tatsächlich einen Mindeststandard an Grund- und Menschenrechten, der von allen Mitgliedstaaten geschützt wird?
Diese Frage keimte vor gut zwei Jahren erneut auf. Grund war der Fall Puigdemont. Der katalanische Separatistenführer sollte aufgrund eines Europäischer Haftbefehls von Deutschland an Spanien ausgeliefert werden. Ihm wurde Rebellion und Veruntreuung vorgeworfen. Im Herbst 2017 ließ er ein Unabhängigkeitsreferendum durchführen, obwohl dieses zuvor für verfassungswidrig erklärt worden war. Da die deutschen Richter den Betroffenen lediglich einer Veruntreuung schuldig gesprochen hatten, war eine Auslieferung wegen Rebellion aufgrund fehlender beiderseitiger Strafbarkeit unzulässig. Spanien zog den europäischen Haftbefehl zurück, denn richterliche Entscheidungen sind nicht zu bewerten, sondern zu respektieren.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
A. Einleitung
B. Grundlagen
I. Verhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht
1. Sichtweise des EuGH
2. Position des BVerfG
II. Europäischer Haftbefehl
1. Allgemeines
2. Grenzen
C. Ordre-public-Vorbehalt?
I. Grundeinstellung des EuGH
1. Allgemeines
2. Rs. Âkerberg-Fransson
3. Rs. Melloni
4. Gutachten über den Eintritt der EU in die EMRK
5. Generalanwältin Sharpston in der Rs. Radu
6. Rs. Jeremy F
7. Zusammenfassung
II. BVerfG Beschluss v. 15.12.2015
1. Sachverhalt
2. Entscheidung
a) Möglichkeit einer Identitätskontrolle
b) Ausnahme von dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung
c) Übereinstimmung mit Unionsrecht
3. Kritik
4. Solange 3-Entscheidung?
a) Befürwortende Ansicht
b) Gegenansicht
5. Zwischenergebnis
III. EuGH in der Rs. Pal Aranyosi/Cäldäraru
1. Sachverhalt
2. Entscheidung
a) Ausnahme von der Institution des gegenseitigen Vertrauens
b) Dreistufige Prüfung für das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes
aa) Risikoprüfung
aaa) Abstrakte Gefahr
bbb) Konkrete Gefahr
bb) Aufklärung und Abhilfe
cc) Rechtsfolge
dd) Nachverfahren
3. Kritik
4. Zusammenfassung
V. EuGH in der Rs. Taricco 1
1. Sachverhalt
2. Entscheidung
3. Kritik
4. Zusammenfassung
VI. EuGH in der Rs. M.A.S. und M.B. / Taricco II
1. Sachverhalt
2. Entscheidung
3. Begründung
4. Kritik
5. Zusammenfassung
D. Stellungnahme
Literaturverzeichnis
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Abkürzungsverzeichnis
a.A. anderer Ansicht
AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
a.F. alter Fassung
Art. Artikel
Aufl. Auflage
Bd. Band
BeckRS Beck-Rechtsprechung
bspw. beispielsweise
BVerfG Bundesverfassungsgericht
BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
bzw. beziehungsweise
ders. derselbe
dt. Deutsch
EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EMRK Europäische Menschenrechtskonvention
ER Europarecht
EU Europäische Union
EuGH Europäischer Gerichtshof
EuHb Europäischer Haftbefehl
EuR Zeitschrift für Europarecht
europ. europäisch
EUV Vertrag über die Europäischen Union
f. folgend
FD-StrafR Fachdienst-Strafrecht (Zeitschrift)
ff. fortfolgende
Frankfurt a.M. Frankfurt am Main
GA Generalanwalt/Generalanwältin
gem. gemäß
GenStA Generalstaatsanwaltschaft
GG Grundgesetz
GR Grundrechte
GRC Grundrechtecharta
grds. grundsätzlich
h.M. herrschende Meinung
HansOLG Hanseatisches Oberlandesgericht
HRRS Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Hsrg. Herausgeber
hstl. hinsichtlich
insb. insbesondere
Int. SR Internationales Strafrecht
IPBPR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 (BGBl. 1973 II S. 1534).
iR im Rahmen
iRd im Rahmen des
IRG Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
iSd im Sinne des
iVm in Verbindung mit
JR Juristische Rundschau
JuS Juristische Schulung
JZ Juristenzeitung
Kap. Kapitel
lit. littera (= Buchstabe)
n.F. neuer Fassung
nat. national
NJW Neue Juristische Wochenschrift
Nr. Nummer
NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht
NZWiSt Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht
OLG Oberlandesgericht
RbEuHb Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl
Rn. Randnummer
Rs. Rechtssache
Rspr. Rechtsprechung
S. Satz
s.o. siehe oben
SchlA v. Schlussanträge vom
sog. sogenannt
SR Strafrecht
StGB Strafgesetzbuch
StV Strafverteidiger
u. und
u.a. unter anderem
UA Unterabsatz
Urt. v. Urteil vom
v. vom
vgl. vergleiche
wistra Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht
ZIS Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik
A. Einleitung
Europa. Ein Raum gleicher Wertvorstellungen. Ein Raum gleicher Zielsetzungen. Ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“1. Aber gibt es diesen Raum wirklich? Gibt es tatsächlich einen Mindeststandard an Grund- und Menschenrechten, der von allen Mitgliedstaaten geschützt wird?
Diese Frage keimte vor gut zwei Jahren erneut auf. Grund war der Fall Puigdemont. Der katalanische Separatistenführer sollte aufgrund eines Eu- Hbs von Deutschland an Spanien ausgeliefert werden. Ihm wurde Rebellion und Veruntreuung vorgeworfen. Im Herbst 2017 ließ er ein Unabhängigkeitsreferendum durchführen, obwohl dieses zuvor für verfassungswidrig erklärt worden war. Da die deutschen Richter den Betroffenen lediglich einer Veruntreuung schuldig gesprochen hatten, war eine Auslieferung wegen Rebellion aufgrund fehlender beiderseitiger Strafbarkeit unzuläs- sig.2 Spanien zog den EuHb zurück,3 denn „[r]ichterliche Entscheidungen sind nicht zu bewerten, sondern zu respektieren“4.
Der hier aufgegriffene Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, die Basis des EuHbs, kann jedoch nicht schrankenlos gelten. Es findet sich allerdings kein kodifizierter Ablehnungsgrund, wenn es um die Verletzung grund- und menschenrechtlicher Garantien geht.5
Somit stellt sich die Frage wie zu verfahren ist, wenn durch die Auslieferung unveräußerliche europ. oder nat. Grundrechtsgarantien betroffen sind, denen das Sekundärrecht der EU nicht gerecht wird.6 Diese Thematik soll in der nachstehenden Arbeit untersucht werden. Zunächst wird das grds. Verhältnis von nat. und europ. Recht und die Grundsätze des EuHbs erläutert, bevor auf die Problematik an sich eingegangen wird. Hier werden die wichtigsten Entscheidungen des BVerfG und des EuGH dargestellt und im Hinblick auf einen ungeschriebenen ordre-public-Vorbehalt bei der Vollstreckung EuHbs analysiert. Am Ende folgt eine persönliche Stellungnahme.
B.Grundlagen
I. Verhältnisdes Unionsrechts zum nationalen Recht
1. Sichtweise des EuGH
Der EuGH vertritt grds. einen umfassenden Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor jeglichem nat. Recht. Grundlage hierfür bildet die Selbstständigkeit der europ. Rechtsordnung, welche auf der Abtretung mitgliedstaatlicher Hoheitsrechte fußt.7
2. Position des BVerfG
Auch das BVerfG nimmt grds. einen Anwendungsvorrang des EU-Rechts an, sieht diesen jedoch in der Integrationsermächtigung (Art. 23 I, 59 II 1 GG) begründet.8 So kann der Vorrang nicht schrankenlos gelten. Vielmehr müssen die nat. Grundrechte Beachtung finden. Das BVerfG übt „seine Gerichtsbarkeit über [... „unionsrechtlich determinierte deutsche Hoheitsakte sowie Hoheitsakte der EU“9 ] nicht mehr aus“, „[s]olange die Europäischen Gemeinschaften [...] einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt“10.
Eine Ausnahme bildet die Identitätskontrolle. Unabhängig vom allgemeinen europ. Grundrechtsschutz11 soll überprüft werden können, „ob infolge des Handelns europäischer Organe die in Art. 79 [III] GG für unantastbar erklärten Grundsätze der Art. 1 und 20 GG verletzt werden“12. Liegt ein solcher Verstoß vor, müssen entgegenstehende Unions(rechts)akte gegebenenfalls unangewendet bleiben. Allein das BVerfG ist befugt, eine derartige Verletzung festzustellen. Die Identitätskontrolle ist nur in Ausnahmefällen zulässig, da insoweit die Rspr. des EuGH, die GRC und Art. 6 EUV ausreichend Schutz gewähren.13
II. Europäischer Haftbefehl
1. Allgemeines
Der EuHb findet seinen Ursprung in dem Rahmenbeschluss des Rates vom 13.06.2002 über den EuHb und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (RbEuHb)14. Dieser wurde durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI15 des Rates vom 26.02.2009 geändert.16
Grundlage17 bildet das Statut der gegenseitigen Anerkennung (Art. 82 I AEUV)18, welches der Realisierung einer einheitlichen justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen dienen soll. Hierdurch sollen die Mitgliedstaaten gegenseitig auf die hinreichende Gewährung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Grundsätze vertrauen können. Dies soll gerade auch dann gelten, wenn etwaige Harmonisierungsmaßnahmen noch nicht erfolgt sind. Wenn die flüchtigen Straftäter aufgrund der europ. Freizügigkeitsrechte problemlos innereurop. Grenzen überschreiten können, dann soll dies im Gegenzug ebenso für die Strafverfolgungsorgane möglich sein. Den Strafverfolgungsbehörden wird ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 3 II EUV, Art. 67 ff., insb. 82 ff. AEUV) eröffnet, um die Strafverfolgung bestmöglich gewährleisten zu können.19
Mithilfe des EuHbs sollte dem undurchsichtigen und zeitintensiven klassischen Auslieferungsverfahren Abhilfe geschafft werden. Das traditionelle zweistufige Auslieferungsverfahren sollte durch ein einstufiges, rein justizielles, ersetzt werden. Im klassischen Rechtshilferecht folgte nach der durch das OLG vorgenommenen Zulässigkeitsprüfung (§§ 12f. IRG) die Auslieferungsbewilligung. Eine politische, auf Ermessen beruhende, Bewilligungsentscheidung der Exekutive sollte es iRd EuHbs jedoch nicht mehr geben.20 Des Weiteren kann bei der Auslieferung aufgrund des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten weitgehend auf die bisher erforderliche beiderseitige Strafbarkeit verzichtet werden (Art. 2 II RbEuHb).21
2. Grenzen
Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung kann nicht schrankenlos gelten. Art. 3, 4, 4a RbEuHb beinhalten deshalb obligatorische bzw. fakultative Ablehnungsgründe, bei deren Vorliegen der vollstreckende Staat die durch den EuHb begehrte Auslieferung verweigern muss bzw. kann.22
C. Ordre-public-Vorbehalt?
Ob der Vollstreckung eines EuHbs aufgrund weitergehender, grund- oder menschenrechtlicher Erwägungen widersprochen werden kann, ist höchst umstritten. Die Präambel des RbEuHbs schreibt grds. die Beachtung der GRC vor. Auch Erwägungsgrund Nr. 12 zeigt, dass der RbEuHb nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, zu achten. Die Erwägungsgründe verpflichten die Mitgliedstaaten jedoch nicht23. Auch stellen sie keine weiteren Ablehnungsgründe dar.24
Es gibt keinerlei kodifizierte Ablehnungsgründe, wenn eine Verletzung des europ. oder nat. ordre-publics im Raum steht. So muss man sich mit der hierzu ergangenen Rspr. sowohl des BVerfG als auch des EuGH auseinandersetzen, um die anfangs gestellte Frage beantworten zu können.
I. Grundeinstellung des EuGH
1. Allgemeines
Der EuGH vertrat lange Zeit den Standpunkt, ein ordre-public-Vorbehalt finde grds. keinen Raum iRd EuHbs.25 Das Auslieferungserbeten des ersuchenden Staates und die Vollstreckungshandlung des ausliefernden Staates erfolgen einheitlich in einem gemeinsamen Rechtsraum, der ein ausreichendes Maß an grund- und menschenrechtlichen Garantien sicherstellt. Das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre Strafjustizsysteme muss Beachtung finden. Nur so kann Art. 1 II RbEuHb Rechnung getragen werden, der einen Verstoß gegen europ. Grundrechte im ersuchenden Staat weder als obligatorischen noch als fakultativen Ablehnungsgrund anerkennt. Europ. Grundrechte werden lediglich in Art. 1 III RbEuHb erwähnt. Demnach berührt der RbEuHb nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, zu achten. Weder hieraus noch aus der GRC kann ein allgemeiner ordre-public-Vorbehalt gezogen werden.26
2. Rs. Âkerberg-Fransson
Wie bereits gesehen geht der EuGH grds. von einem umfassenden uniona- len Anwendungsvorrang aus. Primär zu berücksichtigen sind stets die Garantien der EMRK (vgl. Art. 6 III EUV, Art. 52 III GRC) sowie die der GRC (vgl. Art. 6 I GRC).27 Mit Urteil in der Rs. Âkerberg-Fransson macht er jedoch deutlich, dass nat. Grundrechte dann Anwendung finden, wenn sie einen höheren Schutz gewährleisten als die GRC. Hierbei darf gleichwohl „das Schutzniveau der Charta“ und „der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts [nicht] beeinträchtigt werden“28. Wiederum betont er die fundamentale Bedeutung einer wirksamen Zusammenarbeit iRd Strafverfolgung und einer effektiven gegenseitigen Anerkennung. Im Zweifel ist also davon auszugehen, dass der EuGH einer effektiven Strafverfolgung und dem Prinzip und der Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung Vorrang vor einem europ. oder nat. Grundrechtsschutz gewähren wird.29
3. Rs. Melloni
Dies zeigt sich bspw. in der Rs. Melloni.30 Vorliegend begehrte Italien mittels eines EuHbs die Auslieferung eines Beschuldigten aus Spanien. Durch Vorlage an den EuGH sollte geklärt werden, ob der Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils widersprochen werden kann, wenn der Betroffene hiergegen keinerlei Rechtsmittel mehr geltend machen kann. Andernfalls wollte man wissen, ob der Vollstreckungsstaat dieses Fehlen an Rechtsmitteln als Grundlage für eine Ablehnung heranziehen kann. Es sollte also geklärt werden, ob Art. 53 GRC insoweit einen nat. ordre-public-Vorbe- halt beinhaltet, als der Vollstreckungsstaat die Auslieferung an die Möglichkeit knüpfen kann, dass Rechtsmittel eingelegt werden können.31
Dem EuGH zufolge widerspricht eine derartige Bedingung bereits dem Wortlaut des Art. 4a I lit. a und b RbEuHb, wenn der Betroffene, wie vorliegend, zuvor von der Verhandlung gewusst hat und auf die Möglichkeit eines Abwesenheitsurteils hingewiesen worden ist. Zwar stellt das Anwesenheitsrecht einen fundamentalen Bestandteil des fair-trial Grundsatzes dar (Art. 47, 48 II GRC), hierauf kann jedoch rechtmäßig verzichtet werden. Ein Verstoß gegen Art. 6 I, III EMRK ist folglich nicht ersichtlich, was auch vom EGMR so vertreten wird.32
Wie bereits in zahlreichen anderen Entscheidungen33 geht der EuGH auch hier von einem abschließenden Verständnis der Art. 3, 4, 4a RbEuHb aus. Unter Zuhilfenahme von Art. 53 GRC verdeutlicht er, dass eine Auslieferung auch dann nicht verweigert werden darf, wenn aus nat. verfassungsrechtlicher Sicht ein Verstoß gegen den fair-trial Grundsatz oder die Verteidigungsrechte angenommen wird.34 Die Mitgliedstaaten können sich nur dann auf Art. 53 GRC berufen, „sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta [...] noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“35. Sollten europ. Grundrechte einen einheitlichen Schutz gewähren, bleibt für Art. 53 GRC folglich kein Raum.36 Der GRC entsprechende Sekundärrechtsakte könnten von den Mitgliedstaaten unter Verweis auf einen Verstoß gegen nat. Grundrechte abgelehnt werden. Dann wäre die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, die auf dem Statut des gegenseitigen Vertrauens beruht,37 zum Scheitern verurteilt. Dies würde die Effektivität des RbEuHb s erheblich beeinträchtigen.38
4. Gutachten über den Eintritt der EU in die EMRK
Auch in dem Gutachten über eine Mitgliedschaft der EU in der EMRK39 wiederholte der EuGH den wichtigen Stellenwert des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung.40 Aufgrund dieser Institution ist jeder Mitgliedstaat, „von Ausnahmefällen abgesehen“41, verpflichtet darauf zu vertrauen, dass die anderen Mitgliedstaaten einen hinreichenden Schutz gewähren.
In dem Einschub „von Ausnahmefällen abgesehen“ eine Ausnahmeklausel für einen ordre-public zu sehen, erscheint jedoch nicht sachgerecht. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Begründungskontext des Gutachtens. Vielmehr hat der EuGH durch einen unmittelbar nachfolgenden Klammerzusatz jedweden Ansatzpunkt für einen solchen Vorbehalt im Keim erstickt. Hierdurch verweist er auf die Rs. Melloni und zwar besonders auf die Randnummern, welche einen etwaigen Vorbehalt gerade nicht erwäh- nen.42
Mit Ablehnung eines Beitritts zur EMRK wurde dem EGMR jegliche Diskussion mit dem EuGH über menschenrechtliche Gewährleistungen verwehrt. Der EGMR entgegnete in der Rs. Avotins v. Lettland, er werde weiter an der Bosphorus-Vermutung festhalten. Auf Unionsebene werde ein der EMRK vergleichbarer Grundrechtsschutz grds. vermutet. Hoheitliches Handeln der Mitgliedstaaten, welches mittelbar auf Akte der EU zurückzuführen ist und rechtmäßig umgesetzt wurde, werde nur eingeschränkt begutachtet. Es werde lediglich überprüft, ob der Schutz grundrechtlicher Gewährleistungen „offensichtlich unzureichend“ ist („manifest deficiencies“). Die nat. Gerichte müssten die Schutzstandards der EMRK jedoch auch dann gewährleisten, wenn dies gegen EU-Recht verstoße.43
5. Generalanwältin Sharpston in der Rs. Radu
Über etwaige Ausnahmefälle sprach bereits GA Sharpston in ihren Schlussanträgen in der Rs. Radu. In strengen Ausnahmesituationen wollte sie einen Raum für einen europ. ordre-public eröffnen. Der ersuchte Staat solle grds. eine Verletzung der EMRK und der GRC prüfen. „[W]enn nachgewiesen wird, dass die Menschenrechte der Person, die übergeben werden soll, bei oder nach dem Übergabeverfahren verletzt worden sind oder in Zukunft verletzt werden“44, könne der an sich zur Vollstreckung verpflichtete Staat einer Auslieferung in Extremfällen widersprechen. Insoweit habe das Primärrecht der EU Vorrang vor dem Sekundärrecht.45 Andernfalls sei zu befürchten, dass Art. 1 III RbEuHb keinerlei Bedeutung zukomme.46
Ihr Bestreben nicht beachtend, entschied der EuGH auch hier, die in Art. 3, 4, 4a RbEuHb genannten Gründe sind als abschließend anzusehen. Überdies können lediglich die Bedingungen des Art. 5 RbEuHb gerügt werden.47
6. Rs. Jeremy F.
In der Rs. Jeremy F. ging der EuGH jedoch von einer Institution aus, die als europ. ordre-public gedeutet werden kann. Demnach soll der ersuchende Staat für die „Rechtmäßigkeit des Verfahrens der Strafverfolgung, der Strafvollstreckung oder der Verhängung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung oder auch des strafrechtlichen Hauptverfahrens, das zur Verhängung dieser Strafe oder Maßregel geführt hat“48, Rechnung tragen. Der ersuchte Staat darf die Übergabe nur dann verweigern, „wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 [I EUV] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Art. 7 [I EUV] mit den Folgen von Art. 7 [II] festgestellt wird“49. Die Europ. Kommission sah hierin einen in Extremfällen greifenden Ablehnungsgrund des Vollstreckungsstaates im Sinne eines europ. ordre-publics.50
7. Zusammenfassung
Der EuGH vertrat lange Zeit einen umfassenden unionalen Anwendungsvorrang vor jeglichem nationalen Recht zugunsten der Effektivität des Unionsrechts.51 Nur er sollte den Grundrechtsschutz innerhalb der EU definieren können. Ungeschriebene Ablehnungsgründe außerhalb der Art. 3, 4, 4a RbEuHb wurden nicht anerkannt.52 Die GRC definiert zwar einerseits das Schutzniveau der EMRK als Teil des europ. Grundrechtsschutzes (vgl. Art. 52 III GRC). Andererseits dient sie jedoch als Integrationsschranke für weiterreichende nat. Grundrechte. „Die GRC ist damit zugleich Grundrechtegewährleistungsdokument wie auch Grundrechte- verdrängungsdokument“53.
Mit seiner bisherigen Rspr. entzog der Gerichtshof § 73 S. 2 IRG seine unionsrechtliche Legalität.54 Gem. § 73 S. 2 IRG ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn die Erledigung den in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätzen, genauer dem europ. ordre-public,55 widerspricht. Das OLG München erklärte dennoch, dt. Behörden und Gerichte würden anhand des § 73 S. 2 IRG weiterhin prüfen, ob die Vollstreckung EuHbs der EMRK (vgl. Art. 6 II, III EUV) oder der GRC (vgl. Art. 6 I EUV) zuwi- derlaufe.56
II. BVerfG Beschluss v. 15.12.2015
Das BVerfG zeigte sich mit der Rspr. des EuGH nicht zufrieden. Die wohl wichtigste Entscheidung hierzu bildet sein Beschluss v. 15.12.2015.57
1. Sachverhalt
1992 wurde der Amerikaner R durch ein florentinisches Gericht zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt. 2014 wandte sich Italien mittels eines EuHbs an Deutschland, um dessen Auslieferung zu erreichen. Das für die Zulässigkeitsentscheidung zuständige OLG Düsseldorf äußerte Bedenken im Hinblick auf Art. 83 Nr. 3 IRG a.F. (=Art. 83 IV IRG n.F.). Vorliegend handelte es sich um ein Abwesenheitsurteil, von welchem R keinerlei Kenntnis hatte. Demnach hätte dem R im ersuchenden Staat ein Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren, an dem er teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und das ursprüngliche Urteil aufgehoben werden kann, gewährleistet werden müssen.58
R führte an, diese Möglichkeit würde ihm aufgrund der in Italien vorherrschenden unübersichtlichen Rechtslage, bedingt durch diverse Rechtsänderungen, verwehrt werden. Dem widersprechend äußerte die GenStA Florenz, die Durchführung einer weiteren Beweisaufnahme sei „jedenfalls nicht ausgeschlossen“59.
Da das OLG der Zulässigkeitsentscheidung ohne weitere Prüfung stattgab, erhob R Verfassungsbeschwerde und verlangte Eilrechtsschutz. Das BVerfG gab seiner Klage statt.60
2. Entscheidung
a) Möglichkeit einer Identitätskontrolle
In seiner Entscheidungsbegründung betont das BVerfG, dass es zwar grds. an dem im Solange-II Beschluss anerkannten Anwendungsvorrang des Unionsrechts festhält. Die Abtretung von Hoheitsrechten wird durch das GG und das Zustimmungsgesetz jedoch nicht schrankenlos gewährleistet. Art. 79 III GG iVm Art. 23 I 3 GG dient als Schranke im Hinblick auf den integrationsfest ausgestalteten Verfassungskern (s.o.).61
Laut BVerfG hätte eine Vollstreckung des italienischen EuHbs einen so fundamentalen62 Grundrechtsverstoß bewirkt, dass dadurch der unantastbare Kernbereich der dt. Verfassungsidentität berührt worden wäre.63 Art. 1 GG beinhaltet das Rechtsstaatsprinzip und den darin und „in der Menschenwürdegarantie [...] verankerte[n] Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt“64. Demnach muss sich ein „Gericht in der öffentlichen
Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten einen Einblick in seine Persönlichkeit, seine Beweggründe, seine Sicht der Tat, des Opfers und der Tatumstände“ verschaffen. Hiergegen wird durch das vorliegende Abwesenheitsurteil verstoßen. Durch die Auslieferung würde R in seinem Recht aus Art. 1 I GG verletzt werden. Eine Vollstreckung des EuHbs ist mithin unzulässig.65
[...]
1 Hecker EU SR post-Lissabon S. 15.
2 Tagesschau Auslieferung Puigdemonts zulässig (Stand: 12.07.2018) https://www.tages- schau.de/inland/puigdemont-auslieferung-115~_origin-3e0eef22-c6d0-4f55-805e-242ac abb80ae.html [ 23.06.2019].
3 Bräutigam Spanien zieht Haftbefehl gegen Puigdemont zurück (19.07.2018) https://www.tagesschau.de/ausland/puigdemont-32 1.html [23.06.2019].
4 Dugge Deutsches Urteil Problem für Spaniens Justiz (12.07.2018) https://www.tages- schau.de/ausland/puigdemont-auslieferung-117.html [23.06.2019].
5 Haggenmüller Der EuHb und die Verhältnismäßigkeit seiner Anwendung in der Praxis S. 119ff.
6 Satzger Europ. und Inter. SR, § 10 Rn. 26a.
7 EuGH Urt. v. 15.7.1964 - C-6/64, BeckRS 1964, 105086; Satzger in Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg § 1 Rn. 8.
8 Streinz ER Rn. 223ff.; Polzin JuS 2012 S. 2.
9 Brodowski JR 2016 S. 423.
10 BVerfG NJW 1987, 577, 582 - Solange II.
11 Sauer NJW 2016 S. 1136.
12 BVerfG NJW 2009, 2267, 2272.
13 BVerfG NJW 2016, 1149, 1151; BVerfG NJW 2009, 2267, 2272ff.; Kühne StV 2016 S. 299f.
14 Rahmenbeschluss 2002/584/JI, ABlEG 2002 Nr. L 190/1; Safferling Int. SR S. 498.
15 ABIEU 2009 L 81 v. 26.3.2009, S. 24ff.
16 Satzger Europ. und Inter. SR, § 10 Rn. 32f.
17 Vgl. Erwägungsgrund 10 des RbEuHbs; Scheuermann Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im geltenden und künftigen Europ. SR S. 87.
18 Rosenau in Prävention und Repression im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts S. 104f.; Safferling NStZ 2014 S. 546.
19 Satzger NStZ 2016 S. 514; Meyer JZ 2016 S. 624.
20 Satzger Europ. und Inter. SR, § 10 Rn. 32f.
21 Satzger Europ. und Inter. SR, § 10 Rn. 32; Satzger NStZ 2016 S. 514.
22 Haggenmüller Der EuHb und die Verhältnismäßigkeit seiner Anwendung in der Praxis S. 119ff.
23 Andreou Gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen in der EU S. 198.
24 Haggenmüller Der EuHb und die Verhältnismäßigkeit seiner Anwendung in der Praxis S. 123.
25 Hecker EU SR S. 439.
26 EuGH NJW 2011, 983, 984; Satzger NStZ 2016 S. 514.
27 Jähnke/Schramm EU SR S. 337; Hackner/Schierholt Int. Rechtshilfe in Strafsachen S. 41.
28 EuGH NJW 2013, 1415, 1416.
29 Satzger NStZ 2016 S. 515.
30 EuGH NJW 2013, 1215, 1219.
31 Haggenmüller Der EuHb und die Verhältnismäßigkeit seiner Anwendung in der Praxis S. 214f.
32 EuGH NJW 2013, 1215, 1218f.
33 EuGH NJW 2013, 1145; EuGH Urt. v.6.10.2009, Rs. C-123/08, ECLI:EU:C:2009:616 Rn. 57 - Wolzenburg; EuGH Urt. v.1.12.2008 - Rs. C-388/08 PPU, ECLI:EU:C:2008:66 9 Rn. 51 - Leymann und Pustovarov.
34 EuGH NJW 2013, 1215, 1218f.
35 EuGH NJW 2013, 1215, 1219.
36 GA Bot, SchlA v. 2.10.2012 - C-399/11, ECLI:EU:C:2012:600 Rn. 126 - Melloni.
37 Dannecker Fuchs-FS S. 123.
38 EuGH NJW 2013, 1215, 1218f.
39 EuGH JZ 2015, 773.
40 EuGH JZ 2015, 773, 777; Schorkopf JZ 2015 S. 782.
41 EUGH JZ 2015, 773, 777.
42 EUGH JZ 2015, 773, 777; Satzger NStZ 2016 S. 515f.; a.A. Schumann Anerkennung und ordre public S. 304f. (Der EuGH prüfe in der Rs. Radu und Melloni eigenhändig weitergehende Ablehnungsgründe. Demnach könne er einen europ. ordre-public-Vorbe- halt nicht grds. ablehnen).
43 EGMR BeckRS 2016, 13748 Rn. 112, 116; EGMR NJW 2006, 197, 202ff.; Swoboda ZIS 2018 S. 280.
44 GA Sharpston, SchlA v. 18.10.2012 - C-396/11, ECLI:EU:C:2012:648 Rn. 97 - Radu.
45 Schumann Anerkennung und ordre public S. 303.
46 GA Sharpston, SchlA v. 18.10.2012 - C-396/11, ECLI:EU:C:2012:648 Rn. 70, 73 - Radu.
47 Ambos/Poschadel in Ambos/König/Rackow Kap. 1 Rn. 70.
48 vgl. EuGH Urt. v.30.5.2013 - Rs. C-168/13 PPU, ECLI:EU:C: 2013: 358 Rn. 50 - Jeremy F; Schumann, Anerkennung und ordre public S. 305.
49 vgl. EuGH Urt. v.30.5.2013 - Rs. C-168/13 PPU, ECLI:EU:C: 2013: 358 Rn. 49 - Jeremy F.
50 GA Villalön, SchlA v. 6.7.2015 - C-237/15 PPU, ECLI:EU:C: 2015: 509 Rn. 81 - Lanigan.
51 Esser Europ. und Int. SR S. 453.
52 A.A. Haggenmüller Der EuHb und die Verhältnismäßigkeit seiner Anwendung in der Praxis S. 223f. (Der EuGH lehne einen europ. ordre-public-Vorbehalt nicht grds. ab, da in der Rs. Radu und Melloni eigenhändig weitergehende Ablehnungsgründe geprüft wurden. Zudem sei es in den konkreten Fällen nie zu einer Grundrechtsverletzung gekommen).
53 Swoboda ZIS 2018 S. 282.
54 Jähnke/Schramm EU SR S. 17f.; Brodowski HRRS 2013 S. 56.
55 Böse in Tiedemann/Sieber/Satzger/Burchard/Brodowski (Hrsg.), Die Verfassung moderner Strafrechtspflege S. 211 (213); Ambos, Int. SR S. 645.
56 OLG München StV 2013, 710, 710f.
57 BVerfG NJW 2016, 1149.
58 Satzger NStZ 2016 S. 516f.; Brodowski JR 2016 S. 416, 421.
59 BVerfG NJW 2016, 1149, 1159.
60 Brodowski JR 2016 S. 416, 421.
61 BVerfG NJW 2016, 1149, 1150ff.
62 Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht S.141.
63 BVerfG NJW 2016, 1149, 1152; Satzger NStZ 2016 S. 517.
64 BVerfG NJW 2016, 1149, 1152; vgl. Kühne StV 2016 S. 300.
65 BVerfG NJW 2016, 1149 1154.