Relative Deprivation - Theorien und Deprivationskonzepte
Zusammenfassung
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Danach möchte ich die im Lehrforschungsprojekt I / II ausgearbeitete und durchgeführte „Marburger Studie 2005“ (s. Literaturliste) mit deren Kernthematik und eigentlichen Forschungszielen vorstellen. Im Anschluss folgt eine von mir aufgestellte Hypothese, welcher die vorgestellten Theorien der relativen Deprivation in Bezug auf die „Marburger Studie 2005“ zu Grunde liegen. Diesbezüglich habe ich die Ergebnisse der Studie mit Hilfe des Programms SPSS ausgewertet und auf die Gültigkeit meiner Hypothese hin untersucht
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theorien der relativen Deprivation
3. Verschiedene Deprivationskonzepte
3.1 Konzept von Andreas Zick
3.2 Konzept von W.G. Runciman
3.3 Konzept von Ted Gurr
3.4 Modelle der relativen Deprivation nach Ted Gurr
4. Resümee und Kritik an Deprivationskonzepten
5. Operationalisierung
5.1 Vorstellung der „Marburger Studie 2005“
5.2 Auswertung in Bezug auf Fremdenfeindlichkeit und relativer Deprivation
5.3 Vorstellung und Überprüfung der Hypothese
6. Fazit
7. Literaturliste und Quellenangaben
1. Einleitung
Die Erforschung der Ursachen für Fremdenfeindlichkeit ist ein weitläufiges Feld, auf dem es zahlreiche Theorien und Untersuchungen gibt. Letztere weisen einen Zusammenhang zwi- schen dem sozialem-, bzw. ökonomischem Ungleichgewicht (oder auch mehreren Ungleich- gewichten) und der Fremdenfeindlichkeit auf. Die theoretischen Verbindungen liegen gerade hierbei in der Sündenbock-, als auch der Deprivationstheorie, wobei sich beide Theorien sehr ähneln und gemeinsame Komponenten besitzen. In der vorliegenden Ausarbeitung werde ich mich mit der Thematik der Relativen Deprivation befassen.
Zuerst soll ein Überblick über das Thema der Relativen Deprivation im Allgemeinen gegeben werden, anschließend wird detaillierter auf die unterschiedlichen Kern- bzw. Unterbereiche der Deprivationstheorien eingegangen, wobei hierbei eine Beschränkung auf die Theorien von Zick, Gurr und Runciman (s. Literaturliste) besteht. Zur besseren Übersichtlichkeit sollen die Theorien - soweit wie möglich - voneinander getrennt behandelt werden, sicherlich kommt es aber auch zu Überschneidungen. Diese lassen sich auch aufgrund der Gemeinsamkeiten, aber auch der Verbundenheiten der einzelnen Theorien (voneinander), nicht vermeiden.
Die allgemeine, innerhalb der verschiedenen Theorieansätze sich überschneidende Deprivati- onstheorie, wird den tiefergehenden einzelnen Theorien vorangestellt. Obwohl ich versucht habe, die in den einzelnen Deprivationskonzepten, insbesondere in denen von Gurr und Runciman vorkommenden, genau definierten und spezifizierten englischen Fachbegriffe mit den passenden deutschen Begriffen zu ersetzen, war mir dies nur teilweise möglich: Es hätte sonst der Genauigkeit dieser Begriffe geschadet.
Danach möchte ich die im Lehrforschungsprojekt I / II ausgearbeitete und durchgeführte „Marburger Studie 2005“ (s. Literaturliste) mit deren Kernthematik und eigentlichen For- schungszielen vorstellen. Im Anschluss folgt eine von mir aufgestellte Hypothese, welcher die vorgestellten Theorien der relativen Deprivation in Bezug auf die „Marburger Studie 2005“ zu Grunde liegen. Diesbezüglich habe ich die Ergebnisse der Studie mit Hilfe des Programms SPSS ausgewertet und auf die Gültigkeit meiner Hypothese hin untersucht.
2. Theorien der relativen Deprivation
Allgemein gesprochen, handelt es sich bei dem Begriff der relativen Deprivation um das Ge- fühl einer Mangelerscheinung. Konkreter versteht man „unter relativer Deprivation im allge- meinen Gefühle und Wahrnehmungen der sozialen Benachteiligung, bzw. des empfundenen Mangels“ (Zick 1997, S.97). Hierbei hat die relativ deprivierte Person oder Gruppe zwar das Gefühl eines bestimmten Mangels bzw. einer Benachteiligung, jedoch entspricht dies nicht einer Objektivität, sondern ist, banal gesagt, eine rein subjektive Wahrnehmung (s. Deprivati- onskonzepte). Runciman beispielsweise definiert, bzw. zitiert (nach S.A. Stouffer et al., The American Soldier, 1949) den Begriff der Deprivation an einem Beispiel:
Falls A, der etwas nicht besitzt, aber dieses etwas will, sich mit B vergleicht, der dieses etwas besitzt, dann ist A in Bezug auf B relativ depriviert. Ähnlich verhält es sich, wenn die Erwar- tungen von A höher sind als die von B, oder A in der Vergangenheit wohlhabender als B war, er aber im Status dennoch gleich oder ähnlich dem von B steht, fühlt er sich im Vergleich zu B wiederum relativ depriviert.
Verallgemeinernd ausgedrückt, kann man sagen, dass sich A (als eine Person oder Gruppe) gegenüber X (als einer Sache oder einer Situation) relativ depriviert fühlt, wenn er
- erstens X nicht besitzt und sich
- zweitens mit jemand vergleicht, der X hat (egal, ob dem nun wirklich so ist oder nicht),
- drittens er X will und
- viertens er es als realisierbar ansieht, dass er X besitzen sollte. Der Besitz von X könn- te hierbei das Vermeiden oder die Befreiung von Y bedeuten. (vgl. Runciman 1966, S.10)
Die Deprivationsforschung untersucht demnach die Bedingungen, welche als Ursache für das Gefühl der Deprivation in Frage kommen können (vgl. Zick 1997, S.97). Bei der Deprivati- onsforschung stehen daher genau diese subjektive Wahrnehmung einer Benachteiligung, als auch die für die Benachteiligung verantwortlich gemachte Vergleichsperson bzw. Gruppe im Interesse. Dadurch steht die Theorie der relativen Deprivation der Sündenbocktheorie recht nahe. Denn in dieser wird ebenso angenommen, dass Gefühle der Frustration und Benachtei- ligung zur Ablehnung von anderen ethnischen Gruppen beitragen, wenn diese negativen Ge- fühle auf die Mitglieder einer anderen Gruppe übertragen werden, weil beispielsweise eine auf den Verursacher gezielte Aggression nicht möglich ist. (vgl. Zick 1997, S.82, S.96).
Als Untersuchungsformen verwendet die Deprivationsforschung beispielsweise Interviews, Umfragen und Statistiken als direkte empirische Bewertung. (vgl. Gurr 1970, S.29)
Obwohl bei dem Konzept der relativen Deprivation weitgehendst darin Einigkeit besteht, dass die relative Deprivation eine wichtige Ursache für Vorurteile und Rassismus ist (vgl. Zick 1997, S.99), ist sich die Forschung aber darin uneins, worauf genau sich nun die Deprivation bezieht und wie sie sich ausdrückt. Hierbei existieren viele Deprivationskonzepte, insbeson- dere in „der Konzeptionalisierung und Operationalisierung verschiedener Deprivationsfor- men“ (Zick 1997, S.99f). Insgesamt gesehen zeichnen sich solche Deprivationskonzepte le- diglich durch eine Unterscheidung einzelner Deprivationsformen aus. (vgl. Zick 1997, S.105) Auf diese unterschiedlichen Konzepte möchte ich im folgenden Teil nun genauer eingehen.
3. Verschiedene Deprivationskonzepte
3.1 Konzept von Andreas Zick
Zunächst gilt es zwischen einem soziologischen und einem psychologischen Deprivations- konzept zu unterscheiden. Das soziologische leitet die Deprivation aus objektiven Unter- schieden ab, als da wären beispielweise Statusunterschiede sowie allgemeine Unterschiede im Sozialen, Ökonomischen und Kulturellen.
Das psychologische Konzept führt stattdessen die Deprivation auf die subjektive Einschät- zung der eigenen sozialen Lage zurück. (vgl. Zick 1997, S.99)
Es wird angenommen, „dass die Grundlagen oder Ursachen der Deprivation auf eine Diskre- panz zwischen der objektiven- oder der wahrgenommenen Statussituation und der Erwartung der Subjekte zurückzuführen ist“ (Zick 1997, S.99).
Andreas Zick erwähnt das von Vannemann & Pettigrew aufgestellte Konzept der vier Formen von ökonomischer Deprivation, wobei ich mich hier auf Zicks Zusammenfassung stütze. (vgl. Zick 1997, S.100)
Personen, welche zur Gruppe der „ besonders Zufriedenen “ („ doubly gratified “: Vanneman & Pattigrew, 1972) gehören, meinen, dass es ihnen im Vergleich zur Ingroup (damit sind die Mitglieder innerhalb ihrer Vergleichsgruppe gemeint) und Outgroup (hierbei handelt es sich um Personen außerhalb der Vergleichsgruppe) ökonomisch gleich oder besser geht.
Die Gruppe der „ individuell Deprivierten “ („ egoistically deprived “: Vanneman & Pattigrew, 1972) meint, dass es ihr im Vergleich zur Outgroup gleich oder besser geht, verglichen mit der Ingroup jedoch schlechter. Andreas Zick verwendet hier die aus seiner Sicht eher ange- brachte Übersetzung „individuell“ anstatt „egoistisch“.
Mitglieder der Gruppe der „ fraternal (lat.’frater’ = Bruder) Deprivierten “ („ fraternally deprived “: Vanneman & Pattigrew, 1972) geben an, dass es ihnen persönlich zwar im Ver- gleich zur Ingroup besser, im Vergleich zur Outgroup aber schlechter geht.
Und letztendlich behaupten die Personen der Gruppe der „ Doppelt Deprivierten “ („ doubly deprived “: Vanneman & Pattigrew, 1972), dass sie sowohl im Vergleich zu ihrer In- als auch zur Outgroup Nachteile empfinden. (vgl. Zick 1997, S.100)
„Diese Kategorisierung ist hypothetisch; kontinuierliche Übergänge zwischen den Deprivati- onsformen sind anzunehmen“ (Zick 1997, S.100).
Allgemein lässt sich feststellen, dass Deprivation negativ mit dem Bildungsniveau, der Schichtzugehörigkeit als auch den ökonomischen Möglichkeiten und Konservatismus korre- liert. (vgl. Zick 1997, S.101)
Analog zu Runciman, dessen Konzepte ich danach vorstellen möchte, fasse ich diese vier Un- terscheidungen ökonomischer Deprivation nochmals kurz zusammen:
1.) Typ A, Gruppe der „besonders Zufriedenen“: Er ist nicht depriviert. Er ist zufrieden mit seiner eigenen Position als ein Mitglied innerhalb einer Gruppe und zufrieden mit der Stel- lung seiner Gruppe innerhalb der Gesellschaft.
2.) Typ B, Gruppe der „individuell Deprivierten“: Er ist unzufrieden mit seiner eigenen Posi- tion als ein Mitglied innerhalb einer Gruppe, aber zufrieden mit der Stellung seiner Gruppe innerhalb der Gesellschaft.
3.) Typ C, Gruppe der „fraternal Deprivierten“: Er ist zufrieden mit seiner eigenen Position als ein Mitglied innerhalb einer Gruppe, aber unzufrieden mit der Stellung seiner Gruppe in der Gesellschaft.
4.) Typ D, Gruppe der „doppelt Deprivierten“: Er ist der am stärksten Deprivierte von allen. Er ist sowohl mit seiner eigenen Position als ein Mitglied einer Gruppe unzufrieden, als auch mit der Stellung seiner Gruppe innerhalb der Gesellschaft.
3.2 Konzept von W.G. Runciman
Laut Runciman leiten sich sowohl der Begriff der „Relativen Deprivation“ als auch der „Ver- gleichsgruppe“ davon ab, dass der Standpunkt oder die innere Einstellung der Menschen, ihr Streben nach Mehr als auch die von ihnen empfundenen Missstände, kurzum: ihre innere Zu- friedenheit, größtenteils vom Ausmaß des Vergleiches ab, den sie stellen. Dieses Ausmaß funktioniert auf zweierlei Art und Weise:
Beispielsweise wäre eine Person, die durch harte und ambitionierte Arbeit im Beruf eine Be- förderung in Aussicht gestellt bekommt, weitaus mehr gekränkt, wenn sie dann bei der Beför- derung übergangen wird, als jemand, dessen Ehrgeiz auf eine Beförderung bei weitem nicht so hoch war wie bei der erstgenannten Person.
Auf der anderen Seite fühlt sich derjenige weniger unglücklich, welcher aufgrund eines klei- neren Unglücks oder Missgeschicks zur Behandlung ins Krankenhaus muss, aber dort seine Blessuren mit denen seines Zimmernachbars vergleicht, welcher Opfer eines größeren Unfalls wurde. Das sprichwörtliche „Glück im Unglück“ zu haben, scheint auf dieses Beispiel zu pas- sen. Dieses Prinzip gilt auch bei Vergleichen zwischen sozialen Klassen bis hin zu Nationen. Beispielsweise fühlen sich Menschen, die keinen Grund haben, mehr zu erwarten als sie oh- nehin haben, solange nicht depriviert (ja sogar eher dankbar), solange sie sich nicht mit Men- schen vergleichen, die mehr Glück hatten als sie und demnach wohlhabender (in dem Faktor oder Gut, in welchem sie sich vergleichen) sind. Die Unzufriedenheit hängt hierbei solange an, bis der empfundene Nachteil egalisiert ist. Runciman bezeichnet dies als eine Art „Revo- lution der ansteigenden Erwartungen“. (vgl. Runciman 1966, S.9)
Die relative Deprivation kann folgendermaßen differenzieren: In der Größe („ magnitude “: Runciman 1966), in der Erscheinungsweise oder Dichte („ frequency “: Runciman 1966), als auch im Maß oder Grad („ degree “: Runciman 1966 oder „intensity“: Gurr 1970).
Die Größe einer relativen Deprivation ist das Ausmaß des Unterschieds zwischen einer er- sehnten Situation und dem der Person, die sich diese Situation ersehnt. Die Dichte einer rela- tiven Deprivation ist der Anteil von Gruppen, die so empfinden.
Das Maß einer relativen Deprivation bestimmt die Intensität, mit welcher die Deprivation empfunden wird. Des Weiteren, so Gurr, ist das Maß („scope“: Gurr 1970, S.29) der relativen Deprivation ihre Verbreitung mit Hinblick auf jede Art von Werten, die unter den Mitgliedern einer Gesellschaft herrschen. Einige Arten von Deprivation sind charakteristisch für einige Mitglieder aller Gruppen. Deprivation ist sowohl für den Hang zur kollektiven Gewalt als auch für das Maß an Unzufriedenheit, das die Menschen über den gleichen Dingen gegenüber hegen, verantwortlich. Jedoch zählen die Arten von Deprivation, welche durch unerwartete Ereignisse, wie eine verpasste Beförderung oder durch Untreue des Partners hervorgerufen wird, nur zu einem kleinen Bereich, da sie zu spezifisch sind und nur einen kleinen Teil an Menschen betreffen. (vgl. Gurr 1970, S.29)
Dabei brauchen diese drei Faktoren nicht unbedingt übereinstimmen. Relative Deprivation sollte hierbei immer als spezielle Wahrnehmung von Deprivation im Allgemeinen verstanden werden; eine Person, welche relativ depriviert ist, muss nicht unbedingt im objektiven Sinne depriviert sein. (vgl. Runciman 1966, S.10f)
Zusätzlich bedeutet es bei der relativen Deprivation, dass die Wahrnehmung von Deprivation einen Vergleich mit der eingebildeten Situation der anderen Person oder Gruppe mit sich bringt. Diese andere Gruppe wird als Verweis- oder Referenzgruppe („ reference group “: Runciman 1966), oder genauer: als vergleichende Referenzgruppe („ comparative reference group “: runciman 1966) bezeichnet. Wobei es zu erwähnen gilt, dass die Referenzgruppe nicht unbedingt eine Gruppe sein muss, es kann sich ebenso um eine Einzelperson oder sogar um eine abstrakte Idee handeln. Der Zusatz „vergleichende“ ist deshalb notwendig, da der Begriff der Referenzgruppe auch in zwei weiteren Bedeutungen verwendet werden kann (s.u.), ohne dass sich diese dabei mit der Bedeutung „vergleichend“ überschneiden müssen:
Er bedeutet nicht nur die Gruppe, mit welcher sich eine Person vergleicht, sondern er kann auch als Bezeichnung für eine Gruppe verwendet werden, aus welcher die deprivierte Person die Werte ihres Vergleichs herleitet oder für die Gruppe, auf welcher sich der Verweis er- streckt und zu welcher sie sich zugehörig fühlt.
Daraus lässt sich auch der Begriff des „ Referenzgruppenverhaltens “ („ reference group behaviour “: Runciman 1966) ableiten und erklären. Er kann beispielsweise angewendet wer- den, um das wett- oder nacheifernde Fahrverhalten des Sohnes gegenüber seines Vaters zu erklären bzw. die Blasphemie, die ein vom Glauben Abgefallener immer wieder hervorhebt und betont. (vgl. Runciman 1966, S.10f)
Die Referenzgruppe lässt sich in drei Funktionen unterteilen: Eine vergleichende („c omparative “: Runciman 1966), eine (be-)wertende („ normative “: Runciman 1966) als auch eine mitgliedschaftliche („ membership “: Runciman 1966).
Die vergleichende Referenzgruppe ist, wie schon erwähnt, eine Gruppe, mit deren Situation oder Attributen sich eine Person vergleicht. Beispielsweise ein erfolgreicher Unternehmer, der mit dem Erfolg seines Konkurrenten wetteifert. Oder ein Büroangestellter, der seine Art zu sprechen deutlich gegenüber der Sprache eines Handwerkers hervorhebt.
Die normative Referenzgruppe ist diejenige Gruppe, von welcher eine Person ihren Standard (Werte, Einstellungen) bezieht, bzw. ableitet. Ein Beispiel hierfür wäre ein Schuljunge, der seine Klassenkameraden imitiert oder jemand, der zur kommunistischen Ideologie konvertiert ist und die politischen Eigenschaften derjenigen Gruppe adaptiert, welche er für die „wahre Arbeiterklasse“ hält. (vgl. Runciman 1966, S.12)
Diese beiden Gruppenarten können sich überschneiden und tun dies oftmals auch!
Die mitgliedschaftliche Referenzgruppe ist sozusagen der Ursprung („starting-line“: Runicman 1966) für die Ungleichheit in Bezug zur vergleichenden Referenzgruppe, durch die das Gefühl relativer Deprivation hervorgerufen wird.
Wenn relative Deprivation präzise beschrieben werden müsste, dann müssten alle Ungleich- mäßigkeiten, die Anlass zum Gefühl einer relativen Deprivation gäben, nur als reine Un- gleichheiten zwischen der mitgliedschaftlichen und der vergleichenden Referenzgruppe de- klariert werden. (vgl. Runciman 1966, S.14)
Jedermann ist natürlich in irgendeinem Sinne ein Mitglied einer beinahe unbegrenzten Anzahl an verschiedenen Gruppen; jede Eigenschaft, die eine Person mit anderen teilt, macht sie per Definition zu einem Mitglied von mindestens einer Gruppe. Aber die meisten dieser sind für jegliche Gefühle von Ungleichheit irrelevant. (vgl. Runciman 1966, S.12f)
Doch wie fragt man zur Bestimmung von relativer Deprivation? Zuerst muss man fragen, zu welcher Gruppe der Vergleich gezogen wird? Danach, wer die angeblich benachteiligte Gruppe, zu welcher sich die deprivierte Person zuordnet, ist? Und schließlich, so denkt die Person, mit der Wirksamkeit welcher darüber hinaus gehenden Eigenschaft soll diese Un- gleichheit wieder ausgeglichen werden?
Ein weiterer Punkt ist der, dass bestimmte Einflüsse zu einer Veränderung in den Referenz- gruppen führen können. Einer davon ist Krieg. Er bringt die Mitglieder verschiedener Klassen dazu, in stärkeren unmittelbaren Kontakt zu treten als es jemals zuvor in Friedenszeiten der Fall gewesen ist. Das Ergebnis ist, dass Größe, Erscheinungsweise und Maß der relativen De- privation unter diesen Menschen merklich erhöht wird, deren frühere Referenzgruppen viel enger zu ihrer damals eigenen, unmittelbaren Situation zusammenhingen. Krieg ist zwar eine der größten, aber nicht die einzige Beeinträchtigung, durch welche die Referenzgruppen durcheinander geraten können. Runciman führt hierbei als Beispiel an, dass es kein Woh- nungsproblem gab, bevor es den Leuten erzählt wurde. Oder, mit anderen Worten: Das Ge- fühl relativer Deprivation erwachte, sobald ein unterschiedlicher Maßstab von außerhalb ein- geführt wurde. Es reicht also zum Überzeugen der Menschen aus, ihnen zu erzählen, dass ihre ökonomische oder soziale Situation schlecht sei; auch wenn sie selbst zuvor nicht so darüber dachten.
Daraus lässt sich ableiten, dass äußere Einflüsse, auch rein verbale und nur hypothetisch auf- gestellte, bei bestimmten Personen oder Gruppen das Gefühl von relativer Deprivation auslö- sen zu können. (vgl. Runciman 1966, S.24f) Eine weitere Spaltung der Referenzgruppen kann wirtschaftlicher Wandel sein. Wohlstand kann hierbei den Teufelskreis zwischen Armut und Konservatismus durchbrechen, indem man den Menschen die Möglichkeit, einen höheren Standard zu erreichen, bewusst macht.
Aber für die Bevölkerungsmasse sind Krieg, Erziehung oder wirtschaftlicher Wandel die äu- ßeren Einflüsse, durch welche ihre Einstellung oder Erwartungen geändert werden. „If it is true that the sense of inequality in society depends on the choice of reference groups, then the influences behind reference group choices will be the determinants of the relation between grievance and inequality.“ (Runciman 1966, S.25)
Aber es kann ebenso möglich sein, dass die Größe der relativen Deprivation, die von den un- terprivilegierten Menschen empfunden wird, nicht größer ist als die Deprivation, welche von sehr wohlhabenden Menschen empfunden wird. Runciman führt beispielsweise an, dass die Größe und Erscheinungsweise von relativer Deprivation sowohl in den USA als auch in Frankreich gleich sei und das, obwohl in den USA eine stärkere egalitäre Ideologie vor- herrscht als im Vergleich zu Frankreich. Und obwohl die Leute in beiden Ländern zögerlich sein könnten, was den Stand ihrer aktuellen sozialen Situation betrifft, zu verbessern, fühlen sie sich selten relativ depriviert im Vergleich zu Mitgliedern einer erfolgreicheren oder glück- licheren Gruppe, mit der sie keinen Grund haben, sich zu vergleichen.
Jetzt wäre es aber gefährlich, aus diesem Sachverhalt heraus vorschnell von einer Trägheit der Unterprivilegierten zu sprechen, da der Abstand zwischen der Situation einer Person und ihrer Referenzgruppe ebenso groß sein könnte, egal, ob es sich bei der Person beispielsweise um den Sohn eines Arbeiters handelt, der Facharbeiter werden will oder ob sie der Sohn eines Anwalts ist, der Richter am hohen Gericht werden möchte.
Vorsichtig ausgedrückt ist der Punkt vielmehr dieser, dass die Menschen wahrscheinlich ihre Referenzgruppen auf eine Art und Weise auswählen, damit sie von ihren Bestrebungen zu den Zielen, welche ihnen der „vom Tellerwäscher zum Millionär-Mythos“ in Aussicht gestellt hat, abgelenkt werden. (vgl. Runciman 1966, S.27)
Jedoch gibt es bei der Verallgemeinerung über das Wählen von Referenzgruppen eine Schwierigkeit, welche bislang außer Acht gelassen wurde. Wenn man zum Beispiel Arbeiter aus der Automobilindustrie über ihr berufliches Streben oder besser: ihre Aufstiegsmöglich- keiten befragt, so kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass sie befangen als Ar- beiter aus der Automobilbranche antworten. Falls sie sich dabei auf eine Referenzgruppe au- ßerhalb ihres Tätigkeitsbereichs beziehen, so sollte dies im Kontrast zu ihrer Beschäftigung interpretiert werden. Aber wenn man sich von diesem weg hin zum Ärger über die Ungleich- heit im Zusammenhang einer ganzen Gesellschaft bewegt, dann vergrößert sich der Umfang der Wahl der Referenzgruppe (sowohl vergleichende als auch mitgliedschaftliche) enorm. Denn was passiert, wenn Menschen Vergleiche zu mehr als nur einer ihrer verschiedenen Ent- faltungsmöglichkeiten („capacities“: Runciman 1966) machen? Und vor allem, wenn diese Möglichkeiten unterschiedliche Wertigkeiten in der Gesellschaft, zu der sie gehöre, haben? Man unterhält sich beispielsweise mit einem farbigen Geschäftsmann aus den USA über die Chancen der Gleichberechtigung. Als Farbiger, der sich mit einem weißen Geschäftsmann vergleicht, neigt er eher dazu, sich relativ depriviert zu fühlen; aber als Geschäftsmann, der sich mit anderen, schlechtausgebildeten und ungelernten Farbigen vergleicht, fühlt er sich eher zufrieden. (vgl. Runciman 1966, S.30)
Man kann daraus ableiten, dass eine Person, die zwei verschiedene Rollen oder Positionen besetzt, auf diese Diskrepanz zwischen den Positionen aufmerksam wird und daher dazu zu- neigt, über den Status, den sie in der schlechteren der beiden Positionen einnimmt, verärgert, bzw. depriviert zu sein. Folglich könnte sich der farbige Geschäftsmann der Diskriminierung gegenüber Schwarzen stärker bewusst sein, als es sich ein farbiger Arbeiter beispielsweise ist. Jedoch haben solche Diskrepanzen nicht immer denselben Effekt. Aber sie liefern auch einen anderen möglichen Einfluss auf die Erscheinungsweise der relativen Deprivation. Wenn zum Beispiel Handwerker mehr Gleichheit durch höhere Löhne, jedoch nicht durch einen höheren Status erreichen, sich aber mit Handwerkern, welche beides erreicht haben, vergleichen, dann ist es wahrscheinlich, dass die Stärke ihrer relativen Deprivation über den nicht erreichten Status proportional dazu ansteigt, wie sie in ihrer relativen Deprivation über das Erreichen der besseren Entlohung beschwichtigt werden. (vgl. Runciman 1966, S.30f) Das Gefühl der rela- tiven Deprivation einer Person wird nicht nur dadurch beeinflusst, in welchen mitgliedschaft- lichen Referenzgruppen („membership reference groups“: Runciman 1966) sich die Person befindet, sondern auch dadurch, was die Person in Bezug auf ihre vergleichende Referenz- gruppe („comparative group“: Runciman 1966) empfindet. Diese beiden Faktoren erzeugen gemeinsam die Eigenschaft, ohne die das Gefühl von relativer Deprivation nicht hervorgeru- fen werden kann.
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