Die politische Dimension in La Fontaines Fabel 'Les Membres et l’Estomac' (III, 2), dargelegt anhand einer textuellen Analyse der Darstellung von Macht und Individuum
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Messer Gaster la grandeur Royale?
3. Der Magen und die Glieder
4. ›Orator in fabula‹ - Politische Rhetorik versus literarische Form
5. Macht und Individuum
6. Schluss
7. Anhang
8. Literaturverzeichnis
1. Einführung
Wie La Fontaines Fabeln als Ganzes einzelnen Kritikern als zweideutig aufgefallen sind, weshalb L.F. als der umstrittenste französische Klassiker gelten kann (vgl. von Stackelberg: 1995, 11), so kann man auch speziell die Fabel Les Membres et l’Estomac der Betrachtung verschiedener Kritiker unterziehen, sodass sie einerseits in das Licht jener Interpretation rückt, die sie als solche Fabel ansieht, die wie keine andere dafür geeignet sei, das Königtum zu verherrlichen – wobei ihr gleichzeitig auch eine womöglich satirisch-ironische Seite von dem ein oder anderen Kritiker eingeräumt wird –, andererseits jedoch auch die Interpretation zulässt, sie sei eine rein politische Satire gegen das Königtum (vgl. Dandrey: 2005, 60, 68f.; Allgemeines hierzu auch bei Lindner: 1999, 175).
Dabei gibt es zu besagter Fabel wenige Aufsätze, die dieser bisher ausgiebig Beachtung geschenkt hätten. So konnte ich zunächst Harf-Lacner (1998), Molino (1991) und Babin (2002) zu Rate ziehen; des Weiteren gehen Gombel (1934) und Peil (1985), die die Fabel vom Magen und von den Gliedern jedoch in ihren verschiedensten Fassungen und Varianten in der Weltliteratur behandeln, auch auf La Fontaines Fabel ein.1 Auf verschiedene Aspekte der Symbolhaftigkeit des Staatskörpers konnte ich v.a. durch die Aufsätze von Stefanovska (1995), Clément (2002), Briguglia(2008) und Babin (2002) eingehen. Andererseits muss berücksichtigt werden, dass besagte Fabel in den meisten Werken, welche La Fontaines Fabeln von der politischen Dimension her in Augenschein nehmen, nicht unerwähnt bleibt.2 Die Meinungen der verschiedenen Kritiker – jene die La Fontaines Fabeln auch allgemein be- trachten mit einbezogen – zu dieser Fabel in Vergleich gesetzt, ergibt sich dabei ein ziemlich wechselseitiges Bild derselben,3 die sich für unsere Fragestellung auch deswegen anbot, weil sie zu jenen Fabeln gehört, die, wie z.B. Boutang (1981, 266) auch meinte, explizit den Staat und die Macht als Gegenstand haben. Die Zweideutigkeit der Fabel, die auch in ihrer Auslegung fortzuleben scheint, gilt es nun mit vorliegender Arbeit auszuarbeiten und so gut wie möglich zu klären. Die Frage, die wir uns hierbei stellen mögen, kann dabei auf den Punkt gebracht wie folgt lauten: Wie ist nun diese Fabel unter dem Aspekt der Macht zu lesen und zu deuten?
Letztendlich soll eine Erklärung darüber gemacht werden, wie in unserer Fabel summa summarum Macht (in der neueren La Fontaine-Forschung hat sich der Terminus pouvoir, also jener der politischen Macht, gegenüber dem gewöhnlichen übergeordneten Begriff politique innerhalb eines literaturwissenschaftlichen Diskurses durchgesetzt) vom Dichter dargestellt wird, wofür sich v.a. Leplatre (2002; 2006) und Le Pestipon (2005) als hilfreich erwiesen. Es soll dabei im Weiteren auch darauf eingegangen werden, auf welche Weise sich La Fontaine gar selbst, für seine Rolle als Dichter dabei Akzente setzend, in die Fabel einbringt – die ja sogleich als literarisches Erzeugnis zu gelten hat –, dem unter anderem auch der Verdienst zugesprochen werden kann, eine Fiktion erschafft zu haben. Hierzu konnte ich Leplatres, Rubins (1991) und Bareds (1995) Ansätzen folgen.
Im Folgenden soll u.a. auch, was sich als Teilaufgabe der heutigen La-Fontaine-Kritik versteht, das Augenmerk auf die Intertextualität (Allgemeines bei Leplatre: 2002, 309-318) gerichtet werden (vgl. Lebrun: 2000, 34; vgl. Lindner: 1999, 174f.), nicht jedoch in erster Linie bloß auf Agrippa Menenius eingehend, sondern vor allen Dingen auch auf die Figur Messer Gaster, die selbst Malandain (1981) außer Acht gelassen hat, der in seiner Arbeit gerade auf den Aspekt der Intertextualität in den Fabeln La Fontaines eingeht. Für den intertextuellen Aspekt des Messer Gaster waren mir u.a. Sainean (1923), Baraz (1972), Marty-Laveaux (1853) und natürlich Rabelais von Nutzen.
Hierbei soll die Widersprüchlichkeit und die Zweideutigkeit La Fontaines, auf welche zuvor die Kritik nicht zufrieden stellende Ergebnisse liefern konnte, von der Struktur des Textes ausgehend hinterfragt werden. Es soll hierbei vermieden werden, die verschiedenen politischen Meinungen, die von Kritikern wie Vossler, Grimm und Co. L.F. in den Mund gelegt worden sind, wieder aufzugreifen. Vielmehr soll die Darlegung von Inhalten in der Fabel durch eine mehr textuelle Analyse vollzogen werden, deren fehlende Anwendung diesbezüglich Molino (1991, 166) anspricht, wofür mir v.a. Coenen (2000), Lindner (1999) und Rubin (1991) zu Gute kamen. Im Zentrum dieser Betrachtung soll dabei die Darstellung von Macht und in gewisser Weise auch die Rolle des Individuums stehen. Es sei noch im Voraus gesagt, dass gerade auf die Aspekte eingegangen wird, die zur Zweideutigkeit der Fabel beitragen.
2. Messer Gaster la grandeur Royale?
J e devois par la Royauté
Avoir commencé mon Ouvrage.
A la voir d’un certain coſté,
Meſſer Gaſter en eſt l’image. (V. 1-4)
Bereits der Anfang der Fabel, der gewissermaßen als Vorrede anzusehen ist, zeugt von einer komplexen Struktur, da weder mit einem Promythion – was für die Struktur der Fabel typisch gewesen wäre – noch mit einem vorangestellten Lehrsatz begonnen wird, sondern mit der Erzählerinstanz, die sich in der ersten Person als erzählendes Ich subjektiv einbringt und der Fabel schon zu Beginn einen besonderen Ton verleiht (Näheres bei Lindner: 1999, 176). Weiter wird der Fabel, da von L.F. betont wird, dass man normalerweise mit dem Höchsten zu beginnen hat, eine wichtige Position zugesprochen (vgl. Molino: 1991, 150). Was auf den ersten Blick gleichsam als Zeichen von Schicklichkeit anmutet, erweist sich letzten Endes als Äußerung feinsinniger lafontainescher Satire.
Als Leser dieser Fabel muss man zuerst der Frage nachgehen, ob man mit ” A la voir d’un certain coſté“ den Sachverhalt ad captum vulgi zu betrachten hat oder aber der intertextuelle Verweis Messer Gaster, ein Begriff, der eigentlich noch nicht derart verbreitet war, dass ihn gleich jeder Rezipient zu verstehen vermochte und deswegen von L.F. mit ” l’Estomach“ anmerkend erklärt wurde,4 auf eine andere Ebene führt. Vossler bemerkt seinerzeit hierzu zumindest, dass L.F. das „vergessene Königtum […] liebenswürdig scherzend, aber wenig ehrerbietig mit Messer Gaster, mit dem Bauch oder Magen, der durch seine Bedürfnisse, also zunächst nicht durch seine Leistungen, den ganzen Körper bestimmt“, verglichen habe (Voss-
ler: 1919, 143). Es sei weiter gesagt, dass Messer Gaster auf das Werk Rabelais’ Pantagruel (Quart livre, Kap. 57f.) zurückgeht und dort erstmals vorkommt, wo er zudem als premier maistre es ars de ce monde bezeichnet wird (vgl. Sainean: 1923, 487). Rabelais selbst habe sich wohl auf den Vers von Perse ” Magister artis, ingeniique largitor venter“ erinnert, wobei erst Rabelais aus Messer Gaster eine individuelle Figur machte (vgl. ebd.; vgl. France: 1917, 85; vgl. Babin: 2002). Man wird sich jetzt aber trotzdem fragen können, wieso wir dieser Figur soviel Beachtung schenken sollen, dass sie auch von inhaltlicher Relevanz für die Fabel ist? Erstens weil L.F. uns in den ersten vier Versen deutlich macht, dass Messer Gaster uns als Vorbild dafür dient, wie wir das Königtum zu verstehen haben. Vielleicht auch deswegen, weil L.F. hier den Namen Messer Gaster nicht einfach bedenkenlos adaptiert. Er musste diese Figur und ihre Bedeutung im Werke Rabelais bestens kennen, denn vor allem in seiner ersten Fabelsammlung treten Archaismen auf, die ihm aus dem Quart livre von Rabelais bekannt gewesen sein mussten, also aus jenem Teil des Pantagruel in welchem auch Messer Gaster vorkommt (vgl. Marty-Laveaux: 1853, 487f.).
La Fontaine gehörte letzten Endes zu den wenigen, die diese Figur aus Rabelais’ Werk bis dato adaptiert hatten.5 Doch welche Konnotation wohnt dieser Figur nun inne? Die Fabeln allgemein ansprechend wusste Chamfort 1774 bereits zu sagen, dass L.F. bemerkt habe, dass ”une naïveté fine et piquante était le vrai caractère de son esprit: caractère qu’il cultiva par la lecture de Rabelais, de Marot, et quelques uns de leurs contemporains“ (56).
Messer Gaster bezeugt dies zweifelsohne. Natürlich erscheint diese Figur, die im Sinne Fosters eher ein stock character ist, als eine Art Faszinosum innerhalb der Fabel, weil sie keine aus Äsops Fabeln bekannte rein stereotype Figur ist, sondern eine Gestalt aus Rabelais’ oben erwähnten Werk, die dem impliziten Leser als Figur vorgestellt wird, die den Magen personifiziert und in gewisser Weise auch surrealistisch anmutet. Vor allen Dingen verleiht L.F. dieser mehr als nur einen Farbtüpfelchen an Individualität, die schon durch die bloße Benennung des Namens der rabelaischen Figur in die Fabel durchgreift. Er macht ihn zum individuellen Herrscher seines eigenen Reiches, welches den (Staats-)Körper darstellt (vgl. hierzu auch Lindner: 1999, 186).
In Rabelais’ Quart livre wird Messer Gaster als König einer Insel, die selbst innerhalb einer fantastischen, ja einer fiktiven Welt situiert ist, dargestellt, der ” imperieux, rigoureux, rond, dur, difficile, inflexible“ ist, der einen unanfechtbaren Machtkorpus darstellt und bei dessen Befehl Himmel und Erde erzittern (vgl. IV, Kap. 57). Alles Leben existiert dort um in den Bauch zu gelangen und Pantagruel vergleicht ihn mit dem Zyklopen Polyphem (vgl. IV, Kap. 58). Außerdem wird er von seinen Untertanen wie ein Gott verehrt. Doch auf der anderen Seite erscheint er bei Rabelais auch als besonders erfindungsreicher König, weshalb er schließlich auch den Beinamen ” premier maistre es ars de ce monde“ trägt, der technische Mittel zur Vorbereitung des Getreides (wie z.B. Wassermühlen) und zu dessen Aufbewahrung erfindet (vgl. IV, Kap. 59).6 Die Maschinen, die Künste und die Berufe erfindet er ” (a)ussi pour recompense“ dafür, dass alles für ihn arbeitet. Er erscheint somit auch als durchaus positiv durchwaltete Kraft, wobei Rabelais’ satirische Wendung, dass von Gaster letztlich alles für den Bauch gemacht sei, nicht minder wichtig ist, weil man hier von einer Machtinstanz ausgeht, die den Individuen den Zwang auferlegt, ihrem materialistisch-organischen Lebens- und Aufrechterhaltungskonzept nachzugehen.
Überdies kann von Wichtigkeit sein, dass im Reich Gasters zwei Gruppierungen von Höflingen genannt werden, die in seinem Hofe hausen, von denen die einen die gefräßigen ” Gastrolastres“ (=Bauchdiener) sind, die als ” tous ocieux, rien ne faisans“ (IV, Kap. 58) bezeichnet werden, wie die Glieder aus La Fontaines Fabel (V. 22, V. 8), sodass der Verdacht aufkommen könnte, dass man es in der Fabel im Sinne Genettes mit ’Anspielungen‘ zu tun hat. Dieser Umstand würde dann eher oder auch die Glieder in eine zu kritisierende Position stellen. Was die Makrostruktur betrifft, so haben wir auch hier eine globale Kohärenz, da in Fabel III 17 und v.a. in VIII 7 Diener vorkommen, die mehr oder weniger gezwungen oder auch ungezwungen sich einmal zum eigenen Schaden und ein andern mal zum Schaden des Herren an staatlichen Gütern hier ersättigen, dort genüsslich zeigen.
Kommen wir nun wieder auf unsere Fabel zurück. Nach oben Angesprochenem steht es außer Frage, ob der Fabel ein satirischer Charakter zugesprochen werden kann oder nicht.
[...]
1 Harf-Lacner (1998) vergleicht hierbei die Fabel La Fontaines in seinem Aufsatz in einem abschließenden Absatz mit den mittelalterlichen Varianten. Molino (1991) stellt in seinem Werk eigentlich Methoden für eine neuere Literaturwissenschaft vor und bringt hierbei die Fabel La Fontaines als Beispiel ab und an mit ein. Als einzige Arbeit, die sich diese Fabel La Fontaines als Untersuchungsgegenstand nimmt, kann Babins (2002) Ausarbeitung gelten, ein Internet-Dokument von der Universität Lille, das selbst jedoch ein Teilkapitel eines größeren Werks (La Fontaine et Spinoza) ist. Gombel (1934) und Peil (1985) untersuchen die Fabel vom Magen und von den Gliedern in ihrer Geschichte von der Antike dabei anfangend.
2 Monographien, die dabei die politische Dimension der Fabeln zum Thema haben, sind uns durch Couton (1959) bekannt, der einen Standpunkt anbot, welcher von Jasinski und Grimm fortgeführt wurde, durch Boutang (1981), der eine philosophische Betrachtung, so Aristotelische Ethik, thomistische Gedanken, Ansätze von Vico usw., mit einbezieht und neuerdings durch Leplatre (2002), der den Aspekt der Macht berücksichtigt, so auch die Macht des Wortes per se. Ansonsten wäre hier noch die Dissertation von Le Pestipon Les relations de pouvoir dans l'oeuvre de La Fontaine (1993) und ein Aufsatz von Lagneau (1993) zu erwähnen, die mir jedoch nicht zur Verfügung standen. Außerdem wäre diesbezüglich das kleinere Werk Scognamiglio Mennas (1980) zu erwähnen. Weiter auch etliche Aufsätze, von denen die meisten in dieser Arbeit Erwähnung finden, andere dabei speziell für diese Fabel nicht von Belang waren, hier aufgrund ihrer allgemeinen Relevanz für das Thema jedoch erwähnt seien, so Margolin (1993) und Leplatre (1996). Weiter der ältere Aufsatz von Appleton (1924), der in den Fabeln einen Aktualitätsbezug zur damaligen Innen- und Außenpolitik sah, und jener von Wogue (1933), der diesem nahe kommt. In all diesen Werken wird unsere Fabel nur peripher oder kaum angesprochen. Siehe Weiteres in Anm. 3.
3 So ist Hémon (1893, 42) der Ansicht gewesen, dass L.F. mit der Fabel Les membres et l’estomac ”a fait un éloge convaincu de la royauté […]“, obgleich er sich danach auch eingesteht, dass, gleichwohl L.F. kein Feind sondern zuvörderst ein ”observateur impartial, parfois attristé, plus souvent ironique“ war, es sich allgemein betrachtet im Werk La Fontaines nicht mehr wie bei Boileau um eine moralische und literarische, jedoch um eine gänzlich politische Satire handelte, zumal der König ihn nicht gerade gemocht haben soll (ebd.). Vossler (1919, 149) kritisierte seinerzeit an dieser Fabel – um seine Begrifflichkeitstopik hierbei anzuwenden –, dass anstatt das Königtum zu verherrlichen, das Nationalbewusstsein fehlen und der Sozialismus hervortreten würde. Im ersten Satz des Kapitels La Fontaine und das Königtum legt er dabei bereits fest, dass „die Fabel von den Gliedern und dem Magen (III, 2) besonders geeignet [ist], uns zu verraten [,] (w)ie wenig im Grunde das Königtum dem Dichter am Herzen lag“ (142). Nach Wogue (1933, 559) zeige die Fabel, dass L.F. bald für den imperialen Herrscher sei, in diesem Falle ”cet apologue si commode […] devient pour lui l’image exacte de la ’grandeur royale‘“, bald das Leid und die Hungersnöte des einfachen Volkes in der Auseinandersetzung zwischen dem Magen und den Gliedern, die letztlich einen Grund dafür hatten sich über ihren Zustand beim Magen zu beschweren, zeigen wollte. Gombel (1934, 141) ist in dieser Hinsicht etwas moderater und sagt zur Fabel: „Wenn L.F. auch allgemein keineswegs als ein politischer Dichter anzusehen ist, so zeigt doch die Fabel ’Vom Magen und den Gliedern‘ neben einigen anderen eine politische Tendenz, zum mindesten aber eine politische Satire.“ Nach Siegfried (1955, 119), der von einem machiavellistisch eingestellten La Fontaine ausging, zeige die Fabel, ”même quand l’estomac n’est pas exempt de torts [, que] les peuples bien gouvernés sont en général des peuples qui pense peu.“ Adams ([1954] 1997: 41) Ansicht nach legt diese Fabel die Nützlichkeit des monarchischen Ordnungskonzeptes dar. Nach Couton (1959, 56) hat La Fontaine die Fabel in eine Lobrede für die königliche Macht umgewandelt, sodass ”(l)e fabuliste applaudit à la formule : «L’Etat, c’est moi».“ Des Weiteren sieht er in dieser wie in anderen von ihm aufgeführten Fabeln eine zu sehr historisch konnotierte Bedeutung. Jasinski bemerkt seinerseits, dass L.F. mit dieser Fabel mit einer Hommage an den König beginnt, die fern von jeglichem Argwohn gegenüber demselben stünde (1966, 16), wobei er auch weitere Aspekte anspricht, die einen Bezug zur gesellschafts-politischen Situation aufweisen. Boutang (1981, 267), sieht in den Fabeln im Allgemeinen keine zeitlich begründete sozialkritische Tendenz gegeben. Interessant erscheint dabei seine Interpretation zu unserer Fabel, nach der die Fabel ”une condition de la vie“ beschreibe und ein Regelsystem des Lebens darstelle, das nicht gestört werden darf. Sehr vorsichtig doch zugleich treffend drückt sich diesbezüglich Malandain (1981, 59) aus: ”Ce qu’on a pris pour une apologie de l’ordre monarchique louis-quatorzien pourrait bien en être une ironique mise en question.“ Collinet (1984, 297) ist der Ansicht, dass L.F. mit der grandeur royaule indirekt Ludwig XIV. und seine Minister meinen könnte. Grimm, der Jasinskis Betrachtungen fortführt, indem er La Fontaines Unbehagen gegenüber dem Sturz seines Gönners Foucquet als zentralen Punkt in den Fabeln sieht [nach von Stackelbergs (1985) Arbeit kann die These Grimms als überholt gelten, da von Seiten Grimms diesem einzigen Aspekt in den Fabeln Beachtung geschenkt wird. Die nicht übereinstimmenden Stellen, die Grimms und teilweise auch Jasinskis Aufführungen als holprig darstellen, wurden von von Stackelberg (1985; auch 1995) zur Genüge kritisch beleuchtet. Hierbei soll nicht außer Acht gelassen werden, dass Jasinski, wie von Stackelberg erwähnt, auch etliche brauchbare Informationen liefert (vgl. hierzu auch Lindner: 1977, 150ff.; 1999, 175).], schließt mit seiner unilateralen Betrachtung eine Zweideutigkeit der Fabel völlig aus, da er a priori die Sozialkritik in den Vordergrund stellt, nach der durch die Fabel vornehmlich soziale Missstände aufgezeigt würden. So ist ihm nach „(u)nter den zahlreichen Darstellungen des aus Livius bekannten Stoffes […] La Fontaines Fabel eine der kunstvollsten und kritischsten“ (Grimm: [1987] 2009, 294; vgl. 1993, 43). Peil (1985, 125) sieht die besondere Leistung der Fabel darin gegeben, dass sie von L.F. in ein ökonomisches Modell übertragen wurde. Ganz anders Leplatre (2002) hierzu, dieser geht auf die emblematische Symbolhaftigkeit des Körpers ein.
4 Damals hatte sich gaster als Bezeichnung für den Magen/Bauch noch nicht durchgesetzt und bezeichnete als Verb einen eher destruktiven Vorgang, aber auch rendre malade oder transitiv se rendre malade (vgl. Dictionnaire: 1694, 514; vgl. Dictionnaire: Bd. 4, 1973, 276). Dem FEW ist jedoch zu entnehmen, dass gaster im Mfr. für ”ventre“ stand und ab 1611 belegt war, ohne dabei Messer Gaster aus Rabelais’ Quart Livre zu nennen, obgleich danach auf Rabelais durch gastrolatre verwiesen wird (vgl. FEW: Bd. 4, 1952, 74f.).
Diderot kommt in seinem Roman Le neveu de Rameau (1762) nicht umhin, Messer Gaster unerwähnt zu lassen: ”Après avoir bien mangé, bu largement; car après tout il n’en aurait été ni plus ni moins, messer Gaster est un personnage contre lequel je n’ai jamais boudé“ (1891, 102). Ein Jahrhundert später bleibt da wo auf den müßigen Adel hingewiesen wird, Messer Gaster als prägende Figur nicht außen vor, sodass der Diskurs letztlich auf einer mehr literarischen Ebene nicht nur ausgetragen wird, sondern als gängige Figur Erwähnung findet – zwar noch mit Verweis auf L.F. –, die für das Bild einer Macht steht, die anzuzweifeln ist. Sie fungiert hier in gewisser Hinsicht als archetypische Figur und ist zugleich mehr politischen Charakters. Dies zeigt das fiktive Gespräch zwischen einem Maschinenschlosser und seinem Meister, dem ein sozialkritischer Ton nicht streitbar gemacht werden kann: ”- C’est vrai, patron, et je suis bien aise que vous m’ayez fait savoir que le bon Lafontaine aussi reconnaît la solidarité qui existe entre les membres et l’estomac, entre les travailleurs et les consommateurs, d’autant plus que d’un autre côté je me suis laissé dire que quand messer Gaster prenait l’habitude d’absorber sans cesse et forçait les membres au repos afin de garder plus pour lui, bientôt ceux-ci, malgré eux les pauvres, se trouvaient pris de mal, de la goutte par exemple, et que celle dernière gagnant peu-à-peu, finissait par arriver jusqu’à l’estomac lui-même, et alors emportait du même coup les uns et autres“ (Casilis: 1848, 16). Weiter taucht in Derbignys Fables,… (1853) Messer Gaster bereits in der ersten Fabel ohne groß erläutert zu werden auf.
5 Des Weiteren war ”Maistre Gaster [...] le nom d’un ’extravagant escornifleur‘ dans la comédie Les Napolitaines de François d’Amboise, 1584 (Ancien Théâtre, t. VIII, acte I, sc. iv) : « On m’appelle Gaster, je fais tout pour le ventre. Gaster est le premier maistre aux arts et aux arbalestes. On m’appelle extravagant, vous sçavez assez pourquoy »“ (Sainean: 1923, 487).
6 Zudem kann man im Erfindungsreichtum Gasters den Gedanken aufkommen lassen, dass es schließlich der Hunger ist, der Erneuerung und Fortschritt herbeiführt, was eine sehr materialistische Begründung wäre. Baraz (1972, 42) zu Folge stellt sich damit Rabelais gegen Marsilio Ficino (1433-1499), der davon ausging, dass es die Liebe oder die Leidenschaft ist, welche die Künste erfunden hat. Es zeigt sich auch hier, dass Rabelais’ Gaster, der einerseits als allwaltende Kraft für den Bestand seiner Welt und, obgleich er inflexible ist, für Neuerungen sorgt, andererseits wiederum alles Leben in sich gefräßig vereinnahmt, eine zweideutige Figur ist, zumal sie Baraz’ oben aufgeführter Überlegung nach intratextuell betrachtet auch im Gegensatz zum Epimythion aus Fabel III 1 steht (“Quant à vous, ſuivez Mars, ou l’Amour, ou le Prince“ (III 1, V. 81)). Man könnte auch einen Gültigkeitsanspruch von Seiten La Fontaines für den Epikureismus wohl annehmen (Allgemeines hierzu bei Rubin: 1991; Bared: 1995, 130-153; Darmon: 2009, 50-52; Fumaroli: 1997, 244-246; Scognamiglio Menna: 1980, 40, 12f.). Zumindest würde auch hier zum Vorschein kommen, dass sich die äsopische Weisheit gewandelt hat und dabei zu einem epikureischen System übergetreten ist (vgl. Rubin: 1991, 51f., 62-77; vgl. Lindner: 1999, 176). Man muss sich dabei vor Augen halten, dass Epikur nicht davon ausging die Götter würden in die Welt des Menschen eingreifen. Im oben erwähnten Vers ist es aber nicht die Göttin Venus oder Amor, der dem Gott Mars in der Aufzählung folgt, sondern l’Amour im wahren Sinne, die als einflussreiches Prinzip, weil neben Mars und dem Prinzen stehend, gelten und als tragende Idee epikureischer Gedanken angesehen werden kann.