,Sonderreiche’ im Imperium Romanum der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts
Zusammenfassung
Schlussendlich soll die Herausbildung von „quasi-souveränen“ Herrschaftsbereichen, den so genannten Sonderreichen, im Westen und Osten fokussiert werden, die in weitgehender Unabhängigkeit von der Reichszentrale standen; dies soll im Besonderen in Form einer komparatistischen Analyse unter der Fragestellung nach ihrer Zielsetzung, nach etwaigen separatistischen Intentionen sowie nach eventuellen alleinherrschaftlichen Ansprüchen ihrer Begründer geschehen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Situation des Imperium Romanum im 3. Jahrhundert
2.1 Überblicksdarstellung
2.2 Die ‚Reichskrise’ im Diskurs
3. Usurpation und ,Sonderreich’ als Krisenerscheinung
3.1 Terminologische und kontextuelle Erfassung
3.1.1 Usurpation
3.1.2 Sonderreich
3.1.3 ‚Usurpation’ und ‚Sonderreich’ als Resultat der Krise?
3.2 Drei ‚Sonderreiche’ im Vergleich
3.2.1 Rahmenbedingungen der Usurpationen des Carausius, des Postumus und der Zenobia
3.2.2 Charakterisierung des Britannischen, Gallischen und Palmyrenischen ,Sonderreichs’
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„’Sonderreiche’ waren (...) Behelfskonstruktionen mit Übergangscharakter, die ihr Verfallsdatum bereits in sich trugen, denkbar nur unter den Bedingungen der spezifischen Konstellation (...) [der 2. Hälfte des 3. Jh.; d. Verf.].“1
Mit diesen metaphorischen Worten fällt Sommer ein recht plastisches Urteil über das Wesen der Sonderreiche des Imperium Romanum im 3. Jahrhundert n. Chr. und bringt überdies anschaulich seine Ansicht über entscheidende Kriterien ihrer Existenz auf den Punkt. Die nötigen Hintergrundinformationen, die für das Verständnis dieser Bewegungen förderlich wären, sind aus ihrer Zeit selbst, mangels erhaltenen Quellenmaterials, nur äußerst fragmentarisch überliefert. Für einen Großteil der Soldatenkaiserzeit stellt somit die Historia Augusta, deren Autorenschaft als ungeklärt gilt, die einzige literarische Quelle dar; dies erweist sich jedoch auf Grund ihres wohl recht hohen Maßes an Fiktionalität zu Ungunsten ihrer Authentizität als wissenschaftlich problematisch. Einen vergleichbar fragwürdigen Wahrheitsgehalt weisen ebenso die Panegyrici Latini auf, da sie als Lobreden an die Kaiser freilich ihrer Natur nach nicht den realistischen Gegebenheiten, sondern viel mehr der captatio benevolentiae gegenüber dem jeweiligen Herrscher verpflichtet waren. Als wissenschaftlich bedeutendste Schriftquellen dieser Epoche gelten deshalb die Breviarien von Eutrop, aber auch von Aurelius Victor aus dem 4. Jahrhundert. Als kurze historische Überblicksdarstellungen, denen mittlerweile verlorene Aufzeichnungen zu Grunde liegen, gewähren sie zumindest einen gewissen Einblick in die Geschehnisse des nur undetailliert und lückenhaft tradierten 3. Jahrhunderts. Jedoch bleiben die darin enthaltenen Informationen über das Thema ‚Sonderreiche’ lediglich an der Oberfläche, weshalb es sich letztlich als unerlässlich erweist, das deutlich umfangreichere numismatische Quellenmaterial dieser Zeit in die Betrachtungen mit einzubeziehen, um dadurch ein aufschlussreicheres Bild der Ereignisse zu gewinnen.
Als beinahe grotesker Gegensatz steht der dürftigen Quellenlage, die scheinbar zu vielerlei Interpretation anregt, ein reicher Fundus an Forschungsliteratur entgegen. Bei der Sichtung dieses Materials stellten sich besonders Flaig und Szidat als übersichtlich und gewinnbringend heraus, um den Komplex der Legitimation römischer Kaiser in Zusammenhang mit dem Auftreten von Usurpationen zu erarbeiten. Zur Verknüpfung der so gewonnenen Ergebnisse erwiesen sich die Überblicksdarstellungen zum 3. Jahrhundert von Erdmann/Uffelmann, Dahlheim und Brandt als sehr effizient. Des Weiteren bot Sommer äußerst anschaulich eine generelle Einsicht in die Epoche der Soldatenkaiser mit der Erscheinung ‚Sonderreich’, während sich im Speziellen Hartmann mit dem Palmyrenischen, König mit dem Gallischen und Casey mit dem Britannischen Sonderreich auseinandersetzten und vertiefende Informationen zu den einzelnen Gegebenheiten vermittelten.
Zur Annäherung an die Thematik soll nun das Hauptaugenmerk in den folgenden Ausführungen zunächst auf die Darstellung der außen- und innenpolitischen Situation des römischen Reiches im 3. Jahrhundert gelegt werden. In diesem Kontext erscheinen bedeutende Veränderungen, die diese Epoche prägten, als Phänomene sozial-politischen Wandels, bezüglich dessen es zudem gilt, den für diesen Zustand in der Forschung verwendeten Begriff der ‚Krise’ systematisch zu hinterfragen. Als Exempel eines hinterfragten Krisenphänomens rückt hiernach die Usurpation in die nähere Betrachtung, nicht zuletzt in Anbetracht ihrer Bedeutung für die Entstehung der Sonderreiche innerhalb des Transformationsprozesses.
Schlussendlich soll die Herausbildung von „quasi-souveränen“ Herrschaftsbereichen, den so genannten Sonderreichen, im Westen und Osten fokussiert werden, die in weitgehender Unabhängigkeit von der Reichszentrale standen; dies soll im Besonderen in Form einer komparatistischen Analyse unter der Fragestellung nach ihrer Zielsetzung, nach etwaigen separatistischen Intentionen sowie nach eventuellen alleinherrschaftlichen Ansprüchen ihrer Begründer geschehen.
2. Die Situation des Imperium Romanum im 3. Jahrhundert
2.1 Überblicksdarstellung
[...] desperatis rebus et deleto paene imperio Romano [...]2
Bereits Eutrop wies mit diesen Worten auf den präkeren Zustand des römischen Reiches zur Mitte des 3. Jahrhunderts hin. Doch worin liegen die Ursachen für diese Einschätzung? Um diese Frage beantworten zu können, ist ein Überblick über die gesellschaftlichen und damit einhergehend über die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gegebenheiten des römischen Reiches in der betreffenden Zeit sinnvoll. Das 3. Jahrhundert ist sowohl von inneren als auch von äußeren Notlagen gekennzeichnet, die in engem Zusammenhang zueinander stehen.
Betrachtet man zunächst die innenpolitische Lage, so stellt man fest, dass es mit dem Tod Caracallas 217 zum endgültigen Bruch in der dynastischen Kontinuität3 kam, da die Versuche Gallienus’ und Aurelians, eine neue Dynastie zu begründen, scheiterten.4 Die Vakanz einer durch dynastische Erbfolge gesicherten Regierungsform als bedeutendes Element für die Stabilität des Reiches sowie das Fehlen einer generellen Legitimationsgrundlage im Prinzipat5 stellte eine akute Bedrohung dar, zum einen durch häufige Bürgerkriege - hervorgerufen durch Usurpationen - im Inneren, zum anderen durch die daraus resultierenden Grenztruppenabzüge zu Gunsten der inneren, jedoch zu Ungunsten der äußeren Sicherheit.6 Der Ursprung der Instabilität scheint demnach in den inneren Strukturen des Reiches zu liegen. Denn die häufigen Machtwechsel störten das empfindliche Gleichgewicht der Führungsschicht des Reiches, die als verhältnismäßig geschlossenes und stabiles System hierfür eigentlich eine Barriere darstellen sollte.
Diese Führungsschicht, die neben dem Kaiser ursprünglich aus Senat und Militär bzw. einer Kombination beider zuletzt genannten bestand, geriet im 3. Jahrhundert aus der Balance. Schon unter Septimius Severus vollzog sich ein Wandel innerhalb der Führungsschicht zu Gunsten des Militärs.7 Verstärkt wurde dieser Trend durch die immer deutlicher zu Tage tretende Unfähigkeit des Senats, Entscheidungen zu treffen8, sowie durch die Heeresreform des Gallienus, welche die Senatorenschaft von hohen militärischen Kommanden ausschloss.9 Die Dominanz des Militärs führte schließlich dazu, dass bei Unstimmigkeiten des Kaisers und des Heeres sofort ein neuer Kaiser akklamiert wurde, was eine Stabilisierung der Lage fast unmöglich machte und fortwährend Usurpationen nach sich zog.
Eine weitere logische Konsequenz dieser Entwicklung war, dass das Militär die Aspiranten für den Purpur aus den eigenen Reihen rekrutierte, was dazu führte, dass ab 235 die so genannten Soldatenkaiser10 die Herrschaft über das Imperium Romanum innehatten, die, anders als ihre Vorgänger, meist weder den römischen Kernprovinzen entstammten noch der Reichsaristokratie angehörten11 und ihren Aufstieg der hohen sozialen Mobilität dieser Zeit, vor allem im Heer, zu verdanken hatten.12 Diese außerordentliche Bedeutung für den Herrscherwechsel konnte das Militär nur deswegen erlangen, da es keine andere Instanz gab, die über Ernennung oder Absetzung eines Herrschers entschied. Dieses Fehlen kompensierte das Heer durch sein eigenes Handeln, der Ausrufung von Gegenkaisern.13
Ein weiteres Problem stellte die enorme Größe des Reiches dar, wobei die darin immer häufiger auftretenden innen- und außenpolitischen Konflikte verdeutlichten, dass ein Kaiser allein kaum mehr im Stande war, dieses riesige Staatsgebilde zu lenken. Die Lösung für dieses Problem lag in der Umstrukturierung des Herrschaftssystems. Dieser Prozess zeichnete sich bereits unter Valerian und dessen Sohn Gallienus ab und griff der tetrarchischen Idee gewissermaßen voraus; wenn sie auch keine Reichsteilung vornahmen, so legten sie bereits Zuständigkeitsbereiche untereinander fest, mit der Intention, das Herrschaftssystem logistisch besser verwalten zu können. In der praktischen Umsetzung dieses Vorhabens teilten die beiden Augusti ihre Aufgabenfelder in einen westlichen Bereich, für den Gallienus verantwortlich war, und ein östliches Gebiet, in dem Valerian fungierte, auf. Zusätzlich wurde Gallienus’ Sohn Saloninus 259 zum Caesar erhoben, um am Brennpunkt Rheingrenze als Stellvertreter der Zentralautorität besondere Präsenz zeigen zu können.14
Auch Gallienus’ und später Aurelians Verwaltungsreformen, die einen reorganisierten und erweiterten Beamtenapparat zur Folge hatten - um die militärischen wie finanziellen Ressourcen effizienter auszuschöpfen - zielten auf eine Stärkung der Zentralgewalt ab.15 Aber nicht nur politisch sondern auch militärisch war das 3. Jahrhundert eine Zeit des Wandels. Betrieb das Reich im 2. Jahrhundert noch eine Expansionspolitik, so war das 3. Jahrhundert eine Zeit der Konsolidierung und zeitweise auch des Rückzugs.
Ganz allgemein ist festzuhalten, dass sich in allen Randprovinzen der militärische Druck erhöhte; doch insbesondere an zwei Grenzen drohte den Römern die Kontrolle zu entgleiten16 - was nicht zuletzt durch Truppenabzüge zum Zwecke des Herrscherwechsels begünstigt wurde. Zum einen verschlechterte sich die Lage im Rhein- Donau-Gebiet, wo sich westgermanische Völkerschaften zu größeren Einheiten zusammenschlossen, so z.B. die Franken, Alamannen und Sachsen, und den Druck an der
Nordgrenze verstärkten. Aber auch die Markomannen an der mittleren Donau griffen immer häufiger Reichsgebiet an. Gleichzeitig erwuchs den Römern im Osten ein neuer gefährlicher Gegner. Die Dynastie der Sassaniden schuf das sogenannte Sassanidenreich - auch Neupersisches Reich genannt - mit dem Anspruch universaler Herrschaft, gestützt durch eine erhöhte militärische Schlagkraft.17 Jedoch kam es nicht nur an Rhein, Donau und Euphrat zu tiefen Einbrüchen ins Innere des Reiches, sondern auch in Nordafrika und Arabien ereigneten sich immer häufiger Plünderungen.
Das Ergebnis dieser Entwicklung war, dass unter Gallienus zeitweise nur noch Italien und einige Mittelmeerprovinzen sicher in der Hand des Imperiums waren.18 Es gab jedoch Versuche, diesen Prozessen entgegen zu wirken, so kam es etwa unter Gallienus zu einer Reform des Heerwesens, durch welche Reiterarmeen als taktische Reserve im Hintergrund gehalten wurden und somit einem Vordringen der Feinde auf Reichsgebiet vorgebeugt werden sollte.19 Im Allgemeinen kann man jedoch für die Zeit der Soldatenkaiser von einer überaus erfolgreichen Militärpolitik sprechen, da trotz der bis dahin größten Feinderhebungen langfristig eine Konsolidierung des Reichsgebiets gelang. Bedrohlicher als zeitweilige territoriale Verluste waren dem gegenüber die Verwüstungen, der Raubbau an Ressourcen und insbesondere der Zusammenbruch des Währungssystems.20 So kam es zu einem enormen Vertrauensverlust in die Währung, da der Metallgehalt in den Münzen stark reduziert und zudem das Geldvolumen erheblich aufgebläht wurde.21 Die Konsequenzen waren eklatante Preissteigerungen und schließlich die Zunahme naturalwirtschaftlicher Tauschverfahren.22 Hinzu kam, dass in vielen Reichsteilen die Wirtschaft stagnierte und die Lebensbedingungen der Bevölkerung sich nachhaltig verschlechterten.23
Insgesamt ging die wirtschaftliche und soziale Entwicklung auf Kosten der Städte, wobei nicht nur die Unterschichten sondern vor allem die städtischen Eliten von der stagnierenden bzw. rezessiven Wirtschaftslage betroffen waren - in diesem Zusammenhang sei als außergewöhnliches Beispiel des sozialen Wandels auf den Niedergang des Dekurionenstandes hingewiesen, welcher seit Septimius Severus einem immer größer werdenden Druck ausgesetzt war.24
[...]
1 Sommer, Michael: Die Soldatenkaiser, hrsg. von Kai Brodersen, Darmstadt 2004, S. 107.
2 Eutropius: Eutropii Breviarium ab urbe condita, ed. F.L. Müller, Stuttgart 1995, 9,9,1: „(...) in verzweifelter Lage, als das römische Reich fast schon zerstört war (...)“.
3 Insofern man unter dem Begriff ‚dynastische Erbfolge’ auch fernverwandtschaftliche und durch Adoption legitimierte Nachfolge annimmt, wie sie seit 96 n. Chr. üblich war.
4 Erdmann, Elizabeth/ Uffelmann, Uwe: Das Altertum. Vom alten Orient zur Spätantike, Idstein 2000, S. 259.
5 Näheres zur Legitimation: Siehe Punkt 3.1.3.
6 Erdmann, S. 258.
7 Bringmann, Klaus: Römische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Spätantike (Beck’sche Reihe), München 1997, S. 88; verwiesen sei an dieser Stelle zudem auf Cassius Dio über Septimius Severus’ letzte Worte zu seinen Söhnen: „Seid einig, bereichert die Soldaten, alle übrigen könnt ihr vergessen.“(76,15,2).
8 vgl. Flaig, Egon: Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im römischen Reich (Historische Studien, Bd.7), Frankfurt am Main 1992, S. 117-121. Hierzu äußert sich auch Aurelius Victor, 37,7, den Senat verurteilend:
Verum dum oblectantur otio simulque divitiis pavent, […] munivere militaribus […] viam in se ac posteros dominandi. „Doch während sich die Senatoren ihrer Muße erfreuten und zugleich um ihren Reichtum bangten, […] bahnten sie den Soldaten […] den Weg, über sie selbst und ihre Nachfahren zu herrschen.“
9 Dahlheim, Werner: Die Antike. Griechenland und Rom von den Anfängen bis zur Expansion des Islam, 4. erw. und überarb. Aufl., Paderborn 1995, S. 549. Seit 260 keine Militärtribunen und Legionskommmandeure aus senatorischem Stand.
10 Unter dem Begriff ‚Soldatenkaiser’ soll die Periode zwischen dem Regierungsantritt des Maximinus Thrax 235 und des Diocletian 284 verstanden werden, vgl. Johne, Klaus-Peter: Kaiser, Senat und Ritterstand, in: Gesellschaft und Wirtschaft des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert, hrsg. von K.-P. Johne, Berlin 1993, S. 207f.
11 Bringmann, S. 88.
12 Erdmann, S. 269.
13 Szidat, Joachim: Usurpationen in der römischen Kaiserzeit. Bedeutung, Gründe und Gegenmaßnahmen, in: Labor omnibus unus. Festschrift für Gerold Walser (Historia: Einzelschriften; 60) Stuttgart 1989, S. 237. Weiteres zur Stellung des Heeres: Siehe Punkt 3.1.3.
14 Erdmann, S. 265.
15 Dahlheim, S. 560 f.
16 Johne, Klaus-Peter u.a.: Deleto paene imperio Romano. Transformationsprozesse des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert und ihre Rezeption in der Neuzeit, Stuttgart 2006, S. 4.
17 Bringmann, S. 89f.
18 Dahlheim, S. 559.
19 ebd., S. 557.
20 Bringmann, S. 91.
21 Casey, Patrick J.: Carausius and Allectus. The British Usurpers, London 1994, S. 18. Casey bewertet die Lage des röm. Reiches diesbezüglich als eine „apocalyptic situation“.
22 Brandt, Hartwin: Das Ende der Antike. Geschichte des spätrömischen Reiches, 2. Aufl. München 2004, S. 14.
23 Dahlheim, S. 549.
24 vgl. ebd., S. 558.