Rechtfertigungslehre heute – Ein Vergleich der Interpretationen der Rechtfertigungslehre von Friedrich Schleiermacher und Wilfried Härle
Zusammenfassung
Bis heute gilt sie für die Lutheraner als die wichtigste Glaubenslehre überhaupt. Doch hat sich ihre Botschaft auch nach der Zeit Luthers bis in die heutige Welt hinein bewahrt und ist sie den Menschen zugänglich? Wie wird die Rechtfertigungslehre heute verstanden und interpretiert?
Auf die wichtige Frage nach der Interpretation der Rechtfertigungslehre in der Ge-genwart möchte ich in dieser Ausarbeitung eingehen. Dabei werden mir hierzu die Ausführungen und Gedanken zweier Theologen zu Grunde liegen: Friedrich Schlei-ermacher und Wilfried Härle. Anhand ihrer Ausführungen zur Rechtfertigungslehre möchte ich zwei verschiedene Interpretationen heutiger Zeit vorstellen und vergleichend analysieren.
Dabei werde ich zuerst auf die hierzu ausgewählten Texte der Autoren, die mir als Quellen vorliegen, eingehen und sie in ihrem historischen und theologischen Kontext einordnen. Darauf folgt die Vorstellung der Kernaussagen der jeweiligen Texte besonders in Bezug auf ihren Gehalt und ihre Interpretation zur Rechtfertigungslehre. Schließlich wird der Hauptteil mit einer vergleichenden Darstellung der jeweiligen Interpretationen der Autoren abschließen.
Leseprobe
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
2. ZUR QUELLENLAGE
3. INTERPRETATIONEN DER RECHTFERTIGUNGSLEHRE
3.1 DIE INTERPRETATION VON SCHLEIERMACHER
3.2 DIE INTERPRETATION VON HÄRLE
4. VERGLEICHENDE ANALYSE
5. SCHLUSSBEMERKUNGEN
LITERATURVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
„Articulus iustificationis est magister et princeps, dominus, rector et iudex super om- nia genera doctrinarum“1 – Der Artikel von der Rechtfertigung ist der Lehrer und Fürst, Herr, Leiter und Richter über alle Arten von Lehren. Mit dieser Aussage be- kräftigte Luther die hohe Bedeutung des Rechtfertigungslehre und ihre vorrangige Stellung vor allen Lehren.
Bis heute gilt sie für die Lutheraner als die wichtigste Glaubenslehre überhaupt. Doch hat sich ihre Botschaft auch nach der Zeit Luthers bis in die heutige Welt hin- ein bewahrt und ist sie den Menschen zugänglich? Wie wird die Rechtfertigungslehre heute verstanden und interpretiert?
Auf die wichtige Frage nach der Interpretation der Rechtfertigungslehre in der Ge- genwart möchte ich in dieser Ausarbeitung eingehen. Dabei werden mir hierzu die Ausführungen und Gedanken zweier Theologen zu Grunde liegen: Friedrich Schlei- ermacher und Wilfried Härle. Anhand ihrer Ausführungen zur Rechtfertigungslehre möchte ich zwei verschiedene Interpretationen heutiger Zeit vorstellen und verglei- chend analysieren.
Dabei werde ich zuerst auf die hierzu ausgewählten Texte der Autoren, die mir als Quellen vorliegen, eingehen und sie in ihrem historischen und theologischen Kontext einordnen. Darauf folgt die Vorstellung der Kernaussagen der jeweiligen Texte be- sonders in Bezug auf ihren Gehalt und ihre Interpretation zur Rechtfertigungslehre. Schließlich wird der Hauptteil mit einer vergleichenden Darstellung der jeweiligen Interpretationen der Autoren abschließen.
2. ZUR QUELLENLAGE
Zur Interpretation der Rechtfertigungslehre bei Friedrich Schleiermacher konsultiere ich seine Predigt „Von der Gerechtigkeit aus dem Glauben“. Dieser von mir zu be- handelnde Text ist in der von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes 1969 herausgegebe- nen Reihe „Kleine Schriften und Predigten“ von Schleiermacher zu finden. Die Pre- digt befindet sich im dritten Band „Dogmatische Predigten der Reifezeit“ auf den Seiten 52 bis 64.
Besonders die Predigten Schleiermachers müssen als bedeutender Teil seiner Werke hervorgehoben werden. Sie machten in gedruckter Form quantitativ betrachtet etwa ein Drittel seines Gesamtwerkes aus. Fast über 40 Jahre, zwischen 1790 und 1834, hat er jeden Sonntag auf der Kanzel gepredigt. Dies tat er sowohl in Landsberg, Hal- le, Stolp, an der Charité Berlins als auch in der Dreifaltigkeitskirche.2 Die für diese Ausarbeitung relevante Predigt hielt Schleiermacher 1830 neben neun weiteren an- lässlich der Feier bezüglich der Übergabe der Augsburgischen Konfession. Diese unterscheiden sich allerdings von der damals üblichen Form der Festpredigt dadurch, dass sie auf „eine durch die Augsburgische Konfession gestellte theologische Prob- lematik“3 Bezug nahmen. Zu diesen Themen gehörten unter anderem das Gesetz und der Glaube, die Christliche Freiheit und die Glaubensgerechtigkeit. Jeder dieser Thematiken wurde dann eine Bibelstelle zu Grunde gelegt, auf die sich dann die Pre- digt ausrichtete.4 Der Rede von der „Gerechtigkeit aus dem Glauben“ steht eine Stel- le des Galaterbriefes (Kapitel 2, Vers 19-21) von Paulus voran.
Als zweite Quelle dient mir der Aufsatz „Zur Gegenwartsbedeutung der ,Rechtfertigungs’-Lehre“ von Wilfried Härle. Für meine Ausarbeitung ziehe ich die- sen Text aus der Zeitschrift für Theologie und Kirche heran. Er wurde 19995 im Bei- heft zehn veröffentlicht und findet sich auf den Seiten 101 bis 139. Härle ist seit 19956 Professor für Systematische Theologie an der Universität Heidelberg und einer seiner Forschungsschwerpunkte liegt auf der Gegenwartsbedeutung der reformatori- schen Rechtfertigungslehre.7 Der mir vorliegende Aufsatz ist laut Härle im „Zusam- menhang der Auseinandersetzungen um die Gemeinsame Erklärung zur Rechtferti- gungslehre“8 entstanden.
3. INTERPRETATIONEN DER RECHTFERTIGUNGSLEHRE
3.1 Die Interpretation von Schleiermacher
Schleiermacher legt seiner Predigt „Von der Gerechtigkeit aus dem Glauben“ ein Zitat aus dem Brief des Paulus an die Galater zu Grunde: „Ich bin aber durchs Gesez dem Gesez gestorben, auf daß ich Gott lebe. Ich bin mit Christo gekreuzigt, ich lebe aber; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jezt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt hat, und sich selbst für mich dargegeben. Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn so durch das Gesez die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben“9. Auf diese Textstelle ist nun seine Predigt ausgerichtet und von ihr ausgehend interpretiert Schleiermacher die Rechtfertigungslehre.
Mit einleitenden Worten macht dieser zunächst darauf aufmerksam, welcher hohe Stellenwert der Rechtfertigungslehre im Kontext des christlichen Lebens zugeteilt werden müsse. Das „Wesen des Christentums“10 bestehe nämlich in dem „gerecht werden wollen aus dem Glauben“11. Das bedeutet also, die Lehre von der Rechtferti- gung aus dem Glauben sei essentieller Inhalt des christlichen Glaubens überhaupt.
Hierbei stützt er sich auf Paulus, von dem er behauptet, schon dieser habe dies den Seinen vermittelt.12 Somit macht Schleiermacher seinen Hörern und Lesern deutlich, dass die Rechtfertigungslehre das „so wichtige[s] Hauptstükk in jenem Bekennt- niß“13 sei.
Daraufhin geht er auf die Rolle von Werken im Kontext der Rechtfertigung ein. Hier stellt er klar, dass das Gesetz und die damit verbundenen Werke, nichts zur Rechtfer- tigung beitragen könnten. Denn das Gesetz und die „Eiferer“14 seiner Ausführung hätten den Tod Christi bewirkt. Somit leiste das Gesetz keinen Beitrag zu einem geistlichen Leben, das Gott gefalle. Und dadurch könne es nicht in dem Sinne erfüllt werden, dass es den Weg zu Gott öffne. Die große Irrelevanz dieses Zusammenhangs betont er noch einmal ausdrücklich, indem er sogar das Mosaische Gesetz nennt und auch seinen Einfluss auf das Gerechtfertigtwerden strikt ablehnt.15 Ferner macht Schleiermacher darauf aufmerksam, dass alle Handlungen, die dem Gesetz folgten, nur eine Hülle oder Bedeckung seien. Denn richte Gott die Menschen nach korrekt ausgeführten Handlungen des Gesetzes, müsse er auch diejenigen rechtfertigen, die zwar keine Fehler in dem Verrichten von Werken machten, aber in ihrem Inneren von Gott abgekehrt seien. Somit bleibe einzig und allein die innere Überzeugung und Einstellung der Menschen bedeutsam, nach der Gott die Menschen rechtfertigen könne.16 Daher ist für Schleiermacher klar: „Gerecht zu machen vor Gott, das stehe in der Macht keines Gesezes“17.
Hieraus wird also ersichtlich, dass das Gesetz und die Werke nach Schleiermacher keinen Beitrag zur Rechtfertigung leisten können. Stattdessen zeichne sich das „We- sen dieser Gerechtigkeit aus dem Glauben“18 durch folgende zwei Bestandteile aus:
„Erstlich, daß wir das Leben Christi in uns haben, das sagt der Apostel in den Wor- ten, Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir; [...] Zweitens, daß nur, wenn wir uns mit gänzlichem Ausschluß des Gesezes hierauf allein verlassen, wir die dargebotene göttliche Gnade wirklich annehmen. Dies sagt der Apostel ganz vor- nehmlich in den Worten, Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes“19. Das bedeutet, für Schleiermacher bilden die Voraussetzungen für die Rechtfertigung zwei zu beach- tende Komponenten. Zuerst müsse man das Leben Christi in sich haben und dann dabei ganz allein auf dieses vertrauen.
Was „das Leben Christi in uns haben“20 genau für den Menschen bedeute, wird nun ausführlich erläutert. Schleiermacher erklärt, dass der Glaube nicht einfach nur darin bestehe, dass man um Christus wisse und ihm Anerkennung schenke. Denn dann, so folgert er, könne jeder, der zu Jesus „Herr“ sage, in den Himmel zu Gott kommen. Also könnten durch „Wohlgefallen und Freude an dem Gegenstand oder Bewunde- rung und Verehrung desselben, wir doch weder den Glauben noch das Leben Christi in uns damit schon ergriffen haben“21. Dagegen wichtig wäre jedoch , dass der Wille Gottes ausgeführt werde. Dieser besage, „daß wir glauben sollen an den, den er ge- sandt hat“22. Somit definiere sich der Glaube nicht als eine „Verehrung“23 Christi, sondern „der Glaube ist nur jenes sich seinem Einfluß hingeben“24. Und wer sich dann dem Einfluss Christi hingebe, in dem entstehe das Leben Christi. Schleierma- cher beschreibt diese Hingabe als einen von größter Kraft und enorm starken Willen seitens Christus geprägten Vorgang. Der Sohn Gottes wolle sich unser bemächti- gen.25 Mit verschiedenen Metaphern unterstreicht er diesen Prozess: „Er bietet sich an als das Brodt des Lebens, und die ihn genießen, das sind die Gläubigen; er ladet zu sich ein, als zu einer Quelle lebendigen Wassers, und die aus ihm schöpfen sind die Gläubigen“26. Auf diese Weise, betont Schleiermacher, „entsteht und gedeiht sein Leben in uns“27. Von Menschenseite aus sei also nichts zu tun, man müsse sich nur dieser „Einladung“ hingeben. Die einzige Tat des Menschen bestehe allein darin, Christus aufzunehmen.28 Und durch das Aufnehmen Christi in uns, würden wir zu einer Gemeinschaft mit ihm gelangen.29
Nun möchte ich auf das Verhältnis zwischen dem Glauben und der Sünde bei Schlei- ermacher eingehen. Die Sünde werde durch das Gesetz erkannt. Doch eine Verge- bung der Sünden sei nur möglich, wenn man sich in der Gemeinschaft mit Christo befinde bzw. ihn in sich leben lasse: „Nun ist Vergebung der Sünden in dem vollen Sinne des Wortes freilich auch nur in der Gemeinschaft mit Christo“30. Sei dies dann gegeben, werde Christus uns immer mehr gegenwärtig und alle Sünden würden in uns sichtbar. Denn durch seine Gegenwärtigkeit wäre es uns möglich, alles an uns entdecken, was seiner Vollkommenheit nicht gleiche. Daher lege „in Christo die vollkommene Erkenntniß der Sünde“31. Das Erkennen unserer Sünden schließlich wecke in uns das Bedürfnis nach Vergebung. Und diese könne dann durch den oben skizzierten inwendigen Glauben erreicht werden: „Der Glaube aber, welcher das Le- ben Christi in uns ist, vermag gar wohl gerecht zu machen; und lebt Er in uns, so müssen dann auch wir gerecht sein durch sein Leben in uns“32.
Für Schleiermacher setzt also das Erlangen von Gerechtigkeit voraus, dass wir Chris- tus in uns aufnähmen. Dadurch gelängen wir in eine Gemeinschaft mit Christus. Er wachse in uns, und gewinne an immer mehr Kraft und Stärke. Dadurch verändere er uns so, dass wir zu einem anderen Mensch würden und der alte Mensch absterbe. Daher lautet seine Beschreibung von Gerechtigkeit so: „Und dieses Wachsthum des Lebens Christi in uns, dieses Absterben des alten Menschen, das ist unsere Gerech- tigkeit“33.
Die zweite Komponente, die nach Schleiermacher das „Wesen der Gerechtigkeit“ ausmache, das sich „hierauf allein Verlassen“34, ist schon ansatzweise in dem vorhe- rigen Absatz impliziert. Hierzu möchte ich noch einmal erinnern, dass Schleierma- cher seine Thesen wiederum auf Grundlage der Textpassage des Galaterbriefes er- schließt und entwickelt. In diesem Fall ist dabei folgende Textstelle entscheidend:
„Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn so durch das Gesez die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben“35. Er legt hierbei auf die Gnade Gottes Wert, die auf keinen Fall verworfen werden dürfe. Man müsse vollkommen auf Christus in sich vertrauen. Somit schreibt er dem Glauben Exklusivität zu. Und wer sich nicht auf Christus verlasse, mache den Tode Jesu bedeutungslos. Als Ursache für eine mögliche Abkehr vom inwendigen Glauben sieht Schleiermacher beispiels- weise die Tatsache, dass manchen Menschen der Glaube allein nicht mehr ausreiche. Dies wiederum habe den Grund, „daß ihnen doch diese Einwirkung Christi das Be- wußtsein von etwas fremdem giebt“36. Dies hänge mit der gewachsenen Masse der möglichen zu erwerbenden Dingen für einen Menschen zusammen. Glaube reiche dabei nicht mehr aus, der Mensch wolle alles besitzen und in Anspruch nehmen. Die- se Menschen würden aber schlicht weg die Gnade Gottes verwerfen.37 Schleierma- cher prophezeit diesen Leuten auf ein solches Verhalten hin schlimme Konsequen- zen: „Brecht ihr den Zusammenhang mit Christo ab, so wird bald die Natur wie sie war zum Vorschein kommen; das reine Ziel werdet ihr nicht mehr erblicken, die Lie- be wird zusammenschrumpfen, das Reich Gottes wird in sich zerfallen“38. Ferner bezeichnet er die menschlichen Güter und Werke des Gesetzes, welche die Konzent- ration auf den Glauben mindern würden und so nichts zur Vergebung der Sünden beitragen könnten, als das „morsche und gebrechliche Stüzen“39 auf ein Menschen- werk. Stattdessen müsse jeder auf den festen Grund des Glaubens, Jesus Christus, vertrauen. Hiermit betont Schleiermacher ausdrücklich die „unumstößliche Allein- herrschaft dieser Gerechtigkeit aus dem Glauben“40. Der Glaube ist somit von exklu- sivem Charakter. Und die Rechtfertigung aus dem Glauben könne allein durch die Aufnahme des Lebens Christi in uns zusammen mit dem Vertrauen allein darauf ge- schehen.
[...]
1 Luther, Promotionsdisputation, S. 205. Vgl. auch Beintker, Rechtfertigung, S. 1.
2 Vgl. Redeker, Schleiermacher, 287f.
3 Mehlhausen, Vestigia, 113f.
4 Vgl. ebd.
5 Vgl. Härle, Menschsein, XI.
6 Vgl. Homepage von Prof. Dr. Wilfried Härle.
7 Vgl. Homepage der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
8 Härle, Menschsein, XI.
9 Schleiermacher, Gerechtigkeit, 52.
10 Ebd.
11 Ebd.
12 Vgl. ebd.
13 A.a.O., 54.
14 A.a.O., 53.
15 Vgl. ebd.
16 Vgl. a.a.O., 54.
17 A.a.O., 53.
18 A.a.O., 54.
19 Ebd.
20 Ebd.
21 A.a.O., 55.
22 Ebd.
23 A.a.O., 56.
24 Ebd.
25 Vgl. ebd.
26 Ebd.
27 Ebd.
28 Vgl. ebd.
29 Vgl. a.a.O., 59.
30 A.a.O., 56.
31 A.a.O., 57.
32 A.a.O., 58.
33 A.a.O., 59.
34 A.a.O., 54.
35 A.a.O., 52.
36 A.a.O., 61.
37 Vgl. ebd.
38 A.a.O., 62.
39 A.a.O., 60.
40 Ebd.