"Intelligenz"-Diagnostik. Intelligenztheorien und -tests im Vergleich
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung
Einleitung
1 Das Schicksal des ersten Intelligenztests
2 Definitionsversuche von Intelligenz
3 Intelligenztheorien
3.1 Spearmans Generalfaktoren-Theorie
3.2 Thurstones Modell mehrerer gemeinsamer Faktoren
3.3 Cattells Theorie der fluiden und kristallinen Intelligenz
3.4 Jägers Berliner Intelligenzstrukturmodell
3.5 Sternbergs Konzept der Erfolgsintelligenz
3.6 Gardners Theorie der multiplen Intelligenzen
4 Intelligenztests
4.1 Der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (HAWIE)
4.2 Der Berliner Intelligenzstruktur-Test (BIS)
4.3 Interpretation von Intelligenztestwerten
4.4 Grenzen der psychometrischen Intelligenzdiagnostik
5 Intelligenz versus Dummheit?
6 Inflation des Intelligenzbegriffes
7 Fazit
Literaturverzeichnis
Zusammenfassung
Im Zentrum dieser Arbeit steht das kontrovers diskutierte Thema „Intelligenz“. Neben der Darstellung des historischen Verlaufs der Intelligenzdiagnostik werden Begriffsdefinitionen, Intelligenztheorien und zwei Intelligenztests vorgestellt. Dabei wird auf die Interpretation von Testergebnissen und die Grenzen der psychometrischen Intelligenzdiagnostik eingegangen. Eine Auseinandersetzung erfolgt sowohl mit der dichotomen Betrachtungsweise der Konzepte Intelligenz und Dummheit, als auch mit Ausdifferenzierung des Intelligenzbegriffes. Abschließend wird ein Fazit gezogen.
Einleitung
Intelligenz - ein gefragtes Persönlichkeitsmerkmal, mit dem sich viele gern brüsten oder das viele liebend gern zugeschrieben bekämen. Die wenigsten bezeichnen sich als unintelligent oder gar dumm. Schließlich spielt Intelligenz in fast allen Lebensbereichen wie Schule, Studium und Beruf, mitunter selbst in der Partnerschaft eine wichtige Rolle - eine scheinbar so wichtige, dass das Anwendungsfeld der Intelligenzdiagnostik im Laufe der Zeit immer breiter wurde. Die psychologische Diagnostik bezeichnet laut Zimbardo und Gerrig (2004) „... den Einsatz festgelegter Verfahren zur Evaluation der Fähigkeiten, Verhaltensweisen und persönlichen Eigenschaften von Personen“ - in diesem Fall der Intelligenz (S. 399). Aber was ist eigentlich unter Intelligenz zu verstehen? Der Begriff wird mit einer Selbstverständlichkeit verwendet, obwohl sich noch nicht einmal die Wissenschaft über seine Bedeutung einig ist. Das ist auch nicht verwunderlich, denn ein Konstrukt - und Intelligenz ist lediglich ein Konstrukt - kann mit vielen Inhalten gefüllt werden. Diese unterliegen wiederum historischen und gesellschaftlichen Veränderungen.
Intelligenz wird in der Forschung aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Unterschieden werden hauptsächlich der Informationsverarbeitungsansatz, der entwicklungspsychologische und der psychometrische Ansatz (Funke & Vaterrodt-Plünnecke, 2004). Letzterer, bei dem es um die Messung psychischer Merkmale mittels Tests geht, steht in dieser Arbeit im Vordergrund. So soll im folgenden das umstrittene Thema „Intelligenz“ beleuchtet werden, indem auf die Geschichte der
Intelligenzdiagnostik, Begriffsdefinitionen, Intelligenztheorien und Intelligenztestverfahren
einschließlich der Ergebnisinterpretation eingegangen wird. Es werden die Grenzen der psychometrischen Intelligenzdiagnostik aufgezeigt, die Dichotomie der Konzepte Intelligenz und Dummheit infrage gestellt sowie die Ausdifferenzierung des Intelligenzbegriffes dargelegt. Abschließend folgt ein Fazit.
1 Das Schicksal des ersten Intelligenztests
Vor ungefähr einem Jahrhundert führte die französische Regierung die allgemeine Schulpflicht ein, sodass sich Lehrer plötzlich mit einer Vielfalt individueller Unterschiede konfrontiert sahen. Einige Kinder schienen dem regulären Unterricht nicht folgen zu können und besonderer Förderung zu bedürfen. Da sich der französische Erziehungsminister jedoch nicht auf subjektive, willkürliche (eventuell durch den sozialen Hintergrund des Kindes beeinflusste) Einschätzungen der Lehrer verlassen wollte, beauftragte er unter anderem den Psychologen Alfred Binet (1857-1911) eine vorurteilsfreie, objektive Vorgehensweise zu finden. Um mögliche Lernschwierigkeiten erkennen zu können, entwickelte Binet um 1905 gemeinsam mit seinem Schüler Théodore Simon (1873-1961) den weltweit ersten, auf empirisch-mathematischen Untersuchungen beruhenden „Intelligenztest“ (Lamberti, 2006; Myers, 2005). Der Grundstein für die moderne Intelligenzdiagnostik war gelegt.
Binet und Simon begriffen intellektuelle Begabung als generelle Fähigkeit, die sich auf vielfältige Weise zeigen kann. So entwickelten sie verschiedene Denk- und Problemlösungsaufgaben, die zunächst an Binets beiden Töchtern ausprobiert wurden (Lamberti, 2006; Myers, 2005). Aufgaben des sogenannten Binet-Simon-Tests waren u. a. die Erkennung von Sinnwidrigkeiten und Unterschieden, die Bearbeitung von Lückentexten oder das Verstehen und Nachsprechen von Sätzen. Zur Normierung wurden 50 Kinder, zehn für jede von 5 Altersklassen herangezogen. Die Bestimmung der Intelligenz erfolgte anhand der gelösten Aufgaben. Dabei verglich Binet die Leistung jedes Kindes mit dem Durchschnitt Gleichaltriger, Leistungsunterschiede wurden also in Abhängigkeit des jeweiligen Lebensalters betrachtet. Aufgaben, die von 75% eines Altersjahrgangs gelöst wurden, stellten eine „Altersreihe“ dar. Die Aufgabenreihe, die ein Kind mit höchstens einer Ausnahme löste, markierte sein (später so bezeichnetes) Intelligenzalter (Holling, Preckel & Vock, 2004). Es konnte seiner Altersgruppe voraus sein oder im Vergleich zu ihr zurückliegen. So hat ein Kind, das die Leistungen eines durchschnittlichen 7-Jährigen vollbringt ein Intelligenzalter von 7. Durch zusätzlich gelöste Aufgaben höherer Altersstufen konnte das Intelligenzalter gesteigert werden. Ein unterdurchschnittliches Intelligenzalter hätte beispielsweise ein 9-Jähriger, der lediglich die typische Leistungsebene eines 7-Jährigen erreicht. Diesem Kind würde es Binet zufolge wahrscheinlich schwerer fallen, die für seine Altersgruppe typischen schulischen Anforderungen zu erfüllen (Myers, 2005).
Binet stellte keine Spekulationen an, was mit dem Test tatsächlich gemessen wurde. Keinesfalls, betonte er, seien die Testwerte ein Maß für angeborene Intelligenzunterschiede (Funke & Vaterrodt- Plünnecke, 2004; Myers, 2005). Er lehnte es generell ab, das von den Kindern erreichte Testergebnis als Intelligenz zu interpretieren. Diese Gabe ließe sich schließlich nicht mit einer einzigen Zahl abbilden, „... da intellektuelle Qualitäten nicht addiert und somit nicht wie lineare Oberflächen gemessen werden können.“ (Binet, 1905, zitiert nach Enzensberger, 2007, S. 26). Dennoch befürchtete Binet, sein Verfahren könne missbraucht werden um Kinder vorschnell abzustempeln und sie in ihren Entwicklungsmöglichkeiten einzuschränken. So wies er ausdrücklich darauf hin, dass der Test nicht zur Einordnung der Schüler nach ihrem geistigen Niveau zweckentfremdet werden dürfe. Er diene lediglich dazu, herauszufinden, welche französischen Schulkinder besondere Aufmerksamkeit benötigen (Funke & Vaterrodt-Plünnecke, 2004; Myers, 2005). Davon ausgehend, dass sich Leistungen durch Training steigern lassen, hoffte Binet, der Test würde ein Ansporn sein das Bildungssystem zu reformieren. Zur Verbesserung des Unterrichtes empfahl der Psychologe beispielsweise statt der üblichen Klassengröße von 60-80 kleinere Klassen von 15-20 Schülern. Auch sollten Körperübungen („geistige Orthopädie“) in den Schulalltag integriert werden, die Aufmerksamkeit, Willenskraft, Disziplin und Konzentration trainieren. Die Konzentrationsdauer könne zum Beispiel verbessert werden, indem Kinder erst wild herumspringen und anschließend auf ein Signal hin für immer längere Zeitspannen in Bewegungslosigkeit verharren sollen. Laut Binet steigere sein Unterrichtskonzept nicht nur Wissen, sondern auch die Intelligenz: „Wir haben das gesteigert, was die Intelligenz eines Schülers ausmacht: die Fähigkeit zu lernen und den Unterricht in sich aufzunehmen“ (Binet, 1912, zitiert nach Funke, 2004, S.20).
Das Testverfahren des französischen Psychologen wurde in vielen Ländern begeistert aufgenommen, abgewandelt und den dortigen Verhältnissen angepasst. „Binet hätte sich wohl im Grab herumgedreht, wenn er entdeckt hätte, dass der von ihm zur Identifizierung von langsam lernenden Schülern, die spezielle Hilfe benötigen, entworfene Test schon bald als numerischer Maßstab für vererbte Intelligenz herangezogen wurde“ (Myers, 2005, S. 457). Nach Binets Tod im Jahre 1911 glich Lewis Terman (1877-1956) von der Stanford Universität den Test den Gegebenheiten in Kalifornien an und dehnte die obere Altersgrenze bis i]n das hohe Erwachsenenalter aus. Diese Revision nannte er den Stanford-Binet-Intelligenztest. Mit der Zeit wurde jedoch bemerkt, dass das Wachstum der Intelligenz nicht gleichmäßig erfolgt. Obwohl der absolute Rückstand derselbe ist, muss ein Rückstand von zwei Jahren zwischen Intelligenz- und Lebensalter für einen Fünfjährigen als gravierender eingeschätzt werden als für einen Zwölfjährigen. Dies beachtete William Stern, indem er das Intelligenzalter durch das Lebensalter teilte, das Ergebnis (um ganze Werte zu erhalten) mit 100 multiplizierte und damit 1912 den Begriff des Intelligenzquotienten (IQ) prägte. Für Erwachsene ist die Berechnung des IQ auf diese Weise allerdings problematisch: Im Gegensatz zum Lebensalter steigt das Intelligenzniveau nicht kontinuierlich an, sodass der IQ mit steigendem Alter immer niedriger ausfallen würde. David Wechsler löste dieses Problem, indem er 1932 den Abweichungs-IQ einführte, der die Abweichung zwischen individuellem Testwert und Mittelwert der repräsentativen Altersgruppe unter Berücksichtigung der Streuungsverhältnisse beschreibt. Obwohl es sich genau genommen nicht mehr um einen schlichten Quotienten handelt, wird der Intelligenztestwert immer noch als IQ bezeichnet (Funke & Vaterrodt-Plünnecke, 2004; Holling et al., 2004).
Mit der Entstehung des IQ rückte Binets einst so wohlwollende Absicht immer mehr in den Hintergrund. Beispielsweise hielt es Terman als Anhänger der Eugenik für möglich durch den Einsatz von Intelligenztests die Fortpflanzung „Schwachsinniger“ und die angeblich damit verbundene Kriminalität, Massenarmut und industrielle Ineffizienz erheblich einschränken zu können (Gould, 1996; Myers, 2005). Er ging davon aus, dass es bedeutende Rassenunterschiede hinsichtlich der Intelligenz gäbe und äußerte sich bezüglich der an ethnischen Minderheiten erhobenen Daten folgendermaßen: „Ihre Blödheit scheint rassisch bedingt ... Es scheint gegenwärtig keine Möglichkeit zu geben, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass ihnen die Fortpflanzung nicht erlaubt werden sollte, obwohl sie aufgrund ihrer ungewöhnlich fruchtbaren Vermehrung vom eugenischen Standpunkt ein schwerwiegendes Problem darstellen“ (Terman, 1916, zitiert nach Zimbardo, 2004, S. 420). Zusammen mit Henry Goddard und dem Heerespsychologen Robert Yerkes arbeitete Terman Leistungstests (den sogenannten Army-Alpha- und Army-Beta-Test) aus, um im Ersten Weltkrieg Millionen von Rekruten bezüglich ihres militärischen Ranges einzustufen. Anscheinend sollten diejenigen, die nicht für die Offizierslaufbahn infrage kamen, einfach an der Front „verfeuert“ werden. Auch entwickelte die US-Regierung mit Termans Hilfe Tests um die vermutete Minderwertigkeit bestimmter Immigranten zu belegen und deren Einwanderungsquoten zu senken, was 1924 letztendlich zur Einführung des Immigration Restriction Act führte, „... that might never have been implemented, or even considered, without the army data and eugenicist propaganda“ (Gould, 1996, S. 262).
Wenn die Geschichte der Intelligenzdiagnostik einmal zurückverfolgt wird, muss leider festgestellt werden, dass Testergebnisse immer wieder missbraucht wurden. Sei es (wie beispielsweise im Nationalsozialismus) zur Durchsetzung von Ideologien, zur Diskriminierung oder vielleicht auch nur aus Unwissenheit. Korrelationen zwischen Testwerten und anderen Eigenschaften - oft zog man die „Rasse“ heran - wurden nur allzu gern als Ursache-Wirkungszusammenhänge interpretiert! Die für einen bestimmten Kulturkreis entworfenen Tests, wurden (ohne Skrupel) auf andere Kulturkreise übertragen. Dabei ist es nahezu unmöglich von Sozialisation, Bildung und Kultur unabhängige intellektuelle Fähigkeiten zu erfassen (Funke & Vaterrodt-Plünnecke, 2004; Gould, 1996). Auch wenn sich einige Intelligenztestverfechter später eingestanden, dass Testsergebnisse nicht ausschließlich von angeborener Intelligenz abhängen, ist das Geschehene nicht rückgängig zu machen. Dieser Missbrauch sollte einen vor Augen führen, dass selbst die gepriesene „wissenschaftliche Objektivität“ nicht immer frei von Ideologien, die Auslegung der Ergebnisse möglicherweise von persönlicher Einstellung und Weltanschauung beeinflusst ist.
2 Definitionsversuche von Intelligenz
Trotz hundertjähriger Forschungstradition sind die Kontroversen auch heute noch nicht völlig beigelegt: Psychologen sind sich uneinig darüber, ob Intelligenz als eine angeborene intellektuelle Fähigkeit, ein erreichtes Niveau der intellektuellen Leistungsfähigkeit oder als eine zugeschriebene Eigenschaft verstanden werden sollte. Während einige Wissenschaftler Intelligenz als eine einzige Grundfähigkeit betrachten, sind andere der Ansicht, dass sie aus vielen mehr oder weniger miteinander zusammenhängenden Fähigkeiten besteht (Lamberti, 2006; Myers, 2005).
Für Binet und Simon, die Urheber des ersten Intelligenztests, war Intelligenz die Fähigkeit „gut urteilen, gut verstehen und gut denken“ zu können (1905, zitiert nach Holling et al., 2004, S. 13). Wechsler verstand darunter „... die zusammengesetzte oder globale Fähigkeit des Individuums, zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich mit seiner Umgebung wirkungsvoll auseinander zu setzen“ (1956, zitiert nach Holling et al., 2004, S.13). Diese Definitionen sind äußerst schwammig. Was bedeutet „gut“ oder „vernünftig“ zu denken und wann ist eine Auseinandersetzung mit der Umgebung „wirkungsvoll“? Liegt es nicht immer in den Augen des Betrachters? Intelligenz ist letztendlich das, was in einer Kultur als wesentlich erachtet wird. Unterschiedliche Kulturen - unterschiedliche Vorstellungen. So definiert Gardner (1991) Intelligenz beispielsweise als „die Fähigkeit, Probleme zu lösen oder Produkte zu schaffen, die im Rahmen einer oder mehrerer Kulturen gefragt sind“ (S. 9). Zugleich beunruhigen ihn „... Definitionen [von Intelligenz], bei denen die Testwerte für unsere kognitiven Fähigkeiten mit den Aussagen darüber zusammenfallen, welcher Menschentyp hoch eingeschätzt wird“ (Gardner, 2000, zitiert nach Myers, 2005, S. 465). Die (zumindest für den Bereich der psychologischen Diagnostik) treffendste Begriffsbestimmung fand Edwin G. Borings: „Intelligenz ist das, was Intelligenztests testen“ (1923, zitiert nach Enzensberger, 2007, S. 48).
Eine allgemein anerkannte Intelligenzdefinition gibt es bisher nicht. Letztendlich könne die Wissenschaft laut Gardner (1991) auch keine vollständig korrekte und endgültige Antwort liefern: „Es wird nie eine Liste von hundert, sieben oder auch nur drei Intelligenzen geben, die alle Wissenschaftler unterschreiben würden Eine endgültige Theorie der menschlichen Intelligenzen werden wir nie formulieren können (S. 64). Nach seinem Streifzug durch den „Irrgarten der Intelligenz“ gelangt Enzensberger (2007) sogar zu dem provokanten Schluss: „Wir sind eben nicht intelligent genug, um zu wissen, was Intelligenz ist“ (S. 55).
Trotz all der verschiedenen Auffassungen lassen sich Krohne und Hock (2007) zufolge Übereinstimmungen dahingehend finden, dass die Fähigkeit, Probleme aufzudecken und zu lösen einen Kernbereich der Intelligenz darstellt. Schnelles und korrektes Erkennen von Zusammenhängen, schlussfolgerndes Denken, effizienter Erwerb und die Nutzung von Wissen seien entscheidend.
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