1971 stellte der amerikanische Soziologe Ronald Inglehart in einem Artikel zum ersten M al die These auf, in den entwickelten Industriestaaten finde eine „stille Revolution“ der Wertüberzeugungen der Menschen statt (Inglehart 1971). Dieser Wertewandel sei gekennzeichnet durch eine beständige Zunahme des Anteils von Menschen mit postmaterialistischen Werte-vorstellungen an der Gesamtbevölkerung. Ingleharts Analyse stützte sich dabei auf Ergebnisse eines im Rahmen der Eurobarometer-Umfrage 1970 erstmals erhobenen Fragekatalogs. Seine Arbeiten zur Wertewandelforschung stellen einen wichtigen Beitrag zu Forschungen zum Wertewandel dar, in deren Blick die deutlich erkennbaren Veränderungen gesellschaftlicher Werte gegen Ende der 1960er-Jahre stand.
Nach einem kurzen Überblick über wichtige Ansätze der Vergleichenden Wertewandelforschung soll im F olgenden Ingleharts Ansatz im Zentrum stehen und hinsichtlich des Forschungsdesigns und der empirischen Befunde kritisch vorgestellt werden. Dabei gehe ich auch auf jüngere Arbeiten Ingleharts ein, in der er unter dem Schlagwort „Postmodernisierung“ einen grundlegenderen, global zu beobachtbaren Wandel aufzeigt.
Abschließend werde ich mögliche Auswirkungen dieses Wertewandels auf das politische System im allgemeinen und besonders die Folgen hinsichtlich der Legitimation des politischen Systems diskutieren.
Inhaltsverzeichnis
I) Einleitung
II) Ansätze der Vergleichenden Wertewandelforschung
III) Das Konzept der „Silent Revolution“
1) Die Ausgangshypothesen
2) Materialismus und Postmaterialismus als Wertekategorien
3) Forschungsmethode
4) Empirische Befunde
IV) Weitergehende Betrachtung: Postmodernisierung
V) Auswirkungen des Wertewandels
VI) Fazit
VII) Literaturverzeichnis
I) Einleitung
1971 stellte der amerikanische Soziologe Ronald Inglehart in einem Artikel zum ersten Mal die These auf, in den entwickelten Industriestaaten finde eine „stille Revolution“ der Wertüberzeugungen der Menschen statt (Inglehart 1971). Dieser Wertewandel sei gekennzeichnet durch eine beständige Zunahme des Anteils von Menschen mit postmaterialistischen Wertevorstellungen an der Gesamtbevölkerung. Ingleharts Analyse stützte sich dabei auf Ergebnisse eines im Rahmen der Eurobarometer-Umfrage 1970 erstmals erhobenen Fragekatalogs. Seine Arbeiten zur Wertewandelforschung stellen einen wichtigen Beitrag zu Forschungen zum Wertewandel dar, in deren Blick die deutlich erkennbaren Veränderungen gesellschaftlicher Werte gegen Ende der 1960er-Jahre stand.
Nach einem kurzen Überblick über wichtige Ansätze der Vergleichenden Wertewandelforschung soll im Folgenden Ingleharts Ansatz im Zentrum stehen und hinsichtlich des Forschungsdesigns und der empirischen Befunde kritisch vorgestellt werden. Dabei gehe ich auch auf jüngere Arbeiten Ingleharts ein, in der er unter dem Schlagwort „Postmodernisierung“ einen grundlegenderen, global zu beobachtbaren Wandel aufzeigt.
Abschließend werde ich mögliche Auswirkungen dieses Wertewandels auf das politische System im allgemeinen und besonders die Folgen hinsichtlich der Legitimation des politischen Systems diskutieren.
II) Ansätze der Vergleichenden Wertewandelforschung
Gegenstand der Vergleichenden Wertewandelforschung sind gesellschaftliche Wertorientierungen. In Anlehnung an Rokeach sind dies dauerhafte Orientierungen in bezug auf das sozial Wünschenswerte. Werte (values) sind im Gegensatz zu Einstellungen (attitudes) tief im individuellen Überzeugungssystem verankert, sehr stabil und kaum veränderlich. Sie dienen „bei der Auswahl zwischen Alternativen als Selektionsstandart“ (Bürklin et al. 1994: 281). Als Fundament individueller Überzeugungen kommt gesellschaftlichen Wertorientierungen eine große Bedeutung im Hinblick auf politisches Denken und Handeln der Menschen zu.
Ansätze verschiedener Wissenschaftler im Bereich der Wertewandelforschung differieren stark: Beginnend bei der Auswahl der relevanten Werte über die Frage, in welchen Dimensionen diese angeordnet sind bis hin zu den Ansätzen zur Erklärung des Wandels und der Beurteilung der gesellschaftlichen Folgen weisen sie große Unterschiede und Gegensätzlichkeiten auf.
Neben Ingleharts Konzept ist vor allem Helmut Klages Ansatz bedeutsam. Er unterscheidet zwei Wertedimensionen, die er als weitgehend voneinander unabhängig begreift: „Pflicht/Akzeptanz“ und „Selbstentfaltung“. Aus diesen leitet er die vier Wertetypen Konventionalisten, Resignierte, Idealisten und Realisten ab, wobei sich ein Wertewandel ausgehend von den Konventionalisten sowohl durch Wertverlust, Wertumsturz als auch durch Wertsynthese vollziehen kann (vgl. Bürklin et al. 1994: 582).
Zur Erklärung eines Wandels gesellschaftlicher Wertorientierungen lassen sich vor allem drei Theorien abgrenzen. Alle sehen gesellschaftlichen Wertewandel (Makroebene) durch die Individuen als Träger der Werte (Mikroebene) verursacht. Der Generationenhypothese zufolge sind Werte intra-individuell stabil, ein Wertewandel kann nur durch Generationenwechsel erfolgen. Dagegen geht die Lebenszyklushypothese davon aus, dass sich individuelle Wertorientierungen entsprechend des Lebensalters und des unterschiedlichen Ausmaßes an sozialen Verantwortung je nach Stellung im Lebenszyklus verändern. Gesellschaftlich relevant kann dies im wesentlichen nur durch demographische Veränderungen werden. Die Periodenhypothese schließlich führt gesellschaftlichen Wertewandel auf die direkte Einwirkung aktueller Lebensbedingungen auf die individuellen Überzeugungen zurück (vgl. Bürklin et al. 1994: 583f.).
III) Das Konzept der „Silent Revolution“
Ronald Ingleharts Theorie der „stillen Revolution“ beruht auf der Überlegung, dass sich der Wandel der Lebensumstände nach dem Zweiten Weltkrieg in den Wertorientierungen widerspiegeln müsste. Im Mittelpunkt seiner Analyse stehen Wertprioritäten, da er von der „generellen Wünschbarkeit“ (Inglehart/Klingemann 1996: 321 ) zentraler gesellschaftlicher Werte ausgeht und Veränderungen daher nur als Wandel von Prioritäten bezüglicher dieser Werte stattfinden könne.
1) Die Ausgangshypothesen
Grundlegend ist die Vermutung, dass Menschen unter den verschiedenen Bedürfnissen, die sie haben, „jenen die meiste Aufmerksamkeit schenken, deren Befriedigung am wenigsten gewährleistet ist“ (Inglehart 1997: 142). Diese Annahme führt zur ersten grundlegenden Hypothese, der Mangelhypothese. Sie besagt, dass die Prioritäten eines Individuums seine sozioökonomische Umwelt widerspiegeln. Dabei baut Inglehart auf einer Theorie von Abraham Maslow auf, nach der dem menschlichen Handeln eine Bedürfnishierarchie zugrunde liege. Dabei genossen das physische Überleben und die damit verbundenen Sicherheits und Versorgungsbedürfnisse zunächst höchste Priorität. In dem Maße, in dem die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa durch Frieden und zunehmenden Wohlstand gekennzeichnet war, sollte es gemäß der Mangelhypothese zu einer Verschiebung der Prioritäten kommen: Die weitgehend befriedigten Versorgungs- und Sicherheitsbedürfnisse treten gegenüber intellektuellen und ästhetischen Bedürfnissen und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung zurück (vgl. Inglehart 1997: 142-144).
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