Fokalisierung im Iwein: Erzählungen in der Erzählung
Seminararbeit 2011 19 Seiten
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Darstellung des Fokalisierungsbegriffs
2.1 Der Fokalisierungsbegriff nach Gérard Genette
2.2 Kritische Auseinandersetzung mit dem Fokalisierungsbegriff von Gérard Genette
3. Fokalisierung im Iwein: Erzählungen in der Erzählung
3.1 Fokalisierungstechniken im höfischen Roman
3.2 Fokalisierung im Iwein - Exemplarische Untersuchung anhand der Erzählungen von der Brunnen-aventiure und der Erzählung von Ginovers Entführung
4. Schlusswort
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Formen der Fokalisierung im Iwein Hartmanns von Aue. Fokalisierung ist ein Begriff aus der Erzähltheorie und wurde durch den Literaturwissenschaftler Gérard Genette geprägt. Daher soll im Kapitel 2 Darstellung des Fokalisierungsbegriffs zunächst eine Grundlage in Form der Diskussion von Genettes Fokalisierungsbegriff für die folgende Untersuchung gelegt werden. Hierbei wird sich am entsprechenden Teil der von Matias Martinez und Michael Scheffel verfassten Einführung in die Erzähltheorie[1] orientiert. Nach der Darstellung von Genettes Konzept in Kapitel 2.1 Der Fokalisierungsbegriff nach Gérard Genette wird in Kapitel 2.2 Kritische Auseinandersetzung mit dem Fokalisierungsbegriff von Gérard Genette anhand der Überlegungen Gert Hübners dargelegt, worin die Problematik besteht, wenn Genettes Fokalisierungsbegriff auf den höfischen Roman angewendet werden soll.
In Kapitel 3.1 Fokalisierungstechniken im höfischen Roman werden zunächst die in Gert Hübners Aufsatz Fokalisierung im höfischen Roman[2] als charakteristisch für den höfischen Roman herausgestellten Formen der Fokalisierung dargelegt. Daran schließt sich mit Kapitel 3.2 Fokalisierung im Iwein - Exemplarische Untersuchung anhand der Erzählungen von der Brunnen-aventiure und der Erzählung von Ginovers Entführung eine Untersuchung verschiedener Textpassagen an. Es soll dabei herausgearbeitet werden, ob bzw. inwiefern fokalisiert erzählt wird und welche Funktionen und Ursachen die unterschiedlichen Erzählweisen besitzen.
Des Weiteren sollen im Verlauf der Arbeit erzähltheoretische Begriffe wie bspw. das personale Erzählen von Fokalisierungstechniken abgegrenzt werden.
2. Darstellung des Fokalisierungsbegriffs
2.1 Der Fokalisierungsbegriff nach Gérard Genette
Der Begriff der Fokalisierung wurde 1972 von Gérard Genette in der französischen Erstauflage eingeführt[3] und bezieht sich auf die Perspektivierung des Erzählten.[4] Er beschreibt das Verhältnis zwischen dem Wissen einer Erzählinstanz und dem Wahrnehmungshorizont einer Figur. Daher unterscheidet man nach Genette zwei Standpunkte: Den Standpunkt des Sprechers und den Standpunkt des Wahrnehmenden, woraus sich die beiden Fragen „Wer sieht bzw. nimmt wahr?“ und „Wer spricht?“ ergeben. Während sich die Frage nach dem Sprecher dem Erzählakt zuordnen lässt, ist der Standpunkt des Wahrnehmenden jener, an dem sich fokalisiertes Erzählen nachweisen lässt.[5]
Nach Genette lassen sich drei unterschiedliche Typen von Fokalisierung ausmachen[6]:
Der erste Typ sei die Nullfokalisierung, die auch mit dem Begriff „Übersicht“ bezeichnet werden kann. Hierbei übersteigt das Wissen der Erzählinstanz den Wahrnehmungshorizont der Figur.[7]
Der zweite Typ sei die interne Fokalisierung. Die interne Fokalisierung wird ebenfalls mit dem Begriff ‚Mitsicht‘ identifiziert. Von einer internen Fokalisierung kann man sprechen, wenn das Wissen der Erzählinstanz dem Wahrnehmungshorizont der Figur angepasst ist. Innerhalb der internen Fokalisierung wird nach Genette zwischen der fixierten internen Fokalisierung, der variablen internen Fokalisierung und der multiplen internen Fokalisierung unterschieden. Bei der fixierten internen Fokalisierung bleibt die Perspektive durchgängig auf die Wahrnehmung einer einzelnen Figur beschränkt. Bei der variablen internen Fokalisierung können verschiedene Figuren innerhalb der Erzählung zum sogenannten ‚focalizer‘ werden. Die Figur deren Wahrnehmungshorizont die Informationen bestimmt, die dem Leser mitgeteilt werden, muss daher nicht zwangsläufig dieselbe bleiben. Bei der multiplen internen Fokalisierung wird dasselbe Handlungsgeschehen aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Nach Franz K. Stanzel[8] lassen sich die variable interne Fokalisierung und die multiple interne Fokalisierung unter dem Begriff „multiperspektivisches Erzählen“ zusammenfassen.[9]
Der dritte Typ sei die externe Fokalisierung. Die externe Fokalisierung kann auch als „Außensicht“ bezeichnet werden. Unter einer externen Fokalisierung versteht man, dass das Wissen der Erzählinstanz den Wahrnehmungshorizont der Figur nicht erfasst. Dabei entfällt eine Innenperspektive, sodass sich die Handlungsmotivation der Figur dem Leser nicht offenbart. Man sieht die Figuren sprechen und handeln, aber bekommt keinen Einblick in ihr Denken und Fühlen.[10]
Martinez und Scheffel erklären, dass Fokalisierungseffekte jedoch graduelle Phänomene sind, sodass innerhalb einer Geschichte zwischen den verschiedenen Typen der Fokalisierung gewechselt werden kann, wobei vor allem die Grenzen zwischen Nullfokalisierung und interner Fokalisierung häufig verschwimmen. In solchen Fällen gilt es eine Tendenz des Fokalisierungstypen herauszuarbeiten. Hierbei kann es zu Ergebnissen kommen, die eine Erzählung als dominant unfokalisiert, dominant intern fokalisiert oder dominant extern fokalisiert bestimmen. Ebenfalls kann der rhythmische Wechsel der Fokalisierungstypen eine Erzählung strukturell bestimmen. In solchen Fällen spricht man von einer Polymodalität.[11]
2.2 Kritische Auseinandersetzung mit dem Fokalisierungsbegriff von Gérard Genette
Der Literaturwissenschaftler Gert Hübner hat sich im Besonderen mit Fokalisierungstechniken im höfischen Roman beschäftigt und vertritt eine „revidierte Theorie der Fokalisierung, in die etliche Beiträge der langen Debatten um den Begriff [Fokalisierung] eingegangen sind.“[12]
Hübner stellt fest, dass Genettes Theorie der Fokalisierung insbesondere deshalb Bedeutung erlangt habe, weil sie die Vieldeutigkeit des Begriffs `Perspektive´ umgehe. Hübner unterscheidet zwischen einer Erzählerperspektive und einer Erzählperspektive im Sinn einer Figurenperspektive. Die Differenz liege darin, dass die Figurenperspektive die erlebte Welt in der Geschichte darstellen, während der Erzähler nicht Teil der erzählten Welt sei und lediglich Bewertungsstandpunkte vertreten könne. Der Erzähler stehe zur Geschichte daher in einer anderen Relation als die Figur. Hübner identifiziert die Erzählerperspektive mit „dem normativen Standpunkts des Erzählers.“[13]
Hübner argumentiert weiter, dass genau dieser Standpunkt, nämlich die Kategorie ‚Erzählerperspektive‘, mit Genettes Theorie der Fokalisierung aufgehoben werde. Mit dem Fokalisierungsbegriff beschränke sich das perspektivierte Erzählen auf die Sicht eines kognitiven Zentrums innerhalb der erzählten Welt, aus dessen Perspektive erzählt wird. Der Effekt, der durch Fokalisierungstechniken erreicht werde, sei derselbe, der zuvor schon bei Franz K. Stanzel mit dem Begriff des ‚personalen Erzählens‘ erfasst worden sei.[14] Hübner erklärt:
‚Personales Erzählen‘ ist ein Begriff mit einer begrenzten historischen Reichweite, denn das spezifische erzähltechnische Arrangement, das er bezeichnet, gibt es […] erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Praxis wie Theorie sind Kinder der naturalistischen Realismusdebatte. Das Hassobjekt der Naturalisten war der `allwissende Erzähler´ […]. Eine solche Erzählinstanz galt als obsolet, in dem sich die Auffassung durchsetzte, dass realistisches Erzählen die Welt so darstellen muss, wie das Subjekt sie erlebt.[15]
Bei diesem Verfahren würde nicht die Erzählinstanz, sondern die Art und Weise des Erzählens subjektiviert, so Hübner weiter. Das Figurenbewusstsein könne so zum einzigen Kompositionsprinzip der Erzählung werden. Mit der Entwicklung hin zu einer möglichst realistischen Erzählweise, sollte der Erzählerkommentar verschwinden.[16]
Hübner wehrt sich dagegen, dass der Fokalisierungsbegriff als Neologismus für personales Erzählen verwendet wird. Dass der auktoriale Erzähler mit der Technik des personalen Erzählens verschwunden sei, beruhe auf einer ästhetischen Norm, sei aber keine Notwendigkeit.[17]
Hübner ist außerdem der Meinung, dass das Erzählen aus Figurenperspektive (=Fokalisierungstechnik) keineswegs einer realistischen Darstellung dienen müsse. Des Weiteren schreibt er, dass die Figurenperspektive ebenfalls nicht das einzige Kompositionsprinzip der Erzählung sein müsse. Er stellt fest, dass Fokalisierung in Abgrenzung vom personalen Erzählen des 19. Jahrhunderts ein „graduelles Phänomen“[18] sei, was daran läge, „das [sic] der Effekt auf mehreren Strukturmustern basiert, die erstens je für sich mehr oder weniger konsequent eingesetzt und zweitens mehr oder weniger stark miteinander synchronisiert sein können.“[19]
Hübner versucht sich von den kategorialen Begriffen bei Stanzel und Genette zu distanzieren, indem er Fokalisierungstechniken nach ihrer Funktionalität bewertet. Dies ist nötig, da die erzähltheoretischen Begriffe des 19. und 20. Jahrhunderts eine Anwendung auf den höfischen Roman nicht zulassen. Diese Problematik wird in den weiteren Kapiteln noch verdeutlicht. Im nächsten Kapitel soll Hübners modifizierte Theorie der Fokalisierung kurz vorgestellt werden, bevor erarbeitet werden soll, inwiefern die Thesen Hübners am Analysebeispiel des Iwein Hartmanns von Aue von Nutzen sind.
3. Fokalisierung im Iwein: Erzählungen in der Erzählung
3.1 Fokalisierungstechniken im höfischen Roman
Zunächst einmal ist bei Gert Hübner festzuhalten, dass Fokalisierungseffekte ein charakteristisches Merkmal einiger Episoden höfischer Romane im Allgemeinen darstellen. Hübner bezieht seine Studien auf den Eneas, den Iwein und den Tristan. Laut Hübner kann man im höfischen Roman beobachten, „daß [sic] die narrative Repräsentation des Geschehens der Perspektive der Figur folgt und daß zugleich anhand von Erzählerkommentaren eine das Geschehen bewertende Erzählerstimme […] profiliert wird.“[20]
[...]
[1] Martinez, Matias und Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 5. Auflage. München: C. H. Beck 2003
[2] Hübner, Gert: Fokalisierung im höfischen Roman. In: Wolfram-Studien 18. u.a. Wolfgang Haubrichs (Hrsg.): Erzähltechnik und Erzähstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters (Saarbrücken Kolloqium 2002). Berlin: ESV 2004, S.130
[3] Siehe Genette, Gérard : Die Erzählung (frz. 1972/1983). München: Fink 1994, 3. Aufl. 2010
[4] Der Begriff der Fokalisierung gehört nach Genette der Kategorie des ‚Modus‘ an. Dieser unterscheidet sich von der Kategorie der ‚Stimme‘ / Vgl. dazu auch Martinez, Matias und Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 5. Auflage. München: C. H. Beck 2003, S. 63/64
[5] Vgl. dazu Martinez, Matias und Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, S. 64
[6] Vgl. Ebd., S. 64
[7] Vgl. Ebd.
[8] Siehe Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck 1979, 8. Auflage 2008
[9] Vgl. den ganzen Abschnitt Martinez, Matias und Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, S. 64 und S. 66
[10] Vgl. Ebd., S: 64 und S. 66
[11] Vgl. den ganzen Abschnitt Ebd., S. 67
[12] Hübner, Gert: Fokalisierung im höfischen Roman. In: Wolfram-Studien 18. u.a. Wolfgang Haubrichs (Hrsg.): Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters (Saarbrücken Kolloqium 2002). Berlin: ESV 2004, S.130
[13] Ebd., S. 129
[14] Vgl. den ganzen Abschnitt Ebd. S.131f
[15] Ebd., S. 131
[16] Vgl. Ebd., S. 131f
[17] Vgl. Ebd., S. 133
[18] Ebd., S. 134
[19] Ebd.
[20] Ebd., S. 133
Details
- Seiten
- 19
- Jahr
- 2011
- ISBN (eBook)
- 9783640911837
- ISBN (Buch)
- 9783640910168
- Dateigröße
- 534 KB
- Sprache
- Deutsch
- Katalognummer
- v169971
- Institution / Hochschule
- Ruhr-Universität Bochum – Germanistisches Institut
- Note
- 3,0
- Schlagworte
- Fokalisierung Erzähltheorie Genette Iwein Hartmann von Aue Löwenritter Hübner Martinez Ginover König Artus Gawein Brunnen Aventiure Laudine Lunete Perspektive Erzählperspektive