Das mentale Lexikon im frühen Erstspracherwerb
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: Das Phänomen Sprache
2 Erklärungsansätze zum Erstspracherwerb
3 Das menschliche Lexikon
3.1 Die Zusammensetzung des Lexikons
3.2 Die Organisation des Lexikons
4 Der Erwerb von Bedeutungen
4.1 Beschreibungsmodelle für die Speicherung von Bedeutungen
4.2 Der kindliche Bedeutungserwerb
5 Der Erwerb von Wörtern
5.1 Der Entwicklungsverlauf des Wortschatzerwerbes
5.2 Semantische Kategorien im kindlichen Wortschatz
5.3 Grammatische Kategorien im kindlichen Wortschatz
6 Der Erwerb von Wortbildungsregeln
7 Fazit: Das Phänomen Lexikonerwerb
8 Literaturverzeichnis
Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache.
Wilhelm von Humboldt
1 Einleitung: Das Phänomen Sprache
Das Geheimnis der Sprache – so lautete unlängst der Titel einer Ausgabe des Magazins Geo Wissen. Im Fokus standen im Allgemeinen die menschliche Sprache, welche bereits im Vorwort der Zeitschrift als „die bedeutendste Errungenschaft der Menschheit“ (Simon 2007: 3) bezeichnet wird, und im Besonderen der Spracherwerb von Kindern. Die menschliche Sprache gilt als das artspezifische Kommunikationsmittel, welches den modernen Menschen von allen anderen Spezies unterscheidet. Sie ist den ‚Tiersprachen’ überlegen, da sie als strukturiertes System von symbolischen Zeichen mit arbiträren, aber konventionell fest-gelegten Bedeutungen auch in Bezug auf abstrakte Sachverhalte und situationsungebunden verwendet werden kann. Dass die Sprache von herausragender Bedeutung für den Alltag des Menschen ist, zeigt sich auch in der Vielfalt ihrer Funktionen, wobei die Kommunikations-funktion, welche sich auf den beabsichtigten, partnerorientierten Austausch von Informa-tionen bezieht, die wohl wichtigste Komponente darstellt. Neben weiteren Aspekten wird Sprache außerdem als Denk- und Handlungsinstrument, für die Kontaktaufnahme zu den Mitmenschen und den Ausdruck von Emotionen eingesetzt.
Seit jeher sind die Menschen fasziniert von dem Phänomen Sprache gewesen. Diese Faszination mag ihren Ursprung unter anderem in der Tatsache haben, dass beinahe alle Kinder ihre Muttersprache (oder Erstsprache) ungeachtet kultureller, sozialer oder intellek-tueller Unterschiede scheinbar mühelos erlernen. Dennoch ist der Erstspracherwerb „die komplexeste aller Aufgaben, mit denen das Kind im Laufe seiner Entwicklung konfrontiert wird“ (Dittmann 2006: 9), weil es die verschiedenen Teilkomponenten des Sprachsystems erwerben und miteinander kombinieren lernen muss. In diesem Zusammenhang haben verschiedene Studien gezeigt, dass das Lexikon eine Schlüsselposition einnimmt, da erst „ein gewisser Wortschatz erforderlich [ist], bevor der Grammatikerwerb in Gang kommen kann“ (Szagun 2006: 128).
Aus diesem Grunde verfolgt die vorliegende Arbeit primär die Zielstellung, den Erwerbsprozess des Lexikons im Kleinkindalter zu beschreiben. Um wichtige Hintergrund-informationen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema bereit-zustellen, sollen im Vorfeld ausgewählte Erklärungsansätze für den Erstspracherwerb skizziert werden. Bevor der Erwerb des menschlichen Lexikons im frühen Kindesalter näher beschrieben werden soll, wird zunächst auch die Beschaffenheit des menschlichen Lexikons kurz erläutert. In den sich anschließenden Kapiteln steht schließlich der kindliche Erwerb von Bedeutungen bzw. Konzepten, Wörtern und Wortbildungsregeln im Fokus. Abschließend sollen die wichtigsten Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit zusammengefasst und diskutiert werden, wobei auch aktuelle Forschungsdesiderata aufgezeigt werden sollen.
2 Erklärungsansätze zum Erstspracherwerb
Jedes Sprachsystem besteht aus zwei sich ergänzenden Komponenten: dem Lexikon als Kenntnissystem und der Grammatik als Regelsystem. Folglich ist der Erwerb des Lexikons in einen umfassenderen Prozess, in den Erwerb des gesamten Sprachsystems, eingebettet. Um den Verlauf des (Erst-)Spracherwerbs zu erklären, sind zahlreiche, teilweise gegensätzliche, theoretische Ansätze formuliert worden, von denen die einflussreichsten im Folgenden skizziert werden sollen.
Die Spracherwerbsforschung ist seit ca. 50 Jahren stark von einer theoretischen Kontroverse, welche im Englischen sehr treffend „mit dem begrifflichen Gegensatzpaar nurture vs. nature [Hervorhebung im Original]“ (Bickes/Pauli 2009: 31) beschrieben werden kann, geprägt. Grundsätzlich geht es darum, ob der Spracherwerb auf den genetischen Anlagen eines Menschen oder auf den Einflüssen aus seiner direkten Umwelt basiert. Letztere Annahme ist der Kerngedanke des Behaviorismus, dessen Hauptvertreter Skinner seine Thesen zum Spracherwerb im Jahr 1957 im Werk Verbal Behavior publizierte. Behavioristischen Lern-theorien zufolge kommt der Mensch als ‚leeres Blatt’, zur Welt, welches „erst durch Umwelt und Erfahrung in systematisch analysierbarer Weise ‚beschrieben’ wird“ (Bickes/Pauli 2009: 31). Ähnlich dem Erlernen von Verhaltensweisen, erfolgt der Spracherwerb eines Kleinkindes durch Imitation von in der Umgebung gehörten Lauten bzw. Lautfolgen, was von den Eltern in der Regel durch Lob positiv verstärkt wird. Demzufolge wird der Spracherwerb als Konditionierungsprozess aufgefasst, bei dem mentale Prozesse keine Rolle spielen (vgl. Skinner 1957).
Allerdings sind mit Hilfe behavioristischer Theorien keine kreativen Lernprozesse, wie sie während des Spracherwerbs bei kleinen Kindern gewöhnlich auftreten, erklärbar. Dies hat auch Chomsky, welcher die gegensätzliche Position des Nativismus vertritt, kritisiert. Er wies auf die interessante Tatsache hin, „dass die Stimuli, denen Kinder im Spracherwerb ausgesetzt sind, weder quantitativ noch qualitativ ausreichen, um bestimmte syntaktische Strukturen zu erlernen“ (Bickes/Pauli 2009: 34). Dennoch vermögen es die meisten Kinder relativ schnell, grammatisch korrekte Sätze in ihrer Muttersprache zu bilden. Die Ursache hierfür wird in den genetischen Anlagen eines jeden Kindes, genauer in einer Art angeborenem unabhängigen Sprachmodul (language acquisition device – LAD), vermutet. Das LAD ist der Sitz der Universalgrammatik, das heißt, hier sind für alle Sprachen gültige grammatische Regeln gespeichert, auf die das Kind beim Spracherwerb zurückgreift. Chomskys ursprüngliche Theorie von der Universalgrammatik ist später durch die Einführung des Begriffspaars der Prinzipien und der Paramete r modifiziert worden:
Im Kern des P&P-Modells steht […] die Annahme einer abstrakten, rein mentalen grammatischen Struktur, die als angeboren gilt, und die in Form von Prinzipien die universellen Kategorien und Strukturen aller mensch-lichen Sprachen charakterisiert. Ferner gibt es strukturelle Optionen (Parameter), die einzelsprachlichen Ausprägungen der Prinzipien Rechnung tragen [Hervorhebungen im Original].
(Bickes/Pauli 2009: 36)
Innerhalb dieses Modells wird angenommen, dass sich die Auswahl des richtigen Parameters für die jeweilige zu erlernende Sprache automatisch aus dem umgebungssprachlichen Input des Kindes ergibt. Da sich der nativistische Ansatz vor allem auf das Regelsystem von Sprachen bezieht, erscheint seine Anwendung nur in Bezug auf die Grammatik als Teil des Sprachsystems sinnvoll. In diesem Kontext vermuten einige Linguisten sogar, dass Kinder zunächst einen gewissen Wortschatzumfang erreicht haben müssen, damit Prinzipien und Parameter überhaupt wirksam werden können (vgl. Bickes/Pauli 2009: 37). Zudem werden die Notwendigkeit und das Vorhandensein einer Universalgrammatik in neueren Studien häufig angezweifelt.
Innerhalb der Spracherwerbsforschung sind außerdem kognitivistische Ansätze, welche das sprachliche Fortschreiten eng an die allgemeine kognitive Entwicklung des Kindes knüpfen, einflussreich. So nimmt Piaget, einer der Hauptvertreter des Kognitivismus, in seinem Hauptwerk Sprechen und Denken des Kindes (1983) an, dass der Spracherwerb als ein von der kindlichen Gesamtentwicklung untrennbarer Prozess zu betrachten ist. Für die Beschreibung dieser Entwicklung hat Piaget ein fünfstufiges Modell entworfen, welches den Erwerb des Denkens und Sprechens als gesetzmäßigen Prozess beschreibt, „der von ich-bezogenen Verhaltensweisen zu gesellschaftsbezogenen und vom ungelenkten zum zweckgerichteten Handeln verläuft“ (Merten: 1997: 39). Innerhalb dieses Modells gilt der Erwerb des Prinzips der Objektpermanenz oder –konstanz als Meilenstein für die sprachliche Entwicklung, da das Kind nun weiß, dass ein Gegenstand oder eine Person immer noch existiert, auch wenn sie aus dem Sichtfeld temporär verschwindet (vgl. Linke/Nussbaumer/ Portmann 2004: 381). In diesem Kontext wird die sichtbare sprachliche Entwicklung des Kindes zum Zeichen von allgemeinen kognitiven Reifeprozessen.
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