Kritische Theorie und Goldings "Herr der Fliegen". Lässt sich das Verhalten der Kinder so erklären?
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Inhalt
2.1 Zusammenfassung
2.2 Charaktere
3. Theorie
3.1 Bürgerliches Rationalitätsideal
3.2 Kultur, Autorität und Familie
4. Analyse
4.1 Allgemeine Überlegungen
4.2 Ralph
4.3 Jack
4.4 Piggy
4.5 Roger
4.6 Simon
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Herr der Fliegen ist ein international bekanntes Buch von William Golding. Der 1954 erstmals in England veröffentlichte Roman erzählt die Geschichte einer Gruppe von Schuljungen, die aufgrund eines Flugzeugunfalls auf einer unbewohnten Insel im Pazifischen Ozean überleben müssen und dabei in eine Art Barbarei zurückfallen. Den Unfall überleben keine Erwachsenen, weswegen die Jungen, deren Alter zwischen fünf und zwölf Jahren rangiert, früh herausfinden, dass sie erst einmal auf sich alleine gestellt sind. In diesem Prozess der Realisation ergeben sich zügige Hierarchien bezüglich der Entscheidungsmacht über die allgemeine Organisation. Der allwissende Erzähler begleitet vor allem den zwölfjährigen Protagonisten, Ralph, von Anfang bis Ende des Buches dabei, welche Herausforderungen und Schwierigkeiten sich für ihn als Anführer ergeben, nachdem er bei der ersten Versammlung der Kinder, die bereits konflikthaft ist, fast einstimmig gewählt wird. Nach gängiger Interpretation möchte Golding mit dem Roman die inhärent schlechte Natur des Menschen darstellen (Spitz, 1970, S. 24). Doch gemäß der Hintergrundgeschichte sind die Kinder alle in einer bestimmten Gesellschaftsform mit spezifischen Autoritätsverhältnissen aufgewachsen. Offensichtlich ist die Entwicklung von Kindern eng mit den gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft (Kind-Kovács, 2021, S. 158). Daher können ihre Handlungen auch als Resultat der Sozialisierung und Vergesellschaftung aufgefasst werden. Ziel dieser Hausarbeit ist es, die Entstehung der Brutalität und Unmenschlichkeit, sowie das Zurückgreifen auf mythisches Denken in Herr der Fliegen mit Rückgriff auf einige Konzepte der Kritischen Theorie zu erklären. Zu diesem Zweck wird nach der Einleitung (1.) zunächst der Inhalt des Romans kurz zusammengefasst und es werden einige zentrale Charaktere vorgestellt (2.). Daraufhin folgt ein theoretischer Teil (3.), in welchem zwei zentrale Ideen der Kritischen Theorie dargestellt werden. Dabei wird das bürgerliche Rationalitätsideal und seine Verheerungen untersucht, wobei der Begriff der (äußeren wie inneren) Natur eine zentrale Rolle spielt. Zudem werden einige Überlegungen Horkheimers zum Verhältnis von Kultur, Autorität und Familie nachvollzogen. Darauf aufbauend kann schließlich im Analyseteil (4.) die Fragestellung beantwortet werden:
Wie ist das Verhalten der Kinder in Goldings Herr der Fliegen mit Konzepten der Kritischen Theorie erklärbar?
Als Ergänzung zur bereits erwähnten Theorie werden zudem einige psychoanalytische Abwehrmechanismen einbezogen. Zum Schluss wird ein Fazit gezogen (5.).
2.1 Zusammenfassung
Der Hauptkonflikt in der Geschichte ist der Kampf zwischen Jack und Ralph. Der Kampf darum, wer die Insel anführt, steht für den Zusammenstoß zwischen einer friedlichen Demokratie, wie sie von Ralph symbolisiert wird, und einer gewalttätigen Diktatur, wie sie von Jack symbolisiert wird. Beide Jungen sind potenzielle Anführer der gesamten Gruppe, und obwohl Jack anfangs widerwillig Ralphs Führung akzeptiert, wächst ihre Rivalität im Laufe der Handlung und intensiviert sich, bis es zu einem Kampf um Leben und Tod kommt. Ralph und Jack, sowie die Jungen, die sich ihnen anschließen repräsentieren unterschiedliche Werte und verschiedene Aspekte der menschlichen Natur. Ralph steht für die Achtung des Gesetzes, die Pflicht, die Vernunft und den Schutz der Schwachen wobei auch Ralph höchstens ein Mindestmaß an Empathie für die Kleineren oder zum Beispiel Piggy aufbringt, während Jack für Gewalt, Grausamkeit und die Regierung durch Angst und Tyrannei steht.
Während Ralph die Kinder dazu bewegen will, Hütten zu bauen und sich um ein Signalfeuer für Schiffe zu kümmern, hetzt Jack die Kinder zu gewalttätigen Schweinejagden auf (Golding 1956, S. 52, S. 67, S. 85). Ein weiteres zentrales Moment der Geschichte ist die Angst vieler Kinder vor einem Monster auf der Insel. Während Ralphs Fraktion den Jungen mit rationalen Argumenten ihre Angst nehmen will, verkündet Jack die Jagd auf das Monster und baut einen ‚Herr der Fliegen‘, ein Schweinekopf auf einem Stock, der als Opfer dem Monster überlassen werden soll (Golding, 1956, S. 181). Dadurch, dass Ralphs Einfluss auf die anderen Jungen schwächer wird und bröckelt, bis er ausgestoßen und gejagt wird, impliziert die Geschichte, dass die gewalttätigen und wilden Impulse der Menschheit stärker sind als die Zivilisation, die von Natur aus zerbrechlich ist. Und obwohl Ralph in letzter Minute von einem ‚Vertreter der Zivilisation‘ in Gestalt des Marineoffiziers gerettet wird (Golding, 1956, S. 264), unterstreicht die Tatsache, dass ein globaler Krieg stattfindet, den Gedanken, dass die Zivilisation selbst durch die Kräfte der Gewalt ernsthaft bedroht ist.
2.2 Charaktere
Ralphlernen die Leser:innen direkt auf der ersten Seite kennen, als er sich gerade einen Weg durch die verwüstete Schneise bahnt, die das abgestürzte Flugzeug in den Dschungel gerissen hat (Golding, 1956, S. 9). Mit ihm werden die Umstände der Situation betrachtet und das Setting der Geschichte wird aufgebaut. Ralph soll den wichtigsten Vertreter von Ordnung, Zivilisation und produktiver Führung in diesem Roman verkörpern. Während die meisten anderen Jungen zunächst spielen, sich amüsieren und der Arbeit aus dem Weg gehen, macht sich Ralph daran, Hütten zu bauen und zu überlegen, wie sie ihre Chancen auf Rettung maximieren können (Golding, 1956, S. 57). Aus diesem Grund ist Ralphs Macht und sein Einfluss auf die anderen Jungen zu Beginn des Romans gesichert, bis sich nach einigen Herausforderungen eine Machtverlagerung zu Jack abspielt, welche gefährliche Folgen für Ralph und andere Kinder hat. Ralphs Engagement für Zivilisation und Moral werden als vergleichsweise stark dargestellt, und sein größter Wunsch ist es, gerettet zu werden und in die Gesellschaft der Erwachsenen zurückzukehren. In gewisser Weise wird am Ende des Romans ein Moment dargestellt, in dem diese Stärke Ralphs einen moralischen Sieg erlangt, als er den Herrn der Fliegen zu Boden wirft und den Pfahl, auf dem er aufgespießt ist, aufhebt, um sich gegen Jacks Jäger zu verteidigen.
Zu Beginn des Romans kann Ralph nicht verstehen, warum die anderen Jungen den niederen Instinkten von Blutlust und Barbarei nachgeben (Golding, 1956, S. 121). Der Anblick der Jäger, die singen und tanzen, ist für ihn verwirrend und abstoßend. Im weiteren Verlauf des Romans begreift Ralph jedoch ebenso wie Simon, dass ‚die Wildheit in allen Jungen steckt‘. Ralph ist fest entschlossen, sich von dieser Wildheit nicht überwältigen zu lassen, und nur kurz zieht er in Erwägung, sich Jacks Stamm anzuschließen, um sich selbst zu retten. Als Ralph jedoch zum ersten Mal ein Wildschwein jagt, erlebt er selbst die Faszination von Blutrausch und Gewalt (Golding, 1956, S. 149-150). Auch bei einem Festmahl seines Antagonisten Jack wird er vom Rausch mitgerissen, tanzt am Rande der Gruppe und beteiligt sich an der Tötung eines der Jungen, Simon (Golding, 1956, S. 200-201). Dieses Wissen um das Böse, das in ihm, wie in allen Menschen, existiere, ist für Ralph tragisch und stürzt ihn eine Zeit lang in träge Verzweiflung (Golding, 1956, S. 104-207). Aber es ermöglicht es ihm auch, den Herrn der Fliegen am Ende des Romans zu besiegen. Ralphs Geschichte endet halbtragisch: Obwohl er gerettet wird und in die Zivilisation zurückkehrt, weint er, als er den Marineoffizier sieht, unter der Last seiner neuen Erkenntnisse über die menschliche Fähigkeit zum Bösen (Golding, 1956, S. 266).
Der willensstarke, egomanische Jack soll den wichtigsten Vertreter des ‚Instinkts der Wildheit‘, der Gewalt und des Machtstrebens im Roman darstellen - kurz, das Gegenteil von Ralph. Von Beginn des Romans an ist Jack mehr als alles andere an Macht interessiert (Golding, 1956, S. 30). Er ist wütend, als er die Wahl gegen Ralph verliert, und überschreitet ständig die Grenzen seiner untergeordneten Rolle in der Gruppe. Zu Beginn des Romans bewahrt sich Jack den Sinn für moralischen Anstand und Verhalten, den ihm die Gesellschaft eingeimpft hat - in der Schule war er der Anführer der Chorknaben (Golding, 1956, S. 30). Als er zum ersten Mal einem Schwein begegnet, ist er nicht in der Lage, es zu töten (Golding, 1956, S. 42-43). Doch schon bald ist Jack von der Jagd besessen und widmet sich dieser Aufgabe, wobei er sich das Gesicht ‚wie ein Barbar‘ anmalt und sich dem Blutrausch hingibt (Golding, 1956, S. 85, S. 92). Je wilder Jack wird, desto besser gelingt es ihm, den Rest der Gruppe zu kontrollieren. Tatsächlich folgt die Gruppe, abgesehen von Ralph, Simon und Piggy, weitgehend Jack, wenn es darum geht, moralische Hemmungen abzulegen und sich der Gewalt und Wildheit hinzugeben (Golding, 1956, S. 57). Jacks Vorliebe für Autorität und Gewalt sind eng miteinander verbunden, denn beides gibt ihm das Gefühl von Macht und Erhabenheit. Am Ende des Romans hat Jack gelernt, die Angst der Jungen vor einer angeblichen Bestie zu nutzen, um ihr Verhalten zu kontrollieren - eine Erinnerung daran, wie Religion und Aberglaube als Instrumente der Macht manipuliert werden können.
Piggyist der erste Junge, den Ralph nach dem Absturz auf der Insel trifft, und er bleibt der treueste und loyalste Freund in Herr der Fliegen. Der intellektuelle und gesprächige Piggy ist der Kopf hinter vielen von Ralphs erfolgreichen Ideen und Innovationen, wie der Verwendung der Muschel zur Einberufung von Versammlungen und dem Bau von Unterkünften für die Gruppe (Golding, 1956, S. 31). Piggy soll die wissenschaftliche und rationale Seite der Menschheit repräsentieren, unterstützt Ralphs Signalfeuer und hilft bei der Lösung von Problemen auf der Insel. Allerdings ist Piggy aufgrund seines Asthmas, seines Gewichts und seiner schlechten Sehkraft den anderen körperlich unterlegen, was ihn anfällig für Verachtung und Ausgrenzung macht. Piggy ist auch der einzige Junge, der sich über die Regeln der englischen Zivilisation Gedanken macht, nämlich darüber, was die Erwachsenen denken werden, wenn sie die wilden Jungs finden. Piggy glaubt an Regeln, Pünktlichkeit und Ordnung, und als die Insel in ein brutales Chaos versinkt, wird Piggys Position von intensiver Gewalt bedroht. Piggys Unabhängigkeit und Nachdenklichkeit verhindern, dass er völlig in der Gruppe aufgeht, so dass er nicht so anfällig für die Mob-Mentalität ist, die viele der anderen Jungen ergreift. Doch wie Ralph kann auch Piggy den Verlockungen der Wildheit auf der Insel nicht entgehen. Am Morgen nach dem wilden Tanz geben sowohl Piggy als auch Ralph zu, dass sie in irgendeiner Weise (wenn auch nur vage) an dem Angriff und dem Mord an Simon beteiligt waren. Piggy versucht zwar, sich selbst davon zu überzeugen, dass der Mord an Simon ein Unfall war (Golding, 1956, S. 204-205), aber seine Beteiligung deutet darauf hin, dass seine Bereitschaft, von der Gruppe akzeptiert zu werden, ihn dazu brachte, seine eigene Moral und sein besseres Urteilsvermögen zu verraten. Piggys Tod zeigt, dass die Rationalität auch anfällig für Brutalität ist. Während Simons Tod als Unfall oder als Eskalation der Mob-Mentalität betrachtet werden kann, ist der Mord an Piggy der vorsätzlichste und unausweichlichste auf der Insel und der Moment, in dem die letzte Verbindung der Gruppe zur Zivilisation und zur Menschheit als gekappt signalisiert wird.
Roger, der als ruhiger älterer Junge eingeführt wird, entwickelt sich im Laufe des Romans zu einem sadistischen und brutalen Terroristen. In der Mitte des Buches zeigt sich Rogers Grausamkeit in einer Szene, in der er den kleinen Henry terrorisiert, indem er Steine nach ihm wirft. Roger, der sich immer noch an die Regeln der Gesellschaft hält, lässt einen Sicherheitsabstand zwischen den Steinen und dem Kind, aber wir sehen, wie seine moralischen Ideale zu bröckeln beginnen (Golding, 1956, S. 82-83). Mit Jacks zunehmendem Machtgewinn begreift Roger schnell, dass dessen Brutalität und Gewaltbereitschaft ihn zu einem mächtigen und effektiven Anführer machen werden. Als er erfährt, dass Jack plant einen der Jungen, Wilfred, ohne ersichtlichen Grund zu foltern, denkt er über „die Möglichkeiten willkürlicher Machtausübung“ nach, anstatt zu versuchen, Wilfred zu helfen oder Jacks Motive herauszufinden (Golding, 1956, S. 210). Roger gibt sich der „wahnsinnigen Verlassenheit“ sinnloser Gewalt hin, als er den Felsbrocken loslässt, der Piggy tötet (Golding, 1956, S. 238-239). Dann stürzt er sich auf die Zwillinge und droht, sie zu foltern (Golding, 1956, S. 240). Am nächsten Tag sagen die Zwillinge Samneric zu Ralph: „Du kennst Roger nicht. Der ist furchtbar“ (Golding, 1956, S. 250).
Während Ralph und Jack an den entgegengesetzten Enden des Spektrums zwischen Zivilisation und Wildheit stehen, befindet sich Simon auf einer völlig anderen Ebene als alle anderen Jungen. Simon soll eine Art von angeborener menschlicher Güte verkörpern, die mit der Natur verbunden und auf ihre Weise genauso ursprünglich sei wie Jacks Böses. Die anderen Jungen geben ihr moralisches Verhalten auf, sobald die Zivilisation nicht mehr da ist, um es ihnen aufzuerlegen. Sie seien nicht von Natur aus moralisch; vielmehr habe die Welt der Erwachsenen - die Androhung von Strafen für Missetaten - sie darauf konditioniert, moralisch zu handeln. Schlussfolgernd seien sogar die scheinbar zivilisierten Ralph und Piggy Produkte sozialer Konditionierung, wie wir sehen, wenn sie am Jagdtanz teilnehmen.
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