Assessment Instrumente in der Forensischen Psychiatrie. Wie effektiv ist das Gezeitenmodell Assessment im Vergleich zum standardisierten Aufnahmeassessment Forensik?
Zusammenfassung
Patienten im Maßregelvollzug sind gegen ihren Willen untergebracht und teilweise über Jahre chronifiziert. Inwieweit greift bei den immerhin 63% der untergebrachten Patienten mit einer teils chronifizierten Psychose das Forensik Assessment und wo ist das Gezeitenmodell Assessment dem aktuellen Stand der Wissenschaft besser angepasst und auch patientenorientierter in ihrer jeweiligen Krankheitsphase? Empowerment, Autonomie und Recovery sind Wörter, die in der Forensischen Psychiatrie immer weiter an Bedeutung gewinnen und in der ganzheitlichen Behandlung von psychisch Erkrankten nicht mehr wegzudenken sind. Das Ziel dieser Hausarbeit soll sein, zu zeigen, welches Aufnahmeassessment effektiv im Arbeitsalltag ist.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Methode
3. Arbeitssetting und Autorin
4. Informationen zur Lebens- und Krankheitsgeschichte
5. Definition zentraler Begriffe
5.1. Recovery
5.2. Paranoide Schizophrenie
5.3. Empowerment
5.4. Autonomie
6. Durchführung der Assessments
7. Diskussion
8. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In Deutschland werden circa 9000 Menschen in Kliniken für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie auf Grundlage des §63 StGB stationär behandelt (Müller und Sai- meh, 2017, S.3). Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist (Bundesamt für Justiz, Strafgesetzbuch, 2019, S.39). Dabei handelt es sich in Kliniken des Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) in 63% der Fällen um Patienten mit einer Psychose, in 23 % der Fällen um eine Persönlichkeitsstörung und den kleinsten Teil machen Intelligenzminderung, Störungen durch Alkohol und andere psychotrope Substanzen, Hirnorganische Störungen und sonstige Diagnosen mit zusammen 14% (LWL Maßregelvollzug, 2018). Bei der Aufnahme in den Maßregelvollzug durchläuft jeder Patient ein Aufnahmeprogramm, unabhängig seiner Diagnose. Zu diesem Aufnahmeprogramm gehört ein Aufnahmeassessment, welches von der Pflege durchgeführt wird, eigens für den Maßregelvollzug (MRVK) des Landschaftsverband Westfalen-Lippe entwickelt. Eine gründliche Informationssammlung ist Grundlage für die weitere Planung des Pflegeprozesses. Der Pflegeprozess nach Fiechter und Meier (2015, S.31) gliedert sich in die sechs Schritte: Informationssammlung, Erstellung von Pflegediagnosen, Formulierung der Pflegeziele, Planung der Pflegemaßnahmen, Durchführung der Pflegeinterventionen und Evaluation der Pflegeziele. Die Informationssammlung als erster Schritt gilt als Grundlage für die weitere Planung und Durchführung der Pflege. Für die Sammlung von Informationen zu physischen, psychischen und sozialen Gegebenheiten des Patienten wird ein Aufnahmeassessment durchgeführt. Die vorliegende Arbeit setzt sich mit dem Vergleich des LWL Aufnahmeassessment für Forensische Psychiatrie (Forensik Assessment) mit dem Aufnahmeassessment der Universitätsklinik Köln (Gezeitenmodell Assessment) auseinander. Hierbei wird das Assessment auf einen Patienten mit einer schweren paranoiden Schizophrenie angewendet und nicht auf einen Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung. Patienten im Maßregelvollzug sind gegen ihren Willen untergebracht und teilweise über Jahre chronifiziert. Inwieweit greift bei den immerhin 63% der Untergebrachten Patienten mit einer teils chronifizierten Psychose das Forensik Assessment und wo ist das Gezeitenmodell Assessment dem aktuellen Stand der Wissenschaft besser angepasst und auch Patientenorientierter in ihrer jeweiligen Krankheitsphase. Empowerment, Autonomie und Recovery sind Wörter die in der Forensischen Psychiatrie immer weiter an Bedeutung gewinnen und in der ganzheitlichen Behandlung von psychisch Erkrankten nicht mehr wegzudenken sind. Das Ziel dieser Hausarbeit soll sein, zu zeigen, welches Aufnahmeassessment effektiv im Arbeitsalltag ist.
2. Methode
Meine Hausarbeit habe ich zusammen mit Herr G. im gegenseitigen Austausch geschrieben. Die Teilnahme erfolgte freiwillig. Mündlich und schriftlich erfolgte eine Aufklärung darüber, dass keinerlei Rückschlüsse auf persönliche Daten im Rahmen dieser Hausarbeit gezogen werden können. Zusätzlich wurde vor Beginn festgelegt, dass Herr G. jederzeit das Interview abbrechen oder einzelne Antworten verweigern kann. In meiner Hausarbeit geht es um das Forensik Assessment und um das Gezeitenmodell Assessment. Die Assessments wurden mit Herr G. in drei Sitzungen an drei aufeinanderfolgenden Tagen geschrieben. An Tag 1 ging es in einer Stunden um das Forensik Assessment. An Tag 2 ging es zwei Stunden um das Gezeitenmodell Assessment und an Tag 3 wurde mit Herr G. zusammen über die beiden Assessments gesprochen und welche positiven beziehungsweise negativen Aspekte aufgefallen sind
3. Arbeitssetting und Autorin
Seit dem 1.11.2016 arbeite ich als examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin auf einer Station für Aufnahmepatienten und Langzeituntergebrachte in der LWL Klinik Herne. Die MRVK Herne wurde 2011 als fünfte von sechs neuen Kliniken eröffnet und behandelt 90 männliche Patienten die nach §63 Strafgesetzbuch untergebracht sind. Sie ist speziell ausgerichtet auf die Therapie und Sicherung von männlichen Patienten mit Psychosen und Persönlichkeitsstörungen, die aufgrund ihrer Erkrankung eine Straftat begangen haben. Die MRVK Herne deckt nach dem Regionalisierungskonzept des NRW-Gesundheitsministeriums den Bedarf an Maßregelvollzugsplätzen für den Landgerichtsbezirk Bochum. Auf meiner Station leben 21 Patienten mit chronischen Psychosen, die sich alle in einem Stadium ihrer Unterbringung befinden, in welchem die Reduktion der Gefährlichkeit aus unterschiedlichen Gründen nicht oder nur in geringem Maße möglich ist. Sie sind alle untergebracht in 16 Einzel- und Doppelzimmern sowie in zwei Kriseninterventionsräumen. Die Station wird in erster Linie als ein Ort verstanden, der auf Langfristigkeit, die Stärkung von Autonomiebedürfnissen und Verbesserung der Lebensqualität angelegt ist aber nicht notwendigerweise als Endstation gilt. Bei Langzeitpatienten liegt der Fokus auf den individuellen Bedürfnissen, auf Sinngebung und den Aufbau beziehungsweise Erhalt der Lebensperspektive. Es wird dem Patienten unter Berücksichtigung des Sicherheitsaspektes ein höchstmögliches Maß an Selbst- und Mitbestimmung gewährt. Der Alltag gestaltet sich Bedürfnisorientert und das Augenmerk liegt nicht auf der Veränderung des Patienten, sondern auf der Akzeptanz seiner Defizite (LWL Behandlungskonzept, 2016). Die MRVK Herne ist geschlossen und die Patienten haben je nach persönlichem Status die Möglichkeit zwischen 6.45Uhr und 21.45Uhr die Gemeinschaft auf der Station zu nutzen und an verschiedenen Aktivitäten teilzunehmen. Diese Aktivitäten finden wertfrei und ohne festen Blick auf den therapeutischen Hintergrund statt. Es soll ein miteinander entstehen, sodass die Mitarbeiter als Teil der Wohngemeinschaft verstanden werden zum Beispiel beim gemeinsamen Kochen, Kinoabenden, begleiteten Geländeausgang, Kickern, tiergestützten Interventionen mit den Minischweinen im Freihof und weiteres. Ich arbeite im 3 Schichtsystem mit mindestens einem weiteren männlichen Mitarbeiter des Pflege- und Erziehungsdienstes. Es gilt auf der Station das Konzept der Bezugspflege. Die Bezugspfleger sind Ansprechpartner, Unterstützer im Alltag und besten Falls auch Vertrauensperson für den Patienten. Die Arbeit gestaltet sich aufgrund der verschiedenen Diagnosen, Persönlichkeiten und Delikten täglich neu und fordert das Geschick im richtigen Umgang mit manifestierten psychotischen Patienten die überJahre untergebracht sind.
4. Informationen zur Lebens- und Krankheitsgeschichte
Herr G wurde 1969 in Dortmund als zweites Kind seiner Eltern geboren. Er hat eine 11 Jahre ältere Schwester. Sein Vater ist an Krebs verstorben, als Herr G. 6 Jahre alt war. Herr G. hat keinen Kontakt zu seiner Mutter oder seiner Schwester, weil in der Familie Erbstreitigkeiten bestanden haben und er sich benachteiligt gefühlt habe. Nach dem Besuch der Grundschule wechselte Herr G. zunächst auf die Realschule, welche er erfolgreich abschloss und auf das Gymnasium wechselte. Das Abitur konnte er nicht erreichen, weil seiner Meinung nach seine Noten schlechter gemacht wurden. Im Anschluss absolvierte er den Wehrdienst und erhielt als Auszeichnung die Ehrennadel der SED-Partei. Bestellungen dazu, ob Herr G. tatsächlich Wehrdienst geleistet hat konnte nicht getroffen werden. Nachdem sich im Jahr 1988 erstmals die Erkrankung an einer schizophrenen Psychose manifestiert hat, ist es Herr G. nicht gelungen eine Berufsausbildung zu absolvieren. Seitdem sein Status als Schwerbehinderter anerkannt wurde, nach eigenen Angaben weil er in einer Schlägerei erheblich Einstecken musste, lebt er von staatlicher Unterstützung. Herr G. gibt an, neben seiner Tätigkeit als Reservist einer militärischen Einheit, ehemaliger Hobby-Hochleistungssportler und nach einem einjährigen Yoga-Kurs Religionswissenschaftler im Bereich des Buddhismus zu sein. In den 90er Jahren habe er Studiomusik gemacht und den Hip-Hop erfunden. Außerdem sei er im Bereich der Produktprüfung tätig. Aktuell wäre dies einer seiner Pläne für seinen weiteren Lebensweg, in einem Kiosk arbeiten und dafür sorgen dass Produkte echt und unbelastet seien. Herr G. rauchte vor der Unterbringung über 25 Jahre Marihuana, soweit es ihm zur Verfügung gestanden hat. Im Jahr 1988 wurde Herr G. erstmals wegen einer psychotischen Erkrankung stationär behandelt. Es folgten weitere mehrwöchige bis mehrmonatige Behandlungen in den 90er Jahren. Weil er eine dauerhafte Betreuung ablehnte, unterhielt er sporadischen Kontakt zum sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes und erhielt Neuroleptika anlässlich einer ambulanten psychiatrischen Behandlung. Stationär wurde Herr G. zuletzt vom 19.01.2011-17.03.2011 behandelt bevor es zu den Taten die zur Unterbringung führten kam. Bei Herr G. besteht seit Ende der 80er Jahre eine schwere paranoide Schizophrenie, die mittlerweile chronifiziert ist und einhergeht mit paranoiden Erleben sowie Größenwahnideen. Herr G. verkennt hierdurch in vielen alltäglichen Situationen die Realität. Er ist der Auffassung, von Giftgasattacken heimgesucht zu werden und fühlt sich von der Umgebung unverstanden und in seinem Wunsch Gutes zu tun verkannt. Außerdem treten bei Herr G. sogenannte Paramnesien auf, was bedeutet, dass seine Erinnerungen die Wahnerlebnisse als eigene Lebensgeschichte aufnehme. Im Tatzeitraum bestand bei Herr G. ein akuter Schub der Erkrankung, wodurch er aufgrund des Wahnhaften Erlebens unfähig war, sein Unrecht einzusehen. Herr G. zeigt keinerlei Krankheitseinsicht und seine Medikamentencompliance ist unzureichend. Herr G. wurde am 12.09.2012 wegen versuchter schwerer räuberrischer Erpressung unter anderem nach §63 Strafgesetzbuch verurteilt. Herr G. handelte in sämtlichen Fällen im Zustand der Schuldunfähigkeit gemäß §20 Strafgesetzbuch, da er aufgrund einer krankhaften seelischen Störung, nämlich seiner Erkrankung an einer chronischen schizophrenen Psychose, nicht in der Lage war das Unrecht seiner Taten einzusehen. Aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen in der Hauptverhandlung ist die Kammer davon überzeugt, dass Herr G. in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen ist, da andernfalls erhebliche Straftaten von ihm zu erwarten sind und er für die Allgemeinheit gefährlich wäre. Seitdem ist Herr G. in der MRVK Herne untergebracht. Dort bewohnt er ein Doppelzimmer. Nach 7 Jahren der Unterbringung zeigt Herr G. weiterhin keine Krankheitseinsicht oder Medikamentencompliance. Er hat aufgrund seiner Größenwahnideen bislang an keiner Therapie oder Arbeitsgruppe teilgenommen. Seine Gedankengänge sind ferner umständlich mit Einengung des Denkens und Beschleunigung des Gedankengangs, zeitweilig auch starkes Gedankendrängen. Er zeigt ein ausgebautes und systematisiertes Wahnsystem ohne ausdrückliche Sinnestäuschungen sowie gelegentliche Derealisationsphänomene. Gespräche mit Herr G. zeigen sich schwierig, er schweift oft vom Thema ab und zeigt sich den Mitarbeitern der MRVK Herne deutlich misstrauisch gegenüber, weil seine Unterbringung auf Grund seiner Unschuld und seinem Stand bei der Bundeswehr nicht rechtens war und alle Mitarbeiter mitverantwortlich sind. In Gesprächen, in denen er in seinen Wahnideen nicht bestärkt wird, reagiert er teilweise mit deutlicher verbaler Aggression.
5. Definition zentraler Begriffe
Um die Umstände des Patienten und die Hintergründe des Assessments zu verstehen, ist eine genaue Definition zentraler Begriffe wie Recovery, Paranoide Schizophrenie, Empowerment und Autonomie notwendig.
5.1 Recovery
Recovery wird übersetzt mit „Genesung“, „Wiedergewinnung“, „Besserung“. Es ist ein Veränderungsprozess, ein Weg um ein hoffnungsvolles und konstruktives Leben trotz der durch die psychische Erkrankung verursachten Einschränkungen zu leben (Schulz, 2012, S.231).,,...eine gesundheitsorientierte und prozesshafte Einstellung, welche Hoffnung, Wissen, Selbstbestimmung, Lebenszufriedenheit und vermehrte Nutzung von Selbsthilfemöglichkeiten fördern will...“ (Rabenschlag, Niedham, 2O18,S.87O ff). Der Patient ist die Schlüsselfigur in seinem Heilungsprozess und übernimmt eine aktive Rolle, statt die des passiven Patienten. Es geht um die Hilfe zur Selbsthilfe.
5.2 Paranoide Schizophrenie
In internationalen Studien wird angegeben, dass die Punktprävalenz, sprich die Anzahl der zu einem definierten Zeitraum in einer bestimmten Bevölkerung an Schizophrenie erkrankten Personen, 4.6 pro 1000 Einwohner beträgt. Das Risiko einer Person im Laufe ihres Lebens an einer Schizophrenie zu erkranken liegt bei 4.8-7,2 pro 1000 Einwohner (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN), 2019, S.19). Laut WHO ICD-10- Kapitel V (F) (2013) werden Schizophrene Störungen (F.20) gekennzeichnet durch charakteristische Störungen des Denkens und der Wahrnehmung, sowie inadäquate oder verflachte Affekte. Gedankeneingebung, Gedankenentzug, Wahnwahrnehmung, Kontrollwahn, Stimmen, die in der dritten Person den Patienten kommentieren oder über ihn sprechen sind die wichtigsten psychopathologischen Phänomene. Die Paranoide Schizophrenie (F.20.0) ist zudem durch beständige, häufig paranoide Wahnvorstellungen, begleitet von akustischen Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen gekennzeichnet. Es kommt zu Störungen des Antriebs und der Sprache, katatone Symptome fehlen entweder oder sind weniger auffallend.
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