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Möglichkeiten und Grenzen der theoretischen Erklärbarkeit von Wirtschaftskriminalität am Beispiel der Privatisierung von DDR-Unternehmen

©2010 Hausarbeit 21 Seiten

Zusammenfassung

Die Umgestaltung des Wirtschaftssystems in den neuen Bundesländern von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer sozialen Marktwirtschaft machte es nach dem Mauerfall erforderlich, innerhalb kürzester Zeit neue Eigentümer für die knapp 8.500 Unternehmen der ehemaligen DDR zu finden bzw. diese abzuwickeln, wenn es erforderlich erschien. Die Privatisierung der ehemals volkseigenen DDR-Betriebe lag dabei in der Hand der sogenannten Treuhandanstalt, die im Juni 1990 – also bereits einige Monate vor der offiziellen Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik – durch das noch von der Volkskammer beschlossene Treuhandgesetz zur Eigentümerin aller DDR-Betriebe erklärt worden war. Aufgrund der großen Anzahl der zu privatisierenden Unternehmen, des ernormen zeitlichen Druckes und der gerade anfangs unzulänglichen Ausstattung der Treuhandanstalt gelang es nicht, alle Privatisierungsvorgänge hinreichend zu erheben und zu kontrollieren, wodurch sich zahlreiche Gelegenheiten für eine Vielzahl auch strafrechtwidriger Verhaltensweisen ergaben.

Aus diesem Grund ist das Gebiet der umbruchsbedingten Vereinigungskriminalität bereits seit geraumer Zeit Gegenstand der kriminologisch-soziologischen Forschung, wobei Studien zu diesem Thema – wie alle Arbeiten zum Thema Wirtschaftskriminalität – seit jeher mit begrifflichen, methodischen und theoretischen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Möglichkeiten und Grenzen der (nachträglichen) Erklärbarkeit von Wirtschaftskriminalität am Beispiel der Privatisierung von DDR-Betrieben nach dem Mauerfall aufzuzeigen.

In Kapitel 2 werden zunächst einige grundlegende Begrifflichkeiten geklärt, bevor Kapitel 3 mit der autopoietischen Systemtheorie einen Theorieansatz zur Erklärung von strafrechtwidrigem Verhalten im Allgemeinen und Wirtschaftskriminalität im Besonderen in den Mittelpunkt rückt. Die Möglichkeiten und etwaigen Probleme dieser Theorie werden anschließend in Kapitel 4 an einem konkreten Fallbeispiel aufgezeigt. In Kapitel 5 werden die gewonnenen Erkenntnisse kritisch betrachtet und diskutiert, bevor schließlich ein Fazit gezogen wird.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Klärung grundlegender Begrifflichkeiten
2.1 Der Begriff der Wirtschaftskriminalität
2.2 Vereinigungskriminalität

3. Theoretische Konzepte zur Erklärung von Wirtschaftskriminalität
3.1 Abweichendes Verhalten
3.2 Autopoietische Systemtheorie
3.3 Brauchbare Illegalität

4. Anwendung des theoretischen Konzepts auf einen konkreten Fall
4.1 Fallbeispiel: Privatisierung und Abwicklung des VEB Metallurgiehandel durch den westdeutschen Thyssenkonzern
4.2 Systemtheoretische Erklärung des Fallgeschehens
4.2.1 Strukturelle Kopplung: Treuhandanstalt - Thyssen
4.2.2 Strukturelle Kopplung Politik - Thyssen
4.2.3 Strukturelle Kopplung Markt - Thyssen
4.2.4 Strukturelle Kopplung Strafrecht - Thyssen
4.2.5 Programmänderungen aufgrund von Erwartungsenttäuschung
4.2.6 Fazit

5. Fazit und Diskussion

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Umgestaltung des Wirtschaftssystems in den neuen Bundesländern von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer sozialen Marktwirtschaft machte es nach dem Mauerfall erforderlich, innerhalb kürzester Zeit neue Eigentümer für die knapp 8.500 Unternehmen der ehemaligen DDR zu finden bzw. diese abzuwickeln, wenn es er- forderlich erschien (vgl. Karliczek 2007: 11 und Boers et. al 2003: 471). Die Privati- sierung der ehemals volkseigenen DDR-Betriebe lag dabei in der Hand der soge- nannten Treuhandanstalt, die im Juni 1990 - also bereits einige Monate vor der offi- ziellen Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen De- mokratischen Republik - durch das noch von der Volkskammer beschlossene Treu- handgesetz zur Eigentümerin aller DDR-Betriebe erklärt worden war. Aufgrund der großen Anzahl der zu privatisierenden Unternehmen, des ernormen zeitlichen Dru- ckes und der gerade anfangs unzulänglichen Ausstattung der Treuhandanstalt ge- lang es nicht, alle Privatisierungsvorgänge hinreichend zu erheben und zu kontrollie- ren, wodurch sich zahlreiche Gelegenheiten für eine Vielzahl auch strafrechtwidriger Verhaltensweisen ergaben (vgl. Karliczek 2007: 11 und Boers et. al 2003: 472).

Aus diesem Grund ist das Gebiet der umbruchsbedingten Vereinigungskriminalität bereits seit geraumer Zeit Gegenstand der kriminologisch-soziologischen Forschung, wobei Studien zu diesem Thema - wie alle Arbeiten zum Thema Wirtschaftskriminali- tät - seit jeher mit begrifflichen, methodischen und theoretischen Schwierigkeiten konfrontiert sind (vgl. Boers 2010: 17). Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Mög- lichkeiten und Grenzen der (nachträglichen) Erklärbarkeit von Wirtschaftskriminalität am Beispiel der Privatisierung von DDR-Betrieben nach dem Mauerfall aufzuzeigen.

In Kapitel 2 werden zunächst einige grundlegende Begrifflichkeiten geklärt, bevor Kapitel 3 mit der autopoietischen Systemtheorie einen Theorieansatz zur Erklärung von strafrechtwidrigem Verhalten im Allgemeinen und Wirtschaftskriminalität im Besonderen in den Mittelpunkt rückt. Die Möglichkeiten und etwaigen Probleme dieser Theorie werden anschließend in Kapitel 4 an einem konkreten Fallbeispiel aufgezeigt. In Kapitel 5 werden die gewonnenen Erkenntnisse kritisch betrachtet und diskutiert, bevor schließlich ein Fazit gezogen wird.

2. Klärung grundlegender Begrifflichkeiten

Obwohl mittlerweile kaum eine Woche vergeht, in der der Medienkonsument nicht mit dem Begriff der Wirtschaftskriminalität konfrontiert wird1, bleibt dieser in seiner genaueren Bedeutung auf den ersten Blick eher diffus. Daher erscheint es zweckmäßig, zunächst den Begriff der Wirtschaftskriminalität und - anschließend - den Begriff der Vereinigungskriminalität näher zu definieren.

2.1 Der Begriff der Wirtschaftskriminalität

Wenngleich der Begriff der Wirtschaftskriminalität bereits seit sechzig Jahren Diskus- sionsgegenstand der Kriminologie ist, existiert bis heute kein einheitlicher Wort- gebrauch (vgl. Karliczek 2007: 18). Auf der kriminologisch-soziologischen Ebene ist es in Anlehnung an amerikanische Studien inzwischen jedoch üblich, unter dem Sammelbegriff „Wirtschaftskriminalität“ (im Englischen meist: White Collar Crime, auch: Economic Crime) Berufliche Kriminalität (Occupational Crime) und Unterneh- menskriminalität (Corporate Crime) zu unterschieden (vgl. Boers 2010: 18).

Berufliche Kriminalität „ is committed by individuals for themselves in the course of their occupations and the offenses of employees against their employers “ (Cli- nard/Quinney 1973: 188, zitiert nach Boers 2010: 18) und beschreibt somit die Krimi- nalität, die aus dem Kontext der beruflichen Tätigkeit heraus verübt wird und einem individuellen Vorteil dient. Aufgrund der personalen Orientierung wird diese Art der Kriminalität häufig auch als Managerkriminalität bezeichnet (vgl. Karliczek 2007: 18). In Abgrenzung dazu bezeichnet Unternehmenskriminalität „ offenses committed by corporate officials for their corporation and the offenses of the corporation itself “ (Cli- nard/Quinney 1973: 188, zitiert nach Boers 2010: 18) und geht folglich von Straftaten aus, die von Unternehmen in Verfolgung ihres wirtschaftlichen Interesses und Nut- zens begangen werden - gegeneinander, gegenüber öffentlichen Einrichtungen oder gegenüber privaten Verbrauchern (vgl. Karliczek 2007: 18 u. Boers et. al 2003: 470).

Berufliche Kriminalität bezeichnet demnach im Zusammenhang mit einer legalen be- ruflichen Tätigkeit zum eigenen Nutzen begangene strafrechtwidrige Handlungen, während Unternehmenskriminalität im Interesse eines legalen Unternehmens be- gangenes strafrechtwidriges Verhalten beschreibt (vgl. Boers 2010: 18f.). Die meis- ten Autoren gehen seit einigen Jahren - richtigerweise - davon aus, dass Wirt- schaftskriminalität Unternehmenskriminalität ist (vgl. Boers et. al 2003: 470).

Die erste mit einem theoretischen Erklärungsansatz und empirischen Untersuchun- gen verbundene kriminologische Definition der Wirtschaftskriminalität stammt von Edwin H. Sutherland (1883-1950), der in den 1940er-Jahren den berühmt geworde- nen, aber ungenauen Begriff des White Collar Crime prägte (vgl. Boers 2010: 19). Darunter fallen all jene Delikte, die „ von Personen mit hohem Ansehen und sozialem Status im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit begangen werden “ (Sutherland 1983: 7). White Collar Crime ist dabei jedoch zu weit gefasst und bezeichnet in entscheidenden Teilen eben nicht nur Wirtschaftskriminalität, schließlich würden dem Wortlaut nach auch schon alle Delikte erfolgreicher Selbstständiger wie Handwerker, Ärzte oder Rechtsanwälte, vor allem aber auch hochgestellter Beamter und Angestellter im öffentlichen Dienst fallen. Auch die Straftaten leitender Unternehmensangestellter, die sich zum Nachteil ihrer Firma z.B. durch Unterschlagungshandlungen persönlich bereichern, würden demnach zur Wirtschaftskriminalität gehören - und solche Straftaten sind explizit nicht gemeint (vgl. Boers et. al 2003: 470f.).

Die Nachteile des Begriffs White Collar Crime ergeben sich allerdings vor allem auch aus seiner grundsätzlich personalen Orientierung. Damit gerät das Wesentliche nicht in den Blick - nämlich, dass sich „Wirtschaft“ weniger oder nicht nur auf Personen, sondern ganz wesentlich (auch) auf den strukturellen Kontext eines bestimmten Sys- tems (nämlich das der Wirtschaft) bezieht. Der Begriff der Unternehmenskriminalität nimmt im Gegensatz dazu durch die Formulierung „für ein Unternehmen“ ausdrück- lich Bezug auf die Reproduktion des Wirtschaftssystems und ermöglicht es somit, den Begriff klar in einem wirtschaftlichen Kontext zu halten (vgl. Karliczek 2007: 19).

Mit anderen Worten: Wirtschaftskriminalität sollte insbesondere jene Verletzungen des Strafrechts bezeichnen, die aus den strukturfunktionalen Abläufen des Wirt- schaftssystems heraus bedeutsam oder erklärbar werden. Auch demnach wäre der Begriff der Unternehmenskriminalität zutreffender, da Unternehmen die zentralen Organisationseinheiten des Wirtschaftssystems darstellen (vgl. Boers 2010: 19f.). Unternehmenskriminalität bezeichnet infolgedessen unmittelbar das, worum es bei der Wirtschaftskriminalität in erster Linie geht: nämlich um die Kriminalität der zentralen ökonomischen Organisationseinheiten, die sich z.B. gegen Verbraucher, Anleger, Arbeitnehmer, die Umwelt oder insbesondere das staatliche Finanz-, Auftrags- oder Subventionswesen richtet (vgl. Boers 2010: 20).

2.2 Vereinigungskriminalität

„Überall in der Ex-DDR werden Bargelder und Immobilien verschoben, Bilanzen fri- siert. Kleine und große Geschenke wechseln den Besitzer. Die Raffgierigen beider Deutschlands haben sich offenbar zuerst vereinigt. Treuhandsprecher Wolf Schöde sieht die Ostwirtschaft vom ‚ Geschw ü ]r der Wirtschaftskriminalität ’ befallen. (...) Die Werktätigen im Osten erleben die neue Wirtschaftsordnung als Mischung aus Marx und Mafia. (...) „ Wo ich hingucke “ , sagt der Revisor (Treuhandwirtschaftspr ü fer Bernd Capellen, C.R.), „ stoße ich auf dubiose Machenschaften. “ (SPIEGEL 37/1991: 122)

Mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 begann nicht nur der rasche Prozess der Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, sondern auch der rasante Verfall staatlicher Autorität in der DDR, der mit der sogenannten Vereinigungskriminalität eine besondere Art der Wirtschaftskriminalität ermöglichte (vgl. Renken/Jenke 2001: 23) und bedenkliche Dimensionen annahm. Unter den Begriff „Vereinigungskriminalität“ (manchmal auch: Transformationskriminalität) fallen alle Straftaten, die mit der deutschen Wiederverei- nigung in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Sie waren ihrer Art nach zwar be- reits bekannt, erreichten durch die Umfeldbedingungen der wirtschaftlichen Umstruk- turierung in den neuen Bundesländern jedoch eine ungeahnte Qualität und Quantität. Mitte August 1994 registrierte allein die Staatsanwaltschaft beim Berliner Landesge- richt bereits 1.086 Ermittlungsverfahren mit einer Schadenssumme von 10,4 Mio. DM; wegen der Überlastung der Berliner Staatsanwaltschaft mussten Verfahren teil- weise über mehrere Jahre ausgesetzt, beschlagnahmte Unterlagen zeitweilig sogar in Turnhallen gelagert werden (vgl. Fischer 1996: 50f.). Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Ermittlungsverfahren auch nach 1994 weiter zugenommen hat.

Vereinigungskriminalität umfasst z.B. (vgl. Fischer 1996: 53ff. und Renken/Jenke 2001: 23) strafbare Bilanzfälschung und -verschleierung, Manipulationen mit dem Vermögen der ehemaligen Parteien- und Massenorganisationen der DDR, Grund- stückgeschäfte durch Staatsbedienstete unter Ausnutzung ihrer amtlichen Funktion, Straftaten im Zusammenhang mit der Währungsumstellung im Juli 1990, Betrugsver- fahren mit Transferrubel, aber insbesondere Kriminalität im Umfeld der Treuhandan- stalt bzw. ihrer Nachfolgegesellschaften im Zusammenhang mit der Privatisierung der ehemals volkseigenen DDR-Betriebe. Neben Subventionskriminalität spielte hierbei vor allem das sogenannte „Aushöhlen“ übernommener Unternehmen eine Rolle: Die Käufer entzogen dem Betrieb lukrative Vermögensanteile - z.B. in Form von Innenstadtgrundstücken oder Barvermögen - und überließen den Rest der mit Arbeitsverlusten verbundenen Betriebsauflösung (vgl. Boers et. al 2003: 472). Auf- grund der großen Bedeutung der Privatisierungskriminalität im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung ist auch das Fallbeispiel der vorliegenden Arbeit (Kapitel 4) diesem Gebiet entnommen.

Abzugrenzen von der Vereinigungskriminalität ist schließlich die oft in ihrem unmit- telbaren Zusammenhang genannte Regierungskriminalität (vgl. Renken/Jenke 2001: 23f.). Diese umfasst generell nur diejenigen Straftaten, die bis Ende 1989 durch die Repräsentanten der früheren Staats- und Parteiführung der DDR begangen wurden (z.B. Wahlfälschungen oder die an der innerdeutschen Grenze begangenen Tötungs- und Körperverletzungsdelikte) und die somit in keinem direkten Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung und der Vereinigungskriminalität stehen.

[...]


1 z.B. Berliner Zeitung vom 06.07.2010: „Gefälschte Pillen - Wirtschaftskriminelle agieren immer häufiger interna- tional. Besonders stark im Kommen ist der Arzneimittelbetrug“ (online verfügbar unter: http://www.berlinonline.de/ berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2010/0706/wirtschaft/0057/index.html, letzter Abruf: 24.09.2010)

Details

Seiten
Jahr
2010
ISBN (eBook)
9783640928989
ISBN (Paperback)
9783640929054
DOI
10.3239/9783640928989
Dateigröße
475 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg – Max-Weber-Institut für Soziologie
Erscheinungsdatum
2011 (Mai)
Note
1,7
Schlagworte
Systemtheorie Luhmann Unternehmenskriminalität Wirtschaftskriminalität DDR DDR-Unternehmen White Collar Crime Sutherland
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Titel: Möglichkeiten und Grenzen der theoretischen  Erklärbarkeit von Wirtschaftskriminalität am Beispiel der Privatisierung von DDR-Unternehmen