Kuhns Struktur einer wissenschaftlichen Revolution im Rahmen der Volkswirtschaftslehre
Hat die Volkswirtschaftslehre ein Paradigma?
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Kuhnsche Paradigma.
3. Zur vorparadigmatischen Zeit einer Wissenschaft
a. Kuhns Auffassung einer vorparadigmatischen Zeit
b. Zur vorparadigmatischen Zeit der Volkswirtschaftslehre
4. Die Phase der Normalwissenschaft
a. Kuhns Auffassung der normalwissenschaftlichen Phase
b. Die normalwissenschaftliche Phase und die Volkswirtschaftslehre
5. Die wissenschaftliche Revolution
a. Kuhns Auffassung von wissenschaftlicher Revolution
b. Wissenschaftliche Revolution in der Volkswirtschaftslehre?
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
Einleitung
Thomas S. Kuhn unterteilte mit seinem 1962 erschienen Werk The Structure of Scientific Revolutions (im folgenden nur: SSR) das Geschäft der Wissenschaft in verschiedene Phasen. Gekennzeichnet sind diese Phasen durch Existenz, Nicht-Existenz, bzw. Wechsel eines Paradigmas. Seine historische Herangehensweise - wie gelangen wir zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis? - steht diametral Popper und dem Wiener Kreis gegenüber, die sich der ahistorischen Methoden verpflichten.[1] In der Quintessenz gelangt Kuhn zu der Auffassung, dass wissenschaftlichen Entwicklungen keinesfalls kumulativer Charakter zuzuschreiben ist.
Diese Ausarbeitung soll einerseits die Gedanken um die Kuhnsche Paradigmentheorie aufzeigen und andererseits prüfen, inwiefern dieses Konzept, dem ein zyklischer Moment, gekennzeichnet durch das Wechselspiel zwischen Normalwissenschaft und außerordentlicher Wissenschaft, inne wohnt, anwendbar ist auf eine der Sozialwissenschaften, die Volkswirtschaftslehre.[2] Kuhns Konzept fand originär Anwendung auf die
Naturwissenschaften, mit Fokussierung auf die Geschichte der Physik. Zu den Sozialwissenschaften sagt Kuhn in seiner SSR, dass sich jene noch in einer vorparadigmatischen Zeit befinden.[3] Inwiefern dies auf die Volkswirtschaftslehre zutrifft, die eine Sozialwissenschaft ist, soll durch die Suche nach etwas, das als volkswirtschaftliches Paradigma verstanden werden kann, geklärt werden.
Um dies zu erreichen, wird zuerst der zentrale Begriff der SSR, das Paradigma, betrachtet. Zu diesem Zeitpunkt soll allerdings noch keine Anwendung auf die Ökonomie stattfinden. Erst im Anschluss an Kapitel 3, nachdem die vorparadigmatische Zeit im Allgemeinen aufgezeigt worden ist, soll eine Anwendung auf die Ökonomie stattfinden. Kapitel 4 präsentiert die Phase der Normalwissenschaft inklusive einer anschließenden Suche nach einem ökonomischen Paradigma. Das vorletzte Kapitel behandelt die wissenschaftliche Revolution, unter der die Kuhnschen Begriffe Anomalie, Krise und Paradigmenwechsel fallen. Auch hier wird nach einem passenden Gegenstück in der Geschichte der Ökonomie gesucht. Das letzte Kapitel, das Fazit, zieht in seiner klassischen Rolle ein abschließendes Resümee.
2. Das Kuhnsche Paradigma
Umgangssprachlich kann der Begriff des Paradigma als Muster oder Klasse verstanden werden und findet seinen etymologischen Ursprung in dem griechischem Wort paradeiknynar,[4] „als Beispiel hinstellen“. Die ursprüngliche Wortbedeutung offenbart die Kuhnsche Intention[5], dass das wissenschaftliche Forschen nach bestimmten Beispielen verfährt, bzw. solch ein Forschen folglich einen Konsens unter den Wissenschaftlern erfordert. Doch lässt sich das Kuhnsche Verständnis eines Paradigmas schwer nachvollziehen, da er ihn ambivalent in SSR verwendet, was Kuhn selbst nicht bestreitet.[6] So hat sich Masterman die Mühe gemacht, die Ambivalenz der Bedeutungen des Paradigma-Begriffes von Kuhn zu quantifizieren und kam letztendlich auf 21 verschiedene Bedeutungen des Wortes innerhalb der SSR.[7] Unter einem Paradigma kann beispielsweise eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Errungenschaft (S. 11, SSR) oder eine ganze Tradition (S. 29, SSR) verstanden werden. Dieser Aspekt, die Vieldeutigkeit des Begriffes, versucht Kuhn in seinem Postkript von 1969 zu behandeln.[8 Für Kuhn gibt es laut diesem Postskript nur zwei verschiedene Bedeutungen des Wortes Paradigma, die er den Begriffen disziplinäre Matrix (auch disziplinäres Grundgerüst genannt) und Musterbeispiel neu zuordnet. Sein Verständnis für ein Musterbeispiel kann bereits dem Vorwort der SSR entnommen werden, das jene als die „universally recognized scientific achievements that for a time provide model problems and solutions to a community of practitioners“[9] charakterisiert. Solch ein Verständnis über den Begriff des Musterbeispiels, kann auch als konkretes Problemlösen interpretiert werden, die die Regeln, die wiederum als Grundlage für die Lösungen von Problemen gelten, in der Normalwissenschaft substituiert.[10] Die Bedeutung des Begriffes der disziplinären Matrix findet sich im selbem Textabschnitt wieder und steht „[...] for the entire constellation of beliefs, values, techniques, and so on shared by the members of a given community“[11]. Ersichtlich wird an diesen beiden Begriffsfestlegungen, der des Musterbeispiels und der der disziplinären Matrix, dass letzterer Begriff den Paradigmabegriff im weitesten Sinne erfasst und zugleich die Oberkategorie der Musterbeispiele darstellt. Ein Musterbeispiel wäre demnach ein Paradigma im engeren Sinne, also des konkreten Problemlösens[12] und stellt für Kuhn den wichtigeren Aspekt dar, da dieser Begriff eine tiefer gehende philosophische Bedeutung aufweist.[13] Ergänzend zur disziplinären Matrix sei anzumerken, dass jene Einzelkomponenten impliziert, die im folgenden genannt werden:[14]
(i) Symbolische Verallgemeinerung
Bezeichnet innerhalb einer wissenschaftlichen Gemeinschaft die Anerkennung von unlängst formalisierten allgemeinen Sätzen, als Ausdruck eines Naturgesetzes. Wichtig ist an dieser Stelle, dass ein einheitlicher Konsens zwischen Interpretation dieser logischen Formen und der eigentlich intendierten Bedeutungszuweisung besteht. Beispielhaft für eine akzeptierte symbolische Verallgemeinerung sei die Äquivalenz von Masse und Energie (e=mcA2) innerhalb der Physik.
(ii) Gemeinsame Verbindlichkeiten
Hierunter werden ontologische bzw. metaphysische Überzeugungen innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft subsumiert, die sich auf die klassischen Fragen von Aristoteles, „ob es ist“ (Existenz) und „was es ist“ (Essenz), beziehen. Also mit Hilfe dieser Kategorie legt die Forschungsgemeinschaft die Tatsachen fest, wie die Welt aus ihrer Sicht beschaffen ist.
Neben diesen ontologischen Überzeugungen gesellt sich durch Kuhns Postskript ein zweiter Moment hinzu, ein heuristischer. Heuristische Modelle liefern der Wissenschaftsgemeinschaft zulässige Analogien und Metaphern, die ihnen bei der Entscheidung helfen sollen, was als eine Rätsellösung anerkannt werden kann und was nicht. Kuhn ordnet diese beiden Momente der Einzelkomponente Gemeinsame Verbindlichkeiten deshalb zu, weil sich beide in ihrer Funktion ähneln. Sie ähneln sich, da sie eine Quelle von Ähnlichkeitsrelationen sind. Heuristische Modelle stellen eine Quelle externer Ähnlichkeitsrelationen dar (es herrscht Ähnlichkeit zwischen der „Sache“ und einem wesentlich verschiedenen Objekt, bzw. Situation) und ontologische Modelle eine Quelle interner Ähnlichkeitsrelationen (es herrscht Ähnlichkeit zwischen der Sache und dem ontologisch gleichartigen Objekt, bzw. Situation).
(iii) Werte
Die Werte innerhalb einer Wissenschaftsgemeinschaft determinieren die Theorieauswahl. Dabei sind die Werte innerhalb ihrer zeitlichen Entwicklung durch eine geringe Volatilität charakterisiert. Als Beispiel für solche Werte gibt Kuhn an, dass Voraussagen genau sein sollen und eine quantitative Voraussage einer Qualitativen vorzuziehen sei. Auch sollten verschiedene akzeptierte Theorien miteinander kompatibel sein. Den Gültigkeitsbereich solcher Werte beschränkt Kuhn nicht nur auf das einzelne wissenschaftlich disziplinäre Feld an sich. Vielmehr erstreckt sich jener Bereich auf alle Naturwissenschaften, sodass alle Naturwissenschaftler in diesem Sinne eine Gemeinschaft bilden.
(iv) Musterbeispiele
Musterbeispiele sind, wie bereits erwähnt, Paradgimen im engeren Sinne und stellen somit eine Einzelkomponente der disziplinären Matrix dar. Für Kuhn stellen die Musterbeispiele den wichtigsten und am wenigsten verstandenen Aspekt innerhalb seiner SSR dar. Neben der bereits angesprochenen philosophischen Tiefe, sind Musterbeispiele für Kuhn deshalb so wichtig, da sie konstitutiven Charakter für die gesamte disziplinäre Matrix haben. So können Studenten nur anhand von konkreten Standardproblemen, die sie mit den Musterbeispielen lösen, ein Verständnis der symbolischen Verallgemeinerung erlangen.
Dieser Abschnitt sollte deutlich machen, wie schwierig die Verwendung des ParadigmaBegriffes im Allgemeinen ist und vor allem wie schwierig sich eine Anwendung auf die Volkswirtschaftslehre gestalten kann. Kuhn hat die Vieldeutigkeit seines Paradigma-Begriffes selbst eingesehen und schöpfte in seinem Postskript von 1969 zwei neue Begriffe, den der disziplinären Matrix und der des Musterbeispieles, um diesem Kritikpunkt etwas entgegen zu setzen. Aber selbst diese differenzierteren Begrifflichkeiten, von denen er nach 1970 keinen Gebrauch mehr macht[15], behindert nicht das Verständnis der Kuhnschen Intention. So handelt es sich, wenn auch nicht prima facie im Detail präzisiert, bei einem Paradigma um eine wissenschaftliche Leistung, die im Voraus nicht existierte und auf Wissenschaftler anziehend wirkt. Diese Anziehung ist so stark, dass eine solche wissenschaftliche Leistung zu einem Paradigma „emporsteigt“, das wiederum die forschenden Tätigkeiten einer Wissenschaftsgemeinschaft bestimmt. Bedingung für die Akzeptanz eines solchen Paradigmas ist, dass es genügend lösbare Aufgaben zur Verfügung stellt. Diese zwei Momente, die Neuartigkeit und die Möglichkeit ungelöste Probleme zu stellen, wohnen laut Kuhn einem Paradigma inne.[16] Ein von ihm verwendetes Gleichnis, das ein Paradigma in seiner Funktion mit einer accepted judical decision vergleicht, sollte deutlich machen, was seine Intention ist.[17]
Ein Beispiel zum Schluss dieses Kapitels soll das Geschriebene klarer machen. Für Kuhn ist die Tatsache, dass die Naturwissenschaftler des 18. Jahrhunderts weitgehend dem Paradigma vom Licht als Teilchen oder Korpuskeln folgten, ein klassisches Beispiel für ein Paradigma innerhalb einer Fachdisziplin. Dass im 19. Jahrhundert vom Licht als Welle gesprochen wurde und seit dem 20. Jahrhundert Licht als Welle und Teilchen verstanden wird, offenbart vorab den Begriff vom Paradigmenwechsel.[18]
Zur vorparadigmatischen Zeit einer Wissenschaft
Um eine übersichtliche Struktur zu gewährleisten, gliedert sich dieses Kapitel in zwei Abschnitte. Zunächst soll das Kuhnsche Verständnis einer vorparadigmatischen Zeit offengelegt werden, um dann im zweiten Abschnitt eine Anwendung für die Volkswirtschaftslehre zu ermöglichen.
a. Kuhns Auffassung einer vorparadigmatischen Zeit
Um aufzuzeigen, was Kuhn unter einer vorparadigmatischen Zeit versteht, sei ein Vorgriff auf das Verständnis der „normalen Wissenschaft“ gemacht. Normale Wissenschaft bedeutet für Kuhn, dass “research firmly based upon one or more past scientific achievements, achievements that some particular scientific community acknowledges for a time as supplying the foundation for its further practice”[19] Sofern innerhalb einer Wissenschaft eine solche Basis noch nicht vorherrscht, die die wissenschaftliche Forschung anleitet, spricht Kuhn von einer vorparadigmatischen Zeit.[20] Diese Phase, charakterisiert durch die Nicht-Existenz eines Paradigmas, ist für Kuhn jedoch kein Anlass dafür, dass jene Disziplin das Prädikat „wissenschaftlich“ nicht erhalten sollte. Kuhn will mit diesem Gedanken vielmehr deutlich machen, dass durch das Fehlen eines fehlenden anerkanntes Paradigmas innerhalb der Disziplin, der Freiraum, in dem der Wissenschaftler beispielsweise seine Experimente wählt, um seine Theorie zu begründen, zu groß ist und so mit den Theorieansätzen anderer Wissenschaftler konfligieren kann. In dieser Phase werden vielmehr wahllos Fakten gesammelt und es findet lediglich ein herumexperimentieren statt. Diesem wahllosen Sammeln von Fakten, sowie ein Herumexperimentieren wohnt der Moment der Willkür inne, da kein Richtmaß existiert, nach dem die daraus gewonnenen Daten interpretiert werden können. Ein Beispiel für solch einen großen Freiraum liefert Kuhn durch Darstellung der divergierenden Anschauungen zwischen den Forschern über Elektrizität - beispielsweise die Annahme, dass Elektrizität eine Flüssigkeit sei - in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein zweites Beispiel für das wahllose Faktensammeln und folglich die willkürliche Interpretation sieht Kuhn in den heterogenen Anschauungen über Wärme, Farbe, Wind, Bergbau, usw. bei Francis Bacon.[21]
Deshalb bedarf es theoretischer und methodischer Annahmen, damit die gesammelten Fakten geordnet und interpretiert werden können. Sofern diese Stufe erreicht ist und ebenfalls in Bezug auf sie innerhalb der betreffenden Wissenschaftsgemeinschaft Konsens herrscht, spricht Kuhn von Normalwissenschaft, bzw. reifer Wissenschaft. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber nicht, dass zum wissenschaftlichen Forschen grundsätzlich ein einheitliches Paradigma benötigt wird, lediglich der Reifegrad einer Wissenschaft kann hieran abgelesen werden.[22] An diesem Punkt sei erwähnt, dass durch diese Sezierung der einzelnen Phasen, die eine wissenschaftliche Disziplin durchlaufen kann, Kuhn ein Kriterium zur Abgrenzung von Pseudowissenschaften in seine Zyklustheorie eingebettet hat.[23]
b. Zur vorparadigmatischen Zeit der Volkswirtschaftslehre
Dieser Prozess von einer Protowissenschaft bzw. einer vorparadigmatischen Zeit zur Phase der Normalwissenschaft durch die Akzeptanz eines einheitlich anerkannten Paradigmas seitens der Wissenschaftsgemeinschaft, lässt sich für Kuhn auf die Naturwissenschaften, respektive die Physik, Chemie und Biologie anwenden. Doch lässt sich ein solch verlaufender Prozess auch innerhalb der Volkswirtschaftslehre finden? Existiert hier eine Phase, die als vorparadigmatische Zeit interpretiert werden kann?
Im Folgenden werden zwei Beispiele genannt, über die mit Sicherheit gesagt werden kann, dass sie einen vorparadigmatischen Charakter aufweisen. Gemeint sind die ökonomischen Theorien der Antike, sowie die des Mittelalters, namentlich der Scholastik. Die Entwicklung der ökonomischen Theorie bis zu einem „ersten“ Paradigma kennt neben diesen zwei Beispielen noch drei weitere, den Merkantilismus, den Kameralismus und die Physiokratie, die in der ökonomischen Theorie in dem Begriff der Vorklassik zusammengefasst werden.
Diese drei ökonomischen Denkschulen werden im Rahmen dieser Arbeit aus Platzgründen nicht abgehandelt, sondern lediglich die Antike und die Scholastik.
Zeitgenossen, die sich bereits in der Antike eingehender mit den „Gesetzmäßigkeiten“ wirtschaftlicher Sachverhalte beschäftigt haben, waren Hesiod, Platon oder Xenophanes. Letzterer gab in seiner Schrift Oikonomikos ein Idealbild für die Handlungen einer kleinbäuerlichen Familie vor, bspw. wie das Feld zu bestellen sei oder wie die Melioration des Bodens auszusehen hat.[24] Eine in sich geschlossene ökonomische Theorie beinhaltet dieses Werk jedoch noch nicht.
Ein erstes einheitliches ökonomisches Bild hat erst Aristoteles entworfen, das sich in den ersten beiden Büchern seiner Politik und dem fünften Buch seiner Nikomachischen Ethik finden lässt. Jedoch fand hier noch keine Analyse einer theoretischen Ökonomie statt, wie die Ökonomie heute als Wissenschaft aufgefasst wird. Vielmehr baut er sein ökonomisches Verständnis auf einem ethischen Fundament auf, dass somit, die Ökonomie, als eine Untergruppe dessen, was sich heute unter der Bezeichnung „Praktische Philosophie“ wiederfindet, verstanden werden kann. Deshalb richtet sich seine Aufmerksamkeit auf ökonomische Problemstellungen, die eigentlich der Ethik zuzuschreiben sind und von den heutigen Wirtschaftswissenschaften nicht mehr erforscht werden, wie bspw. die Charakteristik des gerechten Preises (iustum pretium). Seine verschiedenen Arten des Wirtschaftens, die oikonomiké und die chrematistiké, sind auf seine Tugendlehre ausgerichtet, die das richtige Maß für Wirtschaften ausloten soll.[25] Denn nach ihr versteht er das Wirtschaften als eine Verstandestugend, die ohne sittliche Tugend zur Untugend verkommt.[26] Innerhalb der Scholastik, hier genauer während des europäischen Mittelalters (dem lateinischfränkischen Kulturbereich)[27], lässt sich kein ökonomisches Paradigma finden, da seitens des frühchristlichen Denkens keine ökonomische Theorien bzw. ökonomisch wissenschaftlichen Lehrsätze entwickelt wurden, sondern vielmehr Ansichten über (ökonomische) Verbote und Gebote zur allgemeinen Lebensordnung.[28]
Beispiele hierfür sind Auffassungen über den Handel, den gerechten Preis oder einem allgemeinen Zinsverbot, das sich erstmals durch Thomas von Auqin lockerte und seit Antonin von Florenz (Spätscholastik) unter bestimmten Bedingungen ausser Kraft gesetzt werden durfte.[29]
Die Antike zeigt, weshalb gerade sie als vorparadigmatisch gilt. Sie ist das Musterbeispiel für etwas, was Kuhn unterschiedliche Denkschulen nennt, die lediglich, wenn auch nicht direkt, im Dialog miteinander stehen.[30] Folglich kann der Antike kein anerkanntes Paradigma zugeordnet werden, denn es mangelt an einer einheitlichen Basis. Jede Denkschule argumentiert aus sich selbst heraus und ist durch wahlloses Faktensammeln gekennzeichnet, die für ihre Position sprechen sollen. Somit bleibt der bereits genannte große Spielraum für die Interpretation, der den Moment der Willkür Einlass in die Ökonomie lässt.
Von einem „Herumexperimentieren“ im Fall der Ökonomie, bezogen auf die Antike, kann gar nicht die Rede sein. Dafür bedürfte es überhaupt einer wissenschaftlichen Methodik, als Zugang zu ihr, die zu jenem Zeitpunkt noch nicht „existierte“.[31] Neben dem mangelnden methodischen Zugang steht ebenfalls der normative und nicht deskriptive Charakter, der seitens der einzelnen Schulen innerhalb ihrer Theorien zum Vorschein kommt, einem einheitlichen Paradigma im Wege.
In Bezug auf die Scholastik könnte eine Beurteilung schwieriger ausfallen. Hier könnte spekuliert werden, dass eine einheitliche Theorie und folglich ein Paradigma in der Ökonomie existieren müsste, da immerhin das Bildungsmonopol seitens der katholischen Kirche einheitliche Grundlagen in Bezug auf Sprache (Latein) und Ausbildung gewährleistete. Mit anderen Worten, die wissenschaftliche Gemeinschaft, bestehend aus Mönchen, sollte auch eine einheitliche Auffassung über Ökonomie haben. Und die Übernahme der aristotelischen Ansichten, innerhalb dieser wissenschaftlichen Gemeinschaft, über den gerechten Preis oder das Zinsverbot in die Scholastik könnte jenes ein einheitliches Paradigma darstellen. Dem entgegen zu halten ist, dass von diesen aristotelischen Ansichten im Laufe der Zeit Abstand genommen wurde[32], was einen aktiven Diskurs über jene Ansichten vermuten lässt. Zudem fehlt in dieser Frühphase, ebenfalls wie in der Antike, noch eine systematische Methodik zur Erforschung der Ökonomie, die für das Kuhnsche Konzept elementare Bedeutung hat.
Zum Abschluss dieses Kapitel sei gesagt, dass sich in den zwei Perioden, die der Antike und des scholastischen Mittelalters kein ökonomisches Paradigma im Sinne von Kuhn finden lässt. Vielmehr kann vermutet werden, dass es sich bei beiden Perioden jeweils um einen vorparadigmatischen Zeitabschnitt handelt.
[...]
[1] Eine Diskussion um die Gegenpositionen von Kuhn findet in dieser Arbeit nicht statt.
[2] Innerhalb dieser Arbeit werden die Begriffe Volkswirtschaftslehre (VWL), Ökonomie, Wirtschaftswissenschaften und Nationalökonomie äquivalent genutzt. Zu keinem Zeitpunkt ist jedoch die Betriebswirtschaftslehre mit diesen Begriffen zu assoziieren.
[3] Vgl. Kuhn 1996, S. 15 und 20
[4] Vgl. Kluge 2002, S. 680
[5] Kuhn versteht ein Paradigma im herkömmlichen Sinne, als "accepted model" oder als "pattern" (Kuhn 1996, S. 23) und trifft damit der ursprünglichen Bedeutung "als Beispiel hinstellen".
[6] Vgl. Kuhn 1996, S. 174f
[7] Vgl. Masterman 1974, S. 61f
[8] Der Grund für die Vielzahl von missverstanden Interpretationen und dem dann für nötig befundenen nachgelieferten Postskript von 1969, findet sich möglicherweise indirekt in der SSR selbst. Kuhn weist schon im Preface daraufhin, dass sein niedergeschriebenes Konzept nicht als Buch, sondern als Essay zu verstehen ist, obwohl ihm ein Buch angemessener erscheint. Jedoch zwingt ihn die Restriktion seitens der Encyclopedia of United Science (vgl. Kuhn 1996, S. x) zu solch einem Format, sodass in dieser ihm aufgezwungenen Art und Weise der Grund für die Vielzahl an Missverständnissen liegen kann.
[9] Kuhn 1996, S. X
[10] Vgl. ebd. S. 175
[11] ebd.
[12] Im Original heißt es concrete puzzle-solutions (vgl. Kuhn 1996, S. 175)
[13] Vgl. Hoyningen-Huene 1989, S. 143
[14] Die Inventarisierung der Einzelkomponenten orientiert sich an Hoyningen-Huene 1989, S. 146 - 162; Jedoch spricht Hoyningen-Huene nicht von (2) Gemeinsame Verbindlichkeiten, sondern von Modellen. Im Original heißt es bei Kuhn shared commitments (Kuhn 1996, S. 184) und diesem Terminus wird gefolgt.
[15] Vgl. Hoyningen-Huene 1989, S. 134, 143
[16] Vgl. Kuhn 1996, S. 10
[17] Vgl. ebd., S. 23
[18] Vgl. ebd. S. 12
[19] ebd. S. 10
[20] Ab 1970 klassifiziert Kuhn diese Phase als Proto-Wissenschaften. Jedoch handelt es sich nicht um eine "erste Wissenschaft", wie das griechische. Wort πρώτος vermutet, sondern um eine Vorstufe zur reifen Wissenschaft, sodass jede reife Wissenschaft einst eine Proto-Wissenschaft war (Rose 2004, S. 151f).
[21] Vgl. Kuhn 1996, S. 16
[22] Vgl. ebd., S. 11
[23] Vgl. Rose 2004, S. 152
[24] Vgl. Ziegler 1998, S.62f
[25] Söllner 1999, S. 4
[26] Zur Ökonomie des Aristoteles (vgl. Bien 1990, S. 33 - 64)
[27] In Abgrenzung zum griechisch-byzantinischen Kulturbereich und dem islamisch-arabischen Kulturbereich
[28] Vgl. Ziegler 1998, S. 73f
[29] Vgl. ebd. S. 77f; vgl. Söllner 1999, S. 6ff
[30] Vgl. Kuhn 1996, S. 17
[31] In Anspielung auf die heutigen empirisch-quantitativen Forschungsmethoden der deskriptiven und induktiven
Stochastik, die innerhalb der Volkswirtschaftslehre angewendet wird.
[32] in Anspielung auf die Entwicklung von einem allgemeinen Zinsverbot zu einer Zinserlaubnis unter bestimmten Bedingungen.