Bildungsungleichheiten. Migrationshintergrund vs. Schulkarriere?
Zusammenfassung
Sind ausländische Kinder oder Kinder aus Migrantenfamilien nun Sorgenkinder, die nicht über die notwendigen Voraussetzungen oder den Willen verfügen, das deutsche System schulischer Bildung mit Erfolg zu durchlaufen oder handelt es sich bei ihnen um eine Bildungsreserve, welche zu nutzen die Institutionen des deutschen Schulsystems bislang nicht verstanden haben? Dieser Frage soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden. Dabei werde ich zuerst auf die prekäre Datenlage eingehen, danach Befunde und Erklärungsversuche darlegen und Lösungsansätze anbieten um am Schluss der Arbeit auf mögliche Zielorientierungen einzugehen, von denen ich mir wünsche, dass sie eher früher als später in der Bildungsforschung thematisiert werden.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Prolegomenon
2 Das Problem der Datenlage
3 Befunde
4 Erklärungsversuche
4.1 Die kulturell-defizitäre Erklärung
4.2 Die humankapitaltheoretische Erklärung
4.2.1 Bildungsnähe der Eltern
4.2.2 Haushaltseinkommen
4.2.3 Anzahl der Geschwister
4.3 Erklärung über schulische Kontexte
4.3.1 Schultyp
4.3.2 Unterrichtskontext (Zusammensetzung der Schülerschaft)
4.3.3 Institutionelle Diskriminierung
5 Lösungsansätze
5.1 De Profundis
5.2 Desiderata
5.2.1 Theorie der Bildungsgleichheit
5.2.2 Lehrerausbildung
6 Fazit und Ausblick
7 Literaturverzeichnis
1 Prolegomenon
In Deutschland leben heute, bedingt durch die historischen und politischen Entwicklungen der 1950er und 1960er Jahre, mittlerweile ca. 15,6 Mio. Personen mit Migrationshintergrund[1] (vgl. Statistisches Bundesamt, 2008). Aus bildungspolitischer Sicht ist dabei insbesondere der Anteil der jüngeren Bevölkerung mit Migrationshintergrund von Interesse, denn es zeigt sich, dass in Deutschland jedes dritte Kind unter sechs Jahren einen solchen aufweist (32,5 %) und bei der Gruppe der unter 25-Jährigen der Anteil bei 27,2 % liegt (vgl. ebd.). Lag der Anteil der ausländischen Schüler an allgemeinbildenden Schulen Mitte der1960er Jahre noch bei lediglich 0,5% aller Schüler, so ist er inzwischen auf ca. 10% angewachsen. Damit werden sowohl die Bildungsbeteiligung als auch der Bildungserfolg der ausländischen Schüler[2] zu gesellschaftlich relevanten Themenbereichen, denn es kristallisierte sich schon ziemlich früh heraus, dass trotz einer Vielzahl an (sogenannten) ausländerpädagogischenMaßnahmen, Nachteile für Kinder mit Migrationshintergrund im Verhältnis zu deutschenKindern beim erfolgreichen Durchlaufen des Schulsystems bestehen.
Sind ausländische Kinder oder Kinder aus Migrantenfamilien nun Sorgenkinder, die nicht über die notwendigen Voraussetzungen oder den Willen verfügen, das deutsche System schulischer Bildung mit Erfolg zu durchlaufen oder handelt es sich bei ihnen um eine Bildungsreserve, welche zu nutzen die Institutionen des deutschen Schulsystems bislang nicht verstanden haben? Dieser Frage soll im Rahmen der vorliegenden Hausarbeit nachgegangen werden. Dabei werde ich zuerst auf die prekäre Datenlage eingehen, danach Befunde und Erklärungsversuche darlegen und Lösungsansätze anbieten um am Schluss der Arbeit auf mögliche Zielorientierungen einzugehen, von denen ich mir wünsche, dass sie eher früher als später in der Bildungsforschung thematisiert werden.
2 Das Problem der Datenlage
Bildungsstatistiken unterscheiden in der Regel nur zwischen deutschen und ausländischen Schülern. In Deutschland geborene und sozialisierte Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit, wie z.B. Aussiedler, werden nicht unterschieden, obwohl schon der Bildungsbericht 2006 eine Differenzierung einführt: „Personen mit Migrationshintergrund sind jene, die selbst oder deren Eltern oder Großeltern nach Deutschland zugewandert sind, ungeachtet ihrer gegenwärtigen Staatsangehörigkeit“(Bildungsbericht 2006, VIII). Betroffen sind also nicht nur zugewanderte und in Deutschland geborene Ausländer, sondern auch Spätaussiedler und Eingebürgerte mit persönlicher Migrationserfahrung sowie deren Kinder, die selbst keine unmittelbare Migrationserfahrung aufweisen.
Da die meisten Datenquellen allerdings zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Aufgliederung nach diesem Konzept gestatten, sollten abweichende Operationalisierungen an den entsprechenden Stellen erläutert werden. Das ist offensichtlich selten der Fall. So bemerkt Diefenbach:
Der einzige mir bekannte Individualdatensatz, der sowohl die ethnische Abstammung von Personen als auch deren Staatsangehörigkeit(en) und gegebenenfalls ihre Wandlungsbiografie erfasst und daher geeignet ist, zu prüfen, welche Effekte die ethnische Abstammung oder die Staatsangehörigkeit auf die schulische und berufliche Bildung haben, ist der Integrationssurvey des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) aus dem Jahr 2000(Diefenbach 2007a, 220).
Zu kritisieren ist aber ebenso ein Differenzierungsdefizit bezüglich der ethnisch und kulturell bedingten Sozialisationsaspekte des Migrationshintergrundes. So wäre es bildungspolitisch durchaus relevant ob z.B. die Gründe bei einem Bildungsmisserfolg in der Orientierung an kulturspezifischen Männlichkeitsnormen (bei z.B. türkischem Hintergrund) oder bei sprachlichen Schwächen[3] zu suchen sind.
Trotz dieser problematischen Datenlage stellt die Forschung wiederholt eine Vielzahl von Nachteilen fest, denen Migrantenkinder, sowohl im vorschulischen als auch im primar- und sekundarschulischen Bereich, ausgesetzt sind.
3 Befunde
Eine Liste der wichtigsten Befunde findet sich bei Diefenbach (vgl. Diefenbach 2007a, 221 f.). Ihr ist zu entnehmen, dass Migrantenkinder gegenüber deutschen Kindern weniger vorschulische Betreuung erfahren und deutlich häufiger als diese von der Einschulung zurückgestellt werden. Im Zuge dieser negativen vorschulischen Erfahrungen ist es nicht verwunderlich, dass Migrantenkinder deutlich häufiger eine Grundschulempfehlung für die Hauptschule und deutlich seltener eine Grundschulempfehlung für die Realschule oder das Gymnasium bekommen als deutsche Kinder und dann auch tatsächlich von der Grundschule deutlich häufiger als deutsche Kinder in eine Hauptschule übertreten und deutlich seltener in eine Realschule oder ein Gymnasium. Ein Grund dafür ist sicher auch die Tatsache, dass sich deutsche Eltern deutlich häufiger als Migranteneltern über eine negative Grundschulempfehlung hinwegsetzen. Hier spielt offensichtlich die Unsicherheit bezüglich institutioneller und gesellschaftlicher Verhältnisse eine große Rolle (siehe auch meine Ausführungen zur kulturell-defizitären Erklärung in 4.1).
Innerhalb ihrer weiteren Schulkarriere entwickeln Migrantenkinder dann eine deutlich geringere Lesekompetenz als deutsche Kinder, auch wenn sie in Deutschland geboren wurden oder im Ausland geboren wurden, aber ihre gesamte Schullaufbahn in Deutschland durchlaufen haben und bleiben deutlich häufiger ohne einen Hauptschulabschluss. Der prozentuale Anteil von Migrantenkindern, die ohne Hauptschulabschluss bleiben, entspricht dabei dem prozentualen Anteil von deutschen Kindern, die einen Hauptschulabschluss erwerben, nämlich 20%. Auch bei den Schulabschlüssen verschiebt sich das Gleichgewicht. So erwerben sie deutlich häufiger als deutsche Kinder einen Hauptschulabschluss und seltener einen Realschulabschluss oder eine Fach- bzw. Hochschulreife. Dabei gibt es zwar bei den höherwertigen Abschlüssen im Zeitverlauf eine positivere Bilanz[4], der Anteil der Migrantenkinder, der ohne Hauptschulabschluss bleibt, liegt jedoch stabil bei 20 Prozent. Außerdem wiederholen Migrantenkinder Klassen deutlich häufiger als deutsche Kinder und besuchen doppelt so häufig Sonderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen.
Bezüglich der genderorientierten Schulentwicklungsforschung ergeben sich im Trend keine Unterschiede[5] zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund, wenn man einmal davon absieht, dass Jungen mit Migrationshintergrund jetzt natürlich zweifach benachteiligt sind. Bei Migrantenkindern ebenso wie bei deutschen Kindern besuchen nämlich Jungen häufiger als Mädchen Hauptschulen und Mädchen erwerben häufiger höherwertige Schulabschlüsse als Jungen und bleiben seltener ohne Hauptschulabschluss.
4 Erklärungsversuche
4.1 Die kulturell-defizitäre Erklärung
Diese Erklärung beschreibt Defizite aufgrund kulturellen Erbes hinsichtlich der „‘Normalausstattung’ an Verhaltensweisen, Kenntnissen und Fähigkeiten“(Gogolin in Diefenbach 2007b, 223), die ein Kind oder ein Jugendlicher eines bestimmten Entwicklungsstandes in die Institutionen der Bildung und Erziehung mitbringt. Diese Defizite nähren sich zum einen aus der vormodernen Gesellschaftsstruktur des Migrationshintergrundes und zum anderen aus der Unkenntnis der bundesdeutschen institutionellen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Konstruktivistisch ausgedrückt ist das, oft mehrere Generationen überdauernde, Verharren in einem kulturellen ‘Anders-Sein’ ein Resultat mangelnder Viabilität, d.h. Passung des eigenen Realitätskonstruktes. Da aber für ein erfolgreiches Durchlaufen der Bildungsinstitutionen eine Vereinbarkeit mit den bestehenden Normen, Werten und Einstellungen notwendig ist, garantiert dieses Verharren, bzw. die Non-Viabilität, die Unvereinbarkeit und damit das Scheitern. So haben z.B. viele türkische Migranten eine traditionelle Haltung dem Lernen und der Schule gegenüber, welche autoritativ-sachgebunden ist und der modernen instrumentell-individualistischen gegenübersteht. D.h. aber auch, dass z.B. der Verzicht auf Auswendiglernen und absoluter Autorität des Lehrers zu Gunsten eines handlungsorientierten und schülerzentrierten Unterrichts bei den Migranteneltern Skepsis und Misstrauen erzeugt (vgl. Leenen in Diefenbach 2007a, 228). Da die Schule aber bei der Verteilung von Qualifikationen und Berechtigungen eine Monopolstellung hat, besteht zwischen Schule und Familie ein Kompetenz- und Machtgefälle, das sich über kurz oder lang in den Beziehungen zwischen Lehrer, Eltern und Kindern auswirkt. Die daraus entstehende Diskrepanz bedeutet für den Schüler eine enorme psychische Belastung, denn er kann hier nur entweder die ablehnende Einstellung der Eltern zur Schule reproduzieren und damit den schulischen Konflikt vorprogrammieren oder er muss sich unter Austragung eines Kultur- und Generationenkonfliktes selbst platzieren[6].Diese individuelle Modernisierung (im Sinne eines sozialen Wandels) im Zuge eines Akkulturationsprozesses ist natürlich mit sehr viel Energieaufwand verbunden und genau daran scheitert die Mehrzahl der Migrantenkinder. Erwähnt sei an dieser Stelle, dass bildungserfolgreiche Schüler mit Migrationshintergrund oft einen dritten Weg gehen, indem sie beide Kulturen synthetisieren und so eine bikulturelle Identität erlangen. Dieser Weg wird aber offenbar nur von einer Minderheit beschritten (s. Badawia 2002).
[...]
[1] Leider spielt die Staatsangehörigkeit als Indikator für den Migrationshintergrund einer Person nach wie vor eine bedeutende Rolle. Dementsprechend wird in Statistiken mal von Personen mit Migrationshintergrund, an anderer Stelle hingegen von Ausländern gesprochen. Auf dieses Problem wird separat im nächsten Kapitel eingegangen.
[2] Der Einfachheit halber wird in dieser Arbeit Gebrauch vom generischen Maskulinum gemacht.
[3] Zweifelsohne stellen sprachliche Schwächen ein erhebliches Hindernis dar. Der überwiegende Teil der Kinder mit Migrationshintergrund wurde aber bereits in Deutschland eingeschult. Das Problem der Sprachbarriere bleibt deshalb in dieser Arbeit unbenannt.
[4] Wobei zwischen den westdeutschen Bundesländern große Unterschiede hinsichtlich der Sekundarschulabschlüsse, die Migrantenkinder erreichen bestehen. So erzielen z.B. Migrantenkinder in Nordrhein-Westfalen, Bremen und Hamburg am häufigsten höherwertige Abschlüsse und am seltensten in Bayern, Rheinland-Pfalz, im Saarland, in Baden-Württemberg und in Schleswig-Holstein. Diesbezüglichregionale Besonderheiten auf Länderebene zu untersuchen soll jedoch nicht Teil dieser Arbeit sein.
[5] Herwartz-Emden differenziert allerdings diesbezüglich: „Zwar wiederholen Jungen – ähnlich wie in der Gruppe der Kinder ohne Migrationshintergrund – häufiger, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind jedoch bei den Migranten nicht annähernd so ausgeprägt. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Schulversagen sind bei Kindern mit Migrationshintergrund damit deutlich geringer als bei Kindern ohne Migrationshintergrund“ (Herwartz-Emden 2007, 16).
[6] Selbstplatzierung bedeutet, „dass diese Gruppe [der schulerfolgreichen Jugendlichen] einen großen Bereich familiärer Platzierungsleistungen selbst übernehmen muss: die Vertretung ihrer Interessen gegenüber schulischen Instanzen, die Konkretisierung allgemeiner Berufs- und Bildungsziele und ihre Übersetzung in Entscheidungen hinsichtlich Schulformen und -laufbahnen” (Leenen et al. 1990, 762).