Die Sprache des Raumes nutzen – über den Beitrag aktionistischer Methoden im Kontext systemischer Beratung am Beispiel der Familienaufstellung
Zusammenfassung
Wer schon einmal mit der Aufstellungsarbeit im Rahmen systemischer Familienberatung und –Therapie in Berührung gekommen ist, sei es lediglich über Erzählungen, oder aber vielleicht schon selbst als Teilnehmer oder Anleiter Erfahrungen mit Familienaufstellungen sammeln konnte, wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit schnell eine eindeutige Meinung zu diesem Vorgehen gebildet haben. Fakt ist, dass diese Methode wie scheinbar keine andere die Gemüter zu spalten versteht –so löst ihr Einsatz bei ihren ´Anhängern` eine immense Faszination, auf seiten ihrer Kritiker zugleich scharfe Abwehr aus. Eine derartige Polarisierung ist dabei sicher nicht zuletzt auf diejenigen Personen zurückzuführen, die diese Methode begründet und verbreitet bzw. zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Allen voran ist dabei wohl der Name Bert Hellingers als dem Begründer dieser Methode zu nennen, welche ihre heutige Popularität zu einem guten Teil auch den für Hellinger charakteristischen publikumswirksamen Durchführungen von Familienaufstellungen im Rahmen von Großveranstaltungen ´verdankt`. Doch auch wenn die Arbeit mit Familienaufstellungen oft automatisch mit dem Namen Hellingers und seiner speziellen Vorgehensweise assoziiert wird, kann es doch von Nutzen sein, auch einmal einen Blick hinter ihre popularisierte Fassade zu wagen. Wer dies tut, wird erkennen können, dass die Arbeit mit Familienaufstellungen durchaus viele Möglichkeiten in sich birgt, vorausgesetzt, dass ihr Einsatz eine entsprechende Rahmung im therapeutischen Prozess findet.
Vor diesem Hintergrund möchte ich mich in dieser Arbeit genauer mit der Familienaufstellung als einer aktionsorientierten Methode systemischer Familientherapie und -beratung auseinandersetzen und dabei neben den ernstzunehmenden kritischen Stimmen auch die Chancen und Möglichkeiten und damit den Beitrag erörtern, den diese Methode im Rahmen systemischer Familienberatung und –Therapie leisten kann.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriffserläuterungen und inhaltliche Verortung
2.1 Familie heute
2.2 Systemische Beratung und Therapie
3 Familie – systemisch betrachtet: Systemische Familienberatung und – Therapie
3.1 Die Familie als ´Gegenstand` systemischer Beratung und Therapie
3.1.1 Die Familie als ein System von (Sub-)Systemen
3.1.2 Das therapeutische System
4 Einsatz aktionsorientierter Methoden
4.1 Die Bedeutung des Raumes
4.2 Die Familienaufstellung
4.2.1 Vorgehensweise
4.2.2.1 Erste Phase: Das Stellen
4.2.1.2 Zweite Phase: Die Prozessarbeit
4.2.2 Beitrag / Möglichkeiten
4.2.2.1 Arbeit mit Stellvertretersystemen
4.2.2.2 Veränderung persönlicher Stellungnahmen
4.2.2.3 Aktionsorientierung
4.2.2.4. Sichtbarmachung systemischer Strukturen
4.2.2.5 Multiperspektivität der Gruppe
4.2.2.6. Realisierung des Mehrpersonenansatzes mit dem Einzelnen
4.2.3 Grenzen
5 Fazit
6 Literaturverzeichnis
7 Internetquellen
1 Einleitung
Wer schon einmal mit der Aufstellungsarbeit im Rahmen systemischer Familienberatung und –Therapie in Berührung gekommen ist, sei es lediglich über Erzählungen, oder aber vielleicht schon selbst als Teilnehmer oder Anleiter Erfahrungen mit Familienaufstellungen sammeln konnte, wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit schnell eine eindeutige Meinung zu diesem Vorgehen gebildet haben. Fakt ist, dass diese Methode wie scheinbar keine andere die Gemüter zu spalten versteht –so löst ihr Einsatz bei ihren ´Anhängern` eine immense Faszination, auf seiten ihrer Kritiker zugleich scharfe Abwehr aus. Eine derartige Polarisierung ist dabei sicher nicht zuletzt auf diejenigen Personen zurückzuführen, die diese Methode begründet und verbreitet bzw. zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Allen voran ist dabei wohl der Name Bert Hellingers als dem Begründer dieser Methode zu nennen, welche ihre heutige Popularität zu einem guten Teil auch den für Hellinger charakteristischen publikumswirksamen Durchführungen von Familienaufstellungen im Rahmen von Großveranstaltungen ´verdankt`. Doch auch wenn die Arbeit mit Familienaufstellungen oft automatisch mit dem Namen Hellingers und seiner speziellen Vorgehensweise assoziiert wird, kann es doch von Nutzen sein, auch einmal einen Blick hinter ihre popularisierte Fassade zu wagen. Wer dies tut, wird erkennen können, dass die Arbeit mit Familienaufstellungen durchaus viele Möglichkeiten in sich birgt, vorausgesetzt, dass ihr Einsatz eine entsprechende Rahmung im therapeutischen Prozess findet.
Vor diesem Hintergrund möchte ich mich in dieser Arbeit genauer mit der Familienaufstellung als einer aktionsorientierten Methode systemischer Familientherapie und -beratung auseinandersetzen und dabei neben den ernstzunehmenden kritischen Stimmen auch die Chancen und Möglichkeiten und damit den Beitrag erörtern, den diese Methode im Rahmen systemischer Familienberatung und –Therapie leisten kann. Dazu sollen im zweiten Kapitel zunächst die zum grundlegenden Verständnis relevanten Begriffe erläutert und in ihren aktuellen inhaltlichen Kontext eingebettet werden. Im dritten Kapitel findet dann mit dem Fokus auf die systemische Familienberatung und -Therapie eine Zusammenführung der zuvor erläuterten Begriffe statt, wobei insbesondere die systemische Sichtweise auf Familie als ´Gegenstand` systemischer Beratung und -Therapie näher betrachtet werden soll. Das vierte Kapitel wird sich dann zunächst grundsätzlich mit der Bedeutung des Einsatzes aktionsorientierter Methoden im Rahmen systemischer Beratung und -Therapie auseinandersetzen, bevor dann genauer auf die Arbeit mit Familienaufstellungen und ihren Beitrag für die systemische Beratungspraxis eingegangen werden soll, indem sowohl die Chancen und Möglichkeiten, aber auch die Grenzen und Risiken, die ihr Einsatz birgt, erörtert werden. Im fünften und letzten Kapitel folgt dann ein abschließendes Fazit.
Zur Vereinfachung der Lesbarkeit habe ich im Folgenden zur Bezeichnung von Personengruppen die männliche Form gewählt, gemeint sind aber immer ausdrücklich beide Geschlechter.
2 Begriffserläuterungen und inhaltliche Verortung
2.1 Familie heute
“Menschen, die heute Familie leben wollen, stehen vor enormen Herausforderungen. Jenseits von Idealisierung erweist sich die Familie als eine zwiespältige Angelegenheit.”[1]
In Anbetracht gegenwärtiger Trends wie „steigende Scheidungszahlen und die Zunahme von Alleinerziehenden, sinkende Kinderzahlen und die Zunahme von Alleinlebenden”[2] fällt es wahrlich schwer, Aussagen wie dieser Jan Bleckwedel s Lügen zu strafen. Eine ähnliche Auffassung zum Thema Familie scheint auch Oliver König zu teilen, welcher den gegenwärtigen öffentlichen Diskurs über Familie als Indiz für deren Krise wertet:
“Je mehr [...] über Familie geredet wird, umso mehr ist anzunehmen, dass sie für die, die über sie reden, zum Problem geworden ist. Für den modernen Diskus über Familie seit Anfang des letzten Jahrhunderts ist dies allenthalben der Fall, denn er ist vor allem ein Reden über die Krise der Familie und ihre Überwindung.”[3]
Dass bislang tradierte Formen und Vorstellungen von Familie westlicher Industriegesellschaften mit Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend brüchig werden, ist kaum von der Hand zu weisen; als Folge gebe es solche “Familienkonstellationen, die von der ´Normalfamilie` abweichen”[4] (wie z.B. Alleinerziehende, Patchworkfamilien etc.) König zufolge “faktisch-empirisch [...] immer häufiger”[5]. Eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen einer solchen Entwicklung ist sicher in den umfassenden Auswirkungen gegenwärtiger gesellschaftlich-struktureller Modernisierungsprozesse zu sehen. Diese Prozesse der zunehmenden Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen und –formen gehen mit dem Dahinschwinden ehemals fester, traditioneller Strukturen und damit verbundener Sicherheiten einher und machen auch vor der Institution Familie nicht Halt. Als Folge unterliegen die
“[...] allgemeinen Bilder von Familie und Gemeinschaft, von Arbeit und Privatem, von Geschlecht und Arbeitsteilung, von den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, von Partnerbeziehungen, Sexualität, Liebe, Intimität und Öffentlichkeit [...] einem beschleunigten Wandel. Dieser Wandel erzeugt Brüche und Risiken, eröffnet aber auch Möglichkeiten und Chancen. In jedem Fall steigt die Herausforderung, die Vielfalt familiärer Entwürfe mit den tradierten Bildern von Familie in Einklang zu bringen.”[6]
Die Entwicklung in Richtung einer solchen Vereinbarkeit traditioneller Vorstellungen von Familie mit den gegenwärtig immer häufiger auftretenden alternativen Familienformen scheint jedoch nach Meinung Königs noch einiger Zeit zu bedürfen; für ihn stellt “die Pluralisierung von familiären Beziehungen [...] zwar ein empirisches Faktum”[7] dar, diese sei bislang jedoch keineswegs von einer “entsprechenden Pluralisierung von normativen Vorstellungen und Modellen”[8] begleitet. In dieser (zumindest momentan noch) überwiegenden Orientierung an eher traditionellen Werten und Vorstellungen von Familie liege vielleicht auch der angesichts aktueller Trends als “paradox und [...] fast wie ein Wunder”[9] anmutende ungebrochene Wunsch nach Familie begründet, welcher nach König“sogar noch zugenommen zu haben scheint”[10]. So werde Familie zwar einerseits als „Ort der Krise“[11] wahrgenommen, andererseits stehe sie gleichwohl für deren Überwindung und Lösung. Aus diesem Gegensatz speise sich die heute mit Familie einhergehende „ambivalente Spannung“[12]. Dabei reduziere die gegenwärtige Tendenz zunehmender Enttraditionalisierung auch „[…] keineswegs die Wichtigkeit solcher kultureller Phänomene und Institutionen wie Ehe und Familie, im Gegenteil erfahren sie dadurch eine Steigerung, da sie uns nun als gestalterische Aufgaben entgegentreten“[13].
Als Anspruch und zugleich Forderung des Lebens im 21. Jahrhundert tritt somit die Gestaltung des eigenen Selbst, des eigenen Schicksals an den einzelnen heran. Darin ist auch der große Unterschied zu vorherigen Generationen zu sehen, welche „noch mehr eingebunden waren in die Selbstverständlichkeiten eines stärker vorbestimmten Lebensvollzuges“[14]. Die individuellen Lebenswege heute reiben sich dagegen an dem „Problem, in dieser Spannung von individuellen Wünschen und Zielen sowie von familiären Loyalitäten, Bindungen und Aufträgen den richtigen Ausgleich zu finden“. Nichtsdestotrotz könne es angesichts der die heutige Zeit charakterisierende allgegenwärtige Gefahr des Scheiterns nach Auffassung König s „[…] nicht darum gehen, für neue Eindeutigkeiten zu plädieren, die sich ohnehin selber aufheben würden. Denn es ist eben das Charakteristikum unserer Zeit, dass wir mit dieser Vielfalt konfrontiert sind, die uns nicht nur als Zumutung, sondern auch als zu entdeckende Möglichkeit entgegentritt.“[15]
2.2 Systemische Beratung und Therapie
“Kennzeichnend [für eine systemische Denkweise] ist das kontextuelle Verstehen von Problemen, die nicht aus einer innerseelischen Dynamik heraus begriffen, sondern als Phänomene spezifischer Wechselwirkungen und Rückkopplungsprozesse in komplexen sozialen Systemen betrachtet werden.”[16]
Während sich Vorläufer einer systemtheoretisch fundierten Praxis bereits seit Beginn des letzten Jahrhunderts „vor allem in den Bereichen Biologie und Technik“[17] finden lassen, sind innerhalb der letzten Jahrzehnte insbesondere „Pädagogik und Erziehung, Psychotherapie (insbesondere Familientherapie) sowie Organisationsberatung“[18] als die „drei prominente[n] Bereiche“[19] aufzuführen, in denen systemisch-konstruktivistische Theorien Anwendung finden. Als federführend für diese Entwicklung sind insbesondere die sogenannte Palo-Alto Schule des Mental Research Institute um Paul Watzlawick, in Europa hauptsächlich die Mailänder Schule um Mara Selvini Palazzoli sowie in Deutschland speziell die Gruppe um Helm Stierlin und später auch Fritz B. Simon in Heidelberg zu nennen.[20] Die durch eine zunehmende Verbreitung systemischer Sichtweisen angestoßene Loslösung vom damals dominierenden „behavioristischen Paradigma[21] “ hatte dabei zur Folge, dass in der therapeutischen wie beraterischen[22] Praxis vermehrt mit Familien bzw. Gruppen statt mit Einzelpersonen gearbeitet wurde, womit ein Perspektivwechsel „von intrapsychischen Dynamiken hin zu interaktionellen Prozessen“[23] angestoßen war.
Wie schon das eingangs formulierte Zitat andeutet, betrachtet eine systemische Sichtweise den Menschen vor dem Hintergrund seiner Interaktionen, Gegenstand systemischer Beratung und Therapie sind somit die „Erlebniswelten von Menschen in ihren sozialen Bezügen“[24]. Bei der Betrachtung lebender Systeme nimmt die moderne Systemtheorie dabei eine Unterscheidung in biologische, psychische und soziale Systeme vor, wobei alle diese drei Systemebenen im Menschen repräsentiert sind. Jedes dieser drei Systemelemente vollzieht dabei seine eigene Arbeits- und Operationsweise, was sie als „strukturdeterminiert und autonom“[25] charakterisiert, gleichzeitig kann jedoch keines ohne die jeweils anderen existieren. Somit stellen die Elemente eines Systems Umwelten füreinander dar, die „in einem Wechselwirkungsverhältnis miteinander verbunden“[26] sind, wobei aber keines die Auswirkungen in den jeweils anderen festlegen kann. So sind es die „vorhandenen internen Systemstrukturen, die bestimmen, welche Auswirkungen Irritationen haben und welche nicht“[27], womit die von Maturana und Varela konzipierte Theorie der Autopoiese formuliert ist. Ausgehend von diesem systemtheoretischen Grundgedanken kann eine Verarbeitung der jeweiligen Umwelt „ausschließlich auf der Grundlage der eigenen inneren Struktur“[28] stattfinden, was bedeutet, dass „lebende Systeme […] keinen direkten Zugang zu ihrer Umwelt“[29] haben und somit auch nicht in der Lage sind, „´objektiv richtige[..]` Schlüsse“[30] bezüglich dieser ziehen zu können. Konsequenterweise muss menschliche Wahrnehmung immer subjektiv sein. Gemäß dieser konstruktivistischen Sichtweise geht auch die Systemtheorie davon aus, dass ´Wirklichkeit` notwendigerweise ein (soziales) Konstrukt sein muss, dass in und durch Interaktion mit anderen, also sozial konstruiert wird. Der Mensch stellt seine persönliche Wirklichkeit also selbst aktiv her, indem er seinen Erfahrungen und Bedeutungen zuschreibt und diese dann mit den Bedeutungszuschreibungen seiner Interaktionspartner abgleicht – Wirklichkeit ist somit aus systemischer wie konstruktivistischer Sicht immer „subjektiv geformt und sozial konstruiert“[31].
An diesem Punkt der (sozialen) Konstruiertheit subjektiver Wirklichkeiten setzt nun systemische Therapie und Beratung an. Ausgangspunkt ist hier immer wieder die Frage, „[…] wie individuelle und kollektive Wahrheiten entstehen, wie sie sich entwickeln, wie sie sich durchsetzen, wie sie vergehen und durch andere Wahrheiten ersetzt werden“[32]. Im jeweiligen Fall wird sich hier also „mit den Relationen, mit dem Wechselspiel und den Wandlungen unterschiedlicher Wahrheiten“[33] auseinandergesetzt. Im Bewusstsein über die Relativität menschlicher Erkenntnis verzichtet systemische Beratung somit auch in aller Regel auf „Festlegungen im Sinne von Deutungen und Interpretationen“[34] ; stattdessen soll den Klienten mittels verschiedener Anregungen dazu verholfen werden, „ihr Symptom und ihre Probleme in einen neuen Sinn gebenden Zusammenhang zu stellen“[35]. Um eine solche Um- bzw. Neustrukturierung von Wirklichkeitsauffassungen der Klienten überhaupt ermöglichen zu können, ist es für den systemischen Berater unbedingte Voraussetzung, sich einen Zugang zu diesen Wirklichkeitsbeschreibungen zu verschaffen. Dies kann mit Hilfe verschiedener systemischer Methoden und Techniken geschehen, wobei diese Techniken nicht nur als Hilfsmittel zur Erkundung des betreffenden Systems, sondern zugleich auch schon als erste Interventionen wirken können.
Systemische Beratung betrachtet eingespielte Interaktions- und Handlungsabläufe aus einer zirkulären Perspektive („´Kybernetik 2. Ordnung`“[36]), welche für das Verstehen und Beschreiben komplexer Muster und Regeln, wie sie für psychische und soziale Systeme gelten, angemessener scheint als etwa die Anwendung eines linearen, kausalen Ursache-Wirkungs-Prinzips. Gemäß einer solchen zirkulären Sichtweise bedingen sich die jeweiligen (Re-)Aktionen von Interaktionspartnern gegenseitig und bringen einander auf diese Weise in einer Art Kreislauf immer wieder neu hervor. Im Sinne einer „Veränderung zweiter Ordnung“[37] zielt systemische Beratung und Therapie auf eine „umfassende Systemänderung, welche das Gesamtsystem erfasst und verändert“[38], wobei die betroffene Gruppe wieder zu einer „selbstständigen Bewältigung ihrer Interaktionsschwierigkeiten“[39] befähigt werden soll.
3 Familie - systemisch betrachtet: Systemische Familienberatung und - Therapie
“In Therapien mit Familien [...] kommt es [...] darauf an, einen Raum zu schaffen, der jenseits von Idealisierung und Entwertung liegt, ein Raum, in dem sich Familien als konkrete Lebensgemeinschaften zeigen können […]. Familie, das ist ein Kammerspiel, in dem alle Rollen – Vater, Mutter, Kind – sowieso ungenügend und fehlerhaft besetzt sind. Wenn man das erst einmal akzeptiert hat, kann man sich ungeniert den praktischen Aufgaben zuwenden und an Lösungen für die Praxis arbeiten.“[40]
Ihren Anfang nahm die Konzipierung und Entwicklung von Familientherapie in den frühen 50er Jahren sowohl in den USA als auch in Großbritannien. Als neues Paradigma verbreitete die systemische Familientherapie „in Deutschland die Freude zum Experimentieren und brachte Bewegung in die deutsche Therapielandschaft“[41], sodass systemisches Denken sich fortschreitend verbreitete. Dabei verschob sich die Betonung vom Betrachten und Behandeln von Symptomen als Ausdruck des inneren Konflikts eines einzelnen darauf, Probleme so zu betrachten, als hätten sie die „[…] systemische Aufgabe, Beziehungsmuster, deren Teil der einzelne ist, im Gleichgewicht zu halten oder aus dem Gleichgewicht zu bringen“[42]. Gemäß der im vorigen Kapitel umschriebenen Grundprinzipien Systemischer Beratung und Therapie betrachtet systemische Familientherapie Probleme „[…] innerhalb des Beziehungssystems, in dem sie auftreten, und hilft, Veränderung durch Intervention im weiteren Sinne anstatt nur beim einzelnen zu fördern“[43]. Entsprechend dieser Prämisse schien es in den Anfängen familientherapeutischer Praxis nur konsequent, die Arbeit mit der ganzen Familie anzustreben: „Die verbindende Idee bestand darin, mehrere Personen, wenn es ging ganze Familien, in den Therapieraum einzuladen […].“ Im Gegensatz dazu werden heute vermehrt Stimmen, unter ihnen auch die Bleckwedels laut, dass „gemeinsame Treffen […] kein Dogma sein (sollten), wie in den Anfängen der Familientherapie“[44]. So komme die ganze Familie in der heutigen familientherapeutischen Praxis tatsächlich selten vor und darüber hinaus erweise es sich Bleckwedel zufolge auch in vielen Fällen als „[…] durchaus sinnvoll, mit der theoretischen Perspektive auf das Ganze in der Praxis Grenzen zu ziehen und mit Teilsystemen zu arbeiten“[45].
3.1 Die Familie als ´Gegenstand` systemischer Beratung und Therapie
„Familie ist der ganz konkrete Ort, in den wir hineingeboren werden und von dem aus wir uns die Welt aneignen. Unser Blick auf Beziehungen und unsere emotionale Welt, unsere Wahrnehmungen und Erklärungen, unsere Wünsche und Werte nehmen hier ihren Anfang. So weit wir uns auch auf unserem weiteren Lebensweg von diesem Ausgangspunkt wegbewegen werden, so bleibt er doch als Bezugspunkt erhalten.“[46]
Mit Rückgriff auf den Systembegriff lässt sich das System Familie als ein “[...] Sozialgebilde bezeichnen, ´deren soziale Einheiten zueinander in einer interdependenten Beziehung stehen, welche sich nach außen gegenüber ihrer Umwelt abgrenzen lassen. Die Merkmale von Interdependenzen und Grenzziehungen sind im Falle von der Familie konstitutiv`”[47]. Mit Interdependenz ist dabei die “wechselseitige Abhängigkeit der Systemmitglieder in ihrem Denken, Fühlen und Handeln”[48] gemeint, d.h. Veränderungen bei einem Mitglied des Systems lösen gleichwohl Veränderungen bei einem oder auch allen anderen Mitgliedern des Systems aus. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen somit nicht etwa “[...] individuelle ´Charaktereigenschaften` einzelner Systemmitglieder […], sondern Wechselwirkungen zwischen den Mitgliedern“[49]. Mit der Abgrenzung von der Umwelt als zweitem Systemmerkmal ist die „definitorische Aufgabe“[50] der Bestimmung der Systemzugehörigkeit gemeint. Dabei sieht sich das System Familie heute mit zunehmend komplexen Herausforderungen konfrontiert, die von gesellschaftlicher Seite an sie herangetragen werden (vgl. Kap. 2.1). So muss sich Familie zur Sicherung ihres Fortbestehens immer wieder anderen Forderungen anpassen, welche
„[…] einerseits im Gefolge der verschiedenen Phasen ihres Entwicklungszyklus an sie herantreten und andererseits von der Gesellschaft insgesamt erhoben werden. Die Familie muss diese Anpassung leisten, um ihren Mitgliedern sowohl Kontinuität als auch die Gelegenheit zum psychosozialen Wachstum zu bieten.“[51]
[...]
[1] S. Bleckwedel 2009, S. 90.
[2] S. König 2006, S. 22.
[3] S. Ebd.
[4] S. Ebd., S. 53.
[5] S. Ebd.
[6] S. Bleckwedel 2009, S. 64.
[7] S. König 2006, S. 49.
[8] S. Ebd.
[9] S. Ebd., S. 22.
[10] S. Ebd.
[11] S. Ebd.
[12] S. Ebd.
[13] S. Ebd., S. 42.
[14] S. Ebd., S. 49.
[15] S. Ebd., S. 44.
[16] S. Zander, Knorr 2003, S. 9.
[17] S. Zirkler 2001, S. 145.
[18] S. Ebd.
[19] S. Ebd.
[20] Vgl. Ebd., S. 146.
[21] S. Ebd.
[22] Da sich Beratung und Therapie, und dies gilt insbesondere vor dem systemischen Hintergrund, nicht trennscharf voneinander abgrenzen lassen, verwende ich im Folgenden beide Begriffe synonym.
[23] S. Zirkler 2001, S. 146.
[24] S. von Schlippe in: Zander, Knorr 2003, S. 30.
[25] S. Maturana 1985, Maturana u. Varela 1987, zitiert in: Klein, Kann nicht 2008, S. 10.
[26] S. König 2006, S. 198.
[27] S. König 2006, S. 198.
[28] S. Ebd.
[29] S. Ebd., S. 11.
[30] S. Ebd.
[31] S. Bleckwedel 2009, S. 96.
[32] S. Ebd., S. 95.
[33] S. Ebd.
[34] S. Ebd., S. 190.
[35] S. Ebd.
[36] S. Bleckwedel 2009, S. 151.
[37] S. Barthelmess 1999, S. 107.
[38] S. Ebd.
[39] S. Andolfi 1992, S. 89.
[40] S. Bleckwedel 2009, S. 65.
[41] S. Ebd., S. 15.
[42] S. Burnham 2004, S. 20.
[43] S. Ebd., S. 19.
[44] S. Bleckwedel 2009, S. 60.
[45] S. Ebd.
[46] S. König 2006, S. 21.
[47] S. Neidhardt 1975b, S. 164 zitiert in: König 2006, S. 59.
[48] S. König 2006, S. 59.
[49] S. Ebd.
[50] S. Ebd., S. 60.
[51] Vgl. Minuchin 1974 in: Andolfi 1992, S. 26.