Niklas Luhmann: "es sei denn: man tötet ihn" - Eine überblicksartige Besprechung der systemtheoretischen Betrachtung von Ethik und den Konsequenzen moralischen Handelns
Zusammenfassung
Der vorliegende Text wird Luhmanns Vorschlag beleuchten, Ethik als Problemlösungsstrategie moralischer Reflexion zu verstehen, die historisch unter dem Einfluss moralexterner Rahmenfaktoren steht und zwischen diesen und der konkreten Ausformulierung von Moral vermittelt. Außerdem soll ein Blick auf die Konsequenzen der Ethiktheorie Luhmanns geworfen werden.
Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Moral: Achtung und Missachtung
3. Ethik: BegrOndung des moralischen Urteils?
4. Metaethik: Die Moral und der Zweck
5. Aggressivität
6. Fundamentalismus
1. Einleitung
In ihrer 1irritierenden Einf"hrung „Luhmann leicht gemacht" bemiiht sich Margot Berghaus, dem sterilen Stil von Luhmanns Texten und der Sperrigkeit der Thematik durch aufgelockerte Sprache und Bildbeispiele entgegenzutreten.2 So findet sich im ersten Abschnitt unter dem Titel „Ziel: Vom 'Buhmann' zum Luhmann" die Skizze eines bösen Monsters, das viele Bucher im Arm halt. Daneben ist ein Pfeil gezeichnet, der auf ein Foto von Niklas Luhmann zeigt.3 Berghaus' Versuch, sich der soziologischen Systemtheorie zu nahern, schwachelt hier in zwei Punkten: Einerseits kann bezweifelt werden, dass die wenig subtile Sprache solcher Bildtafeln tatsachlich zum Kern von Luhmanns Theoriewerk durchdringen kann; vor allem aber stellt sich die Frage, ob auf jene Sterilitat, fir die Luhmann hier gertigt wird, in der Handhabe soziologischen Instrumentariums uberhaupt verzichtet werden sollte.
Am Beispiel der wissenschaftlichen Reflexion von Moral zeigt Luhmann namlich, dass eine rucksichtslos vereinfachende Vorgehensweise zu einer „Infektion" des Betrachtenden mit dem von ihm zu betrachtenden Gegenstand kommen kann, so dass ein Wissenschaftler am Ende nicht mehr wissenschaftliche, sondern moralische Urteile fllt.4 Damit ist er einem zentralen Problem jeder Ethik auf der Spur: Letztlich soll ein Theoriegebaude der Moral dazu dienen, die Begriindung der Moral von einem seinerseits moralischen Urteil unabhangig zu machen. Doch wenn eine Ethik nicht moralischen Kriterien genagen muss, wie kann sie dann Basis fir Werturteile wie „gut" oder „schlecht" sein?
Der vorliegende Text wird Luhmanns Vorschlag beleuchten, Ethik als Problemlösungsstrategie moralischer Reflexion zu verstehen, die historisch unter dem Einfluss moralexterner Rahmenfaktoren steht und zwischen diesen und der konkreten Ausformulierung von Moral vermittelt.5 AuBerdem soll ein Blick auf die Konsequenzen der Ethiktheorie Luhmanns geworfen werden.
Mit Blick auf den Umfang der Arbeit wird auf eine einf"hrende Betrachtung des systemtheoretischen Kontextes verzichtet.
2. Moral: Achtung und Missachtung
Die Moral ist nicht als soziales System wie etwa Wissenschaft oder Wirtschaft ausdifferenziert; vielmehr können diese Systeme die Moral als Art und Weise der Kommunikation nutzen.6 Naturlich hören Systeme dabei nicht auf, die Unterscheidung von System und Umwelt anhand ihres jeweiligen Codes zu treffen. Nur in der Bezugnahme auf die Achtung oder Nichtachtung von Personen sind sie gegentiber anderen Systemen zu moralischer Kommunikation fähig.7 Eine „eigene" Moral kennen sie nicht — sie operieren quasi „auf einer höheren Stufe der Amoralität"8. Als „Medium der Formung interpersonaler oder sozialer Beziehungen"9 teilt sich die Moral wesentliche Eigenschaften mit symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie Geld oder Macht:
1. Es kann jetzt und fir die Zukunft erwartet werden, dass moralische Kommunikation auftritt.10 Sie „taugt" in vielen Zusammenhängen etwas und ist nicht auf bestimmte Systemkontexte beschränkt. Dies setzt ein gewisses MaB an Konsens tiber die Anwendung des Moralcodes voraus, so dass niemand befugt ist, plötzlich eine eigene Moral zu erfinden.
2. Der Begriff „Moral" symbolisiert seinerseits die Differenz von Moral und Amoral. Auch — und wie später zu zeigen sein wird: insbesondere — die Nichtachtung ist also moralische (und nicht etwa amoralische11) Kommunikation.
3. Moral kann symbolisch wirken. Ein moralisch begriindetes Urteil muss also nicht notwendigerweise real ausgeiibt werden, um eine bestimmte Handlungen zu erzwingen. Entscheidungen werden also nur in der Annahme gefällt, dass es ein moralisches Urteil gäbe. Eine Sonderform der symbolischen Moral ist der Selbstzweck, also Moral um der Moral willen.12 Aus diesen theoretischen Eigenschaften moralischer Kommunikation ergeben sich praktische Konsequenzen, die sich auch im Alltag leicht beobachten lassen. So wird in der Regel die moralische Programmierung, die einer Aussage zugrunde liegt, nicht eigens mitkommuniziert.13 Moralische Werte gelten also „in der Kommunikationsweise der Unterstellung"14 und deshalb in der Regel unbegriindet. Wenn aber moralisch kommuniziert werden kann, ohne dass iiber Moral kommuniziert werden muss, dann bedeutet das auch, dass eine Programmatik zur Anwendung der Codierung „Achtung/Missachtung" zu keinem Zeitpunkt bewusst und prazise ausformuliert worden sein muss und die Frage nach dem „Wieso?" nicht zwangslaufig aufkommt15 — ungeachtet der Tatsache, dass genau dies natiirlich immer wieder geschieht.
3. Ethik: Begrtindung des moralischen Urteils?
Komplexe Gesellschaften neigen laut Luhmann dazu, Moral nicht nur anzuwenden, sondern auch zu problematisieren.16 In diesem Fall wird nicht mehr nur geachtet bzw. missachtet, sondern genau diese Unterscheidung beurteilt. Allerdings tritt hier das Problem der Selbstbeobachtung auf, welche nur anhand eigener Begriffe moglich ist. Es ist also weder moglich, ein Urteil iiber die Moral zu fallen, das auch fiir andere gesellschaftliche Systeme relevant ware, noch ware es sinnvoll, dass Moral sich selbst beurteilt.
Traditionell versucht Ethik aber genau das. Deshalb kritisiert Niklas Luhmann ethische Versuche und bemiiht sich auch selbst nicht, eine eigene Ethik zu verfassen.17 Seine Beobachtungen iiber Moral und Ethik sind metaethisch angelegt. Natiirlich kann eine Metaethik — gewissermaBen als Ethik der Ethik — ihrerseits zu einer Art Ethik verkommen, wenn sie der Versuchung erliegt, im Anschluss an den Beobachtungsvorgang Vorschlage fiir eine „bessere" Ethik zu unterbreiten. Allerdings legt Luhmann auf die Unterscheidung von Beobachtung und Gegenstand besonderen Wert. Seine Uberlegungen zielen also nicht darauf ab, Bedingungen aufzustellen, unter denen Ethik zukiinftig gelingen könnte.
4 Metaethik: Die Moral und der Zweck
Da die Logik der binaren Codierung von Moral in gut versus schlecht bzw. Achtung versus Missachtung eine Anwendung auf sich selbst ausschlieSt, diirfte es streng genommen so etwas wie Ethik gar nicht geben. Da es aber in der Geschichte der Philosophie offenbar nur so von Theorien der Moral wimmelt, muss es fiir deren entstehen auBermoralische Griinde geben. Diesen Griinden ist Luhmann auf der Spur. Er bemiiht sich dabei, die Geschichte der moralischen Reflexion von der Antike bis zur Neuzeit unter folgenden Fragestellungen zu betrachten:
[...]
1 Niklas Luhmann Ober die „Unmöglichkeit, jemanden aus der Mitwirkung an Gesellschaft auszuschlie13en"; vgl. Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989 (=Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft III), S. 368.
2 Berghaus, Margot: Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie. 2., tiberarb. u. erg. Aufl. Köln u.a.: Böhlau Verlag 2004.
3 Ebd., S. 12.
4 Vgl. Luhmann 1989, S. 358f.
5 Vgl. ebd., S. 371.
6 Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. 4., neu bearb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius 2005, S. 197.
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Vgl. ebd., S. 176.
11 Interessanterweise neigen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien dazu, stets als der Positivwert des durch sie Symbolisierten zu erscheinen. So wird das Haben und Nicht-Haben von Geld durch „Geld" symbolisiert, nicht durch „kein Geld".
12 Paradoxerweise wird damit indirekt auch moralisch uber Moral geurteilt.
13 Vgl. Horster, Detlef: Niklas Luhmann. Munchen: C.H.Beck 2005, S. 108.
14 Luhmann, Niklas: Gibt es in unserer Gesellschaft unverzichtbare Normen? Heidelberg 1993, S. 18f; zit. nach: Horster, S. 197.
15 Ebd.
16 Luhmann 1989, S. 374.
17 Ebd., S. 360.