Michel Foucault "Surveillir et punir. La naissance de la prison"
Der Strafsystemwandel in Frankreich und seine Bedeutung für die Verurteilten
Zusammenfassung
Michel Foucault beschreibt und analysiert in diesem Werk die Entwicklung einer neuen Strafpraxis vorrangig am Beispiel Frankreichs, die im Europa des späten 18. Jahrhunderts beginnend, sukzessiv die öffentlich vollzogene Strafform der Marter durch die Verhängung von Haftstrafen ersetzte.
Die vorliegende Arbeit möchte aber nicht nur den Übergang von der körperlichen Strafe zur Inhaftierungsstrafe anhand von Michel Foucaults Ausführungen erklären, sondern ein besonderes Augenmerk auf die daraus resultierenden Bedingungen für die Verurteilten legen.
Um diesen Aspekt herausstellen zu können, wird im ersten Teil der Arbeit zunächst die Durchführung der Marter am Beispiel der Hinrichtung von Robert François Damiens beschrieben, der 1757 aufgrund eines Anschlages auf den damaligen König in Frankreich öffentlich zu Tode gefoltert wurde. In diesem Zusammenhang werden die Hintergründe und Ziele, die mit dieser Strafform vom damaligen Staatsoberhaupt verfolgt wurden aufgezeigt.
Im weiteren Verlauf der Arbeit soll dann der Ablauf des Strafsystemwandels dargelegt werden, der sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert in Europa vollzog und dessen Folgen die Straffrom der Marter immer mehr zurückdrängten. Die Gründe, die dafür verantwortlich waren, dass das Strafschauspiel der peinlichen Strafe zunehmend aus der Öffentlichkeit verschwand und schließlich völlig von der neuen Strafform-der Haftstrafe abgelöst wurde, werden in diesem Kontext näher erläutert: Wie und warum änderte sich die Strafpraxis und was bedeutete die neue Strafform konkret für das Subjekt des Verurteilten? Um diese Fragen beantworten zu können wird im letzten Teil der Arbeit die Form der Haftstrafe und damit einhergehend die neuen Bedingungen für den Verurteilten näher beleuchtet. In einem abschließenden Fazit soll dann noch einmal herausgestellt werden, welche konkreten Unterschiede die beiden Strafformen aufweisen und wie sich diese im Hinblick auf die Faktoren Raum, Öffentlichkeit und Selbstbesinnung auswirkten.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Transformation des Strafsystems
2.1 Die Marter
2.2 Der Beginn eines neuen Strafsystemzeitalters
2.3 Weitere Gründe für die Veränderung des Strafsystems
2.4 Die Milderung der Strafen
3. Die Etablierung des neuen Strafsystems
3.1 Die Anfänge der Inhaftierungsanstalten in Frankreich
3.2 Die neue Strafpraxis und ihre Auswirkungen auf den Gefangenen
3.3 Das perfekte Gefängnis
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
6. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Das 1975 erschienende Werk Surveillir et punir- La naissance de la prison von Michel Foucault beschäftigt sich mit der Entstehung des modernen Strafsystems und somit gleichsam mit der Frühentwicklung der Haftanstalten.
Michel Foucault beschreibt und analysiert in diesem Werk die Entwicklung einer neuen Strafpraxis vorrangig am Beispiel Frankreichs, die im Europa des späten 18. Jahrhunderts beginnend, sukzessiv die öffentlich vollzogene Strafform der Marter[1] durch die Verhängung von Haftstrafen ersetzte.
Die vorliegende Arbeit möchte aber nicht nur den Übergang von der körperlichen Strafe zur Inhaftierungsstrafe anhand von Michel Foucaults Ausführungen erklären, sondern ein besonderes Augenmerk auf die daraus resultierenden Bedingungen für die Verurteilten legen.
Um diesen Aspekt herausstellen zu können, wird im ersten Teil der Arbeit zunächst die Durchführung der Marter am Beispiel der Hinrichtung von Robert François Damiens beschrieben, der 1757 aufgrund eines Anschlages auf den damaligen König in Frankreich öffentlich zu Tode gefoltert wurde. In diesem Zusammenhang werden die Hintergründe und Ziele, die mit dieser Strafform vom damaligen Staatsoberhaupt verfolgt wurden aufgezeigt.
Im weiteren Verlauf der Arbeit soll dann der Ablauf des Strafsystemwandels dargelegt werden, der sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert in Europa vollzog und dessen Folgen die Straffrom der Marter immer mehr zurückdrängten. Die Gründe, die dafür verantwortlich waren, dass das Strafschauspiel der peinlichen Strafe zunehmend aus der Öffentlichkeit verschwand und schließlich völlig von der neuen Strafform-der Haftstrafe abgelöst wurde, werden in diesem Kontext näher erläutert: Wie und warum änderte sich die Strafpraxis und was bedeutete die neue Strafform konkret für das Subjekt des Verurteilten? Um diese Fragen beantworten zu können wird im letzten Teil der Arbeit die Form der Haftstrafe und damit einhergehend die neuen Bedingungen für den Verurteilten näher beleuchtet. In einem abschließenden Fazit soll dann noch einmal herausgestellt werden, welche konkreten Unterschiede die beiden Strafformen aufweisen und wie sich diese im Hinblick auf die Faktoren Raum, Öffentlichkeit und Selbstbesinnung auswirkten.
2. Die Transformation des Strafsystems
2.1 Die Marter
In Frankreich wurde von der Renaissance bis hin zur französischen Revolution jedes begangene politische Verbrechen als Angriff auf die Souveränität des Staatskörpers[2] gewertet. Dies bedeutete, dass nicht nur das jeweilige Opfer betroffen war, sondern demnach jedes Verbrechen gleichzeitig als Verbrechen auf den Körper des Königs gewertet wurde: „Le crime, outre sa victime immédiate, attaque le souverain; il l’attaque physiquement puisque la force de la loi, c’est la force du prince [...].“[3] Ein solches Verbrechen wurde damalig üblicherweise mit der Strafform der Marter[4] bestraft.
Wie grausam diese Form des Strafens praktiziert wurde, schildert Foucault in den ersten beiden Kapiteln seines Werkes Surveillir et punir-La naissance de la prison[5] am Beispiel des am 2. März 1757 zum Tode verurteilten Robert François Damiens. Dieser hatte im Januar 1757 ein Attentat auf den damaligen König Ludwig den XV. verübt, welches aber durch die Leibwächter des Königs vereitelt werden konnte.[6]
Nachdem man ihn überwältigt hatte, wurde Damiens in die Conciergerie[7] gebracht, wo man ihn folterte, um so die Namen etwaiger Komplizen zu erfahren.[8] Damiens wurde vom Gericht aufgrund der Beleidigung des Königs und wegen des versuchten Mordanschlags auf diesen für schuldig befunden[9] und schließlich dazu verurteilt öffentliche Abbitte zu tun: „Damiens avait été condamné à faire amende honorable devant la principale porte de l’Èglise de Paris“[10]. Zur Kathedrale von Nôtre Dame wurde Damiens in einem Stützkarren gefahren und dort auf einem Gerüst gefoltert :„Mené et conduit dans un tombereau, nu, en chemise, tenant une torche de cire ardente du poids de deux livres“ [...] sur un échafaud qui y sera dressé, tenaillé aux mamelles, bras, cuisses et gras des jambes [].” Nach diesen Folterungen wurde Damiens durch vier Pferde, die jeweils an seinen Armen und Beinen angebunden waren gevierteilt : „[...] son corps tiré et démembré à quatre chevaux“ [...].[11]
Die Hinrichtung Damiens wird von Foucault in aller Ausführlichkeit und mit allen dazugehörigen Details beschrieben. Er gewährleistet dem Leser so einen genauen Einblick in die Brutalität der damalig praktizierten Strafform, welches im hiesigen Kontext dazu beitragen wird den Unterschied zur neuen Strafform aufzeigen zu können.[12]
Im zweiten Kapitel des Buches betont Foucault- und dies mag in Anbetracht der vorangegangenen Schilderung zunächst unverständlich klingen-, dass die durchgeführten Hinrichtungen 1. die Minderheit der insgesamt gefällten Urteile ausmachte[13] und 2. die Marter seiner Meinung nach nicht nur grausam, sondern vor allem eine Technik sei: „[...] le supplice est une technique et il ne doit pas être assimilé à l’extrémité d’une rage sans loi.“[14]
Um diese letzte Aussage zu begründen, zählt Foucault die Kriterien auf, die bei der Durchführung der Marter beachtet werden mussten und sie somit, seiner Meinung nach, zu einer Technik werden ließen: Zunächst ist dies der Aspekt der Schmerzerzeugungsmenge[15]. Man musste bei der Durchführung einer Marter also „apprécier, comparer et hiérarchiser“[16], wieviel Schmerz dem menschlichen Körper zugeführt werden konnte, ohne dabei zu riskieren, dass das Opfer bei der Tortur zu früh verstarb. Foucault bezeichnet dies als „une gradation calculée de souffrances“[17]. Um sein Argument, dass die Marter eine „art quantitatif de la souffrance“[18] sei zu stützen nennt Foucault die Regel, die bei der Durchführung der Marter beachtet werden musste. Diese Regel beinhaltete vorrangig das Zueinander Inbeziehungsetzen der „qualité“, der „l’intensité“ und der „longuer des souffrances“ mit der „gravité du crime, der „personne du criminel“ und dem „rang de ses victimes“.[19] Dies bedeutet, dass das Gericht vorab genau kalkulieren musste, welchen Grad der Strafschwere ein Täter für die jeweils begangene Tat zu erwarten hatte und wie dies im Verhältnis zum Rang seiner Opfern stand.[20]
In diesem Zusammenhang nennt Foucault zwei weitere Ansprüche, die die Marter als Strafe erfüllen muss: „Il (le supplice) doit, par rapport à la victime, être marquant [...]. Et du côté de la justice qui l’impose, le supplice doit être éclatant, il doit être constaté par tous, un peu comme son triomphe.”[21]
Die Feststellung Foucaults, dass die Marter zum einen für das Opfer brandmarkend sein muss und zum anderen für die Justiz ein aufsehenerregendes Ereignis darstellen sollte, steht im Zusammenhang mit der zum damaligen Zeitpunkt bestehenden Annahme, dass jedes verübte Verbrechen gleichzeitig als Verbrechen auf den Souverän gewertet wurde, welcher so die Möglichkeit hatte seine Macht wiederherzustellen.[22] Die Marter wurde demnach als ein „cérémonial pour reconstituer la souverainité un instant blessée“ eingesetzt.[23] Diesem Zeremoniell spricht Foucault eine „fonction juridice-politique“[24] zu, welche dazu diente dem König seine für einen Moment verloren gegangene Macht[25] zurückzugeben. Das Zeremoniell, zu welchem die Marter aufgrund der öffentlichen Zurschaustellung der Opfer wurde, diente sowohl dazu dem Volk zu zeigen, wie es jenen ergeht, die sich gegen den Souverän gerichtet hatten, als auch gleichzeitig dazu der Macht auf öffentliche Weise ihre Wirkung zurückzuerstatten: „L’exécution publique [...] par-dessus le crime qui a méprisé le souverain, elle déploie aux yeux de tous une force invincible.“[26]
[...]
[1] Auch als peinliche Strafe bezeichnet.
[2] Der Körper des Königs symbolisierte den Staatskörper, vgl. Hetzel, Andreas: Michel Foucault. Überwachen und Strafen (1975), in: Gerhard Gamm, Andreas Hetzel, Markus Lilienthal (Hg.): Hauptwerke der Sozialphilosophie, Reclam, Stuttgart 2001, S. 201.
[3] Foucault, Michel: Surveillir et punir. La naissance de la prison, Gallimard, Paris 2003, S. 58. Im Folgenden zitiert als : Foucault, Sep.
[4] Vgl. Foucault, Sep, S. 58
[5] Le corps des condamnés und L’éclat des supplices.
[6] Damiens überfiel den König Ludwig XV., als dieser am 5. Januar 1757 in seinen Wagen einstieg und stach mit einem Messer auf ihn ein. Der König wurde nur leicht verletzt, da Damiens recht schnell überwältigt werden konnte, vgl: Karasek, Horst: Die Vierteilung. Wie dem Königsmörder Damiens 1757 in Paris der Prozeß gemacht wurde. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1994, S. 13-19.
[7] Die Pariser Conciergerie gehört zum Gebäudekomplex Palais de la Cité, dessen neueste Teile heute als Justizpalast genutzt werden. Bereits vor und vor allem während der französischen Revolution diente die Conciergerie als Gefängnis, in der zum damaligen Zeitpunkt bis zu 1.200 Gefangene inhaftiert waren, vgl. Droste-Hennings, Julia/ Droste, Thorsten: Paris. Eine Stadt und ihr Mythos. DuMont-Reiseverlag, Köln 2003, S. 116-117.
[8] Vgl. Karasek, Vierteilung, S. 71-91.
[9] Vgl. das Originalurteil im modernem Französisch: <http://ledroitcriminel.free.fr/le_phenomene_criminel/crimes_et_proces_celebres/arrets_damien.html>, entnommen am 23.08.09. Quelle: Un crime de Lèse-Majesté. L’agression de Damien contre Louis XV., faits extraits de Henri Martin: Histoire de France, T. XV, p. 508. Arrêts extraits de Muyart de Vouglans: Les lois criminelles de France, p. 133.
[10] Pièces originales et procédures du procès fait à Robert-François Damiens, 1757, Bd III, S. 372-374, zit. in: Foucault, Sep, S. 9.
[11] Der Einsatz von vier Pferden reichte aber zunächst nicht aus, so dass man es mit zwei weiteren Tieren als Unterstützung der anderen versuchte. Als dies jedoch auch nicht funktionierte, trennte man ihm die Schenkel ab, durchschnitt ihm die Sehnen und zertrümmerte seine Gelenke, vgl. ebenda.
[12] Vgl. Foucault, Sep, S. 9-12.
[13] Um dies zu belegen, führt Foucault das Beispiel des Gerichts von Châtelet an, welches sich nur mit relativ schweren Delikten befasste. Dort wurden in den Jahren 1755 bis 1785 ca. 9-10% der Verurteilten zum Tode verurteilt. Ein Großteil der Urteile waren Verbannungs- oder Geldstrafen, vgl. Foucault, Sep, S. 42.
[14] Vgl. Foucault, Sep, S. 43.
[15] Schmerzerzeugungsmenge= wieviel Schmerz kann ich einem menschlichen Körper zuführen, ohne dass er dabei stirbt.
[16] Vgl.: Foucault, Sep, S. 43.
[17] Vgl. ebenda: „[...] la mort-supplice est un art de retenir la vie dans la souffrance, en la subdivisant en «mille morts » [...]“.
[18] Vgl. ebenda.
[19] Vgl. ebenda.
[20] Vgl. ebenda : [...] elle (la mort supplice) est calculée selon les règles detaillées: nombre de coups de fouet, emplacement du fer rouge, longueur de l’agonie sur le bûcher ou sur la roue […].
[21] Vgl. Foucault, Sep, S. 44.
[22] Vgl. S. 2.
[23] Vgl. Foucault, Sep, S. 59.
[24] Vgl. ebenda.
[25] Bedingt durch das jeweilige Verbrechen.
[26] Vgl. Foucault, Sep, S. 59-60.