Protonationalismus: Deutschland und die Schweiz im Vergleich
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Protonationalismus: Deutschland und die Schweiz im Vergleich
Eine in der Geschichtswissenschaft intensiv diskutierte Frage ist, ob es bereits vor den säkularen Wandlungsprozessen des ausgehenden 18. Jahrhunderts so etwas wie „Nationen“ und „Nationalismus“ gegeben hat.[1] Es ist keine Selbstverständlichkeit, diese Begriffe auf Deutschland (d.h. das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“) und die „Deutschen“ zwischen Reformation und Französischer Revolution anzuwenden. Vor allem zwei Entwicklungsprozesse verweisen auf die Unmöglichkeit, das frühneuzeitliche Deutsche Reich als „Nation“ im modernen Sinne zu begreifen:
Erstens ging mit der Reformation und der auf sie folgenden Konfessionalisierung die Möglichkeit verloren, Glaubenseinheit mit nationaler Einheit zu identifizieren. Diese Identifikation hatte in anderen Teilen Europas im 17. Jahrhundert zur Stiftung nationaler Identitäten einen wichtigen Beitrag geleistet (z.B. Holland und England).[2] Zweitens konzentrierten sich spätestens seit dem Westfälischen Frieden die wichtigsten Hoheitsrechte (z.B. Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit, Polizeigewalt) in den Territorien. Insbesondere die Herausbildung absolutistischer Territorialstaaten innerhalb des Reiches im 18. Jahrhundert macht deutlich, dass Staatsbildungsprozesse eher auf der Ebene der Territorien abliefen. Das Alte Reich blieb staatsrechtlich betrachtet ein „irreguläres Gebilde“ (Samuel Pufendorf), das nur in sehr begrenztem Maße Zugriff auf seine Untertanen hatte. Daher kann es kaum ver- wundern, dass der Nationsbegriff von vielen Zeitgenossen eher auf kleinere Einheiten (z.B. Territorium, Stadt) bezogen wurde. Einen stark ausgeprägten Reichspatriotismus gab es lediglich in kleinen und Kleinstterritorien, die ihre Existenz dem Reich verdankten.
Anders stellte sich die Situation in der Schweiz dar. Völkerrechtlich war sie bis 1648 Teil des Reiches. Bereits im 14. Jahrhundert hatten sich Schweizer Städte und Talschaften erfolgreich militärisch gegen die Herrschaft der Habsburger zur Wehr gesetzt (Schlachten von Morgaten
und Sempach) und erlangten im Schweizer- und Schwabenkrieg 1499 ihre faktische Unab-hängigkeit, mit der das ständisch- monarchische Ordnungsprinzip endgültig abgelegt wurde.
Diese Gründungs- und Befreiungsgeschichte wurde zur Quelle des nationalen Selbst- verständnisses der Schweiz, auf die man sich im Verlauf der Geschichte immer wieder legitimierend beziehen konnte.
Trotz der zur Nationsbildung „ungünstigen“ strukturellen Bedingungen im Reich haben viele neuere Studien die These vertreten, dass ein deutsches Nationalbewusstsein nicht erst 1789 oder 1806 einsetzte, sondern dass mit dem Begriff Protonationalismus erfassbare Frühformen von Nationalismus bereits an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert existierten.[3]
Die Mehrzahl dieser Forschungsergebnisse beruht implizit oder explizit auf den Annahmen der konstruktivistischen Nationalismusforschung. Diese begreift die „Nation“ primär als „gedachte Ordnung“ (Mario R. Lepsius) oder „imaginierte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson), die von Einzelpersonen oder gesellschaftlichen Gruppen durch Sprache und Symbole aktiv konstruiert wird.[4] Die Nation ist demnach keine anthropologische Konstante im Bewusstsein der Menschen, vielmehr wird ihr artifizieller Charakter, ihr Beruhen auf „erfundenen Traditionen“ (Eric Hobsbawm) betont. Bezieht man die Herrschaftsstrukturen mit ein, in denen die „Konstruktionsleistungen“ erfolgen, lässt sich Nation als durch Herrschaft und die Aneignung gemeinsamer Mythen und Geschichte entstandene Traditions-, Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaft definieren.[5]
Eine solche Definition bietet für die Erforschung des Protonationalismus zwei Vorteile: 1. Die Bindung von Nationalismus an Modernisierungsprozesse des späten 18. und 19. Jahrhunderts, wie Industrialisierung (Ernest Gellner) oder „Kommunikationsrevolution“ (Karl Deutsch) wird gelockert, was eine zeitliche Erweiterung des Untersuchungsrahmens ermöglicht. 2. Werte, Mythen, Traditionen, auf die sich Nationalbewusstsein in der Frühen Neuzeit stützen konnte und die (eventuell) auch im modernen Nationalismus fortwirken konnten, werden in zunehmendem Maße zu Untersuchungsgegenständen der Nationalismusforschung.[6]
Auf dieser Grundlage beschäftigt sich auch diese Arbeit mit dem deutschen Proto- nationalismus, indem sie nach seinen Trägern und den mit deutschem Nationalbewusstsein in Verbindung gebrachten Mythen und Wertvorstellungen fragt. Diese sollen vergleichbaren Elementen des Schweizer Protonationalismus kontrastierend gegenübergestellt werden.
[...]
[1] Zu Forschungsstand und Forschungsperspektiven: Vgl. Herfried Münkler, Nation als politische Idee im frühneuzeitlichen Europa, in: Klaus Garber (Hg.), Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Tübingen 1989, S. 56- 86; Reinhard Stauber, Nationalismus vor dem Nationalismus? Eine Bestandsaufnahme der Forschung zu „Nation“ und „Nationalismus“ in der Frühen Neuzeit, in: GWU 47 (1996), S. 139- 165; Eckart Hellmuth, Nationalismus vor dem Nationalismus?, in: Auflkärung 10, H.2 (1998), S. 3- 10; Dieter Langewiesche/ Georg Schmidt (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000.
[2] Vgl. Georg Schmidt, Die frühneuzeitliche Idee „deutsche Nation“. Mehrkonfessionalität und säkulare Werte, in: Heinz-Gerhard Haupt/ Dieter Langewiesche (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt a.M./ New York 2001, S. 33- 67.
[3] So vor allem: Wolfgang Hardtwig, Vom Elitebewusstsein zur Massenbewegung. Frühformen des Nationalismus in Deutschland 1500- 1840, in: Ders., Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500- 1914. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1994, S. 34- 54; Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495- 1806, München 1999.
[4] Vgl. Mario R. Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland, in: Ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 232- 246; Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M./ New York 1996.
[5] Vgl. Schmidt, Altes Reich, S. 30.
[6] Vgl. Stauber, Nationalismus, S. 158.