NORBERT ELIAS und IMMANUEL KANT - über die Zeit
Zusammenfassung
Durch die Lektüre des Empiristen Humes wurde Kant damals aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt. Er sah ein, daß sowohl der Rationalismus als auch der Empirismus gerechtfertigt waren. Vernunft allein konnte nicht zu Erkenntnis führen, und Erfahrung allein auch nicht. Sodann begann er die beiden entgegengesetzten Strebungen miteinander zu kombinieren.
Nach Kant können Zugleich und Aufeinanderfolge nicht wahrgenommen werden, wenn die Vorstellung der Zeit nicht schon gegeben wäre. Das heißt, die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zugrunde liegt. Sie ist a priori, in ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich. Sie ist also die Bedingung der Möglichkeit der (aller) Erscheinungen. Sie ist die subjektive Bedingung, unter der alle Anschauungen in uns stattfinden können. Anzumerken ist hier, daß Kant zwischen noumenon (Ding an sich) und phaenomenon (Erscheinung) unterscheidet. Insofern zeigt sich die Zeit als Naturgegebenheit, als eine in der Natur des Menschen angelegte Vorstellung (vgl. Elias) mit der Erscheinungen zur Anschauung werden können.
Leseprobe
NORBERT ELIAS & IMMANUEL KANT
Ü BER DIE ZEIT
[Eine Arbeit von Marc Hollenstein]
„Wie sehr das Unvermögen, die sozialen Orientierungs- und Regulierungsfunktionen der Zeit in Betracht zu ziehen, zu den Schwierigkeiten beitrug, die Menschen bei dem Bemühen um eine konsensfähige Theorie der Zeit zu schaffen machten, zeigt sich besonders auch an den herkömmlichen philosophischen Lösungsversuchen des Problems.“ (Elias) Demnach stünden im Mittelpunkt der philosophischen Diskussion über die Natur der Zeit zwei polar entgegengesetzte Positionen. Norbert Elias beschreibt in seinem Artikel Ü ber die Zeit jene beiden kontrahierenden Richtungen:
- Zum einen gibt es die Vorstellung, daß es sich bei der Zeit um eine objektive Gegebenheit der natürlichen Schöpfung handle. Insofern, als daß sie nicht wahrnehmbar ist, unterscheidet sie sich von anderen Naturobjekten.
- Zum anderen herrschte die Vorstellung vor, die Zeit sei eine Art des Zusammensehens von Ereignissen, die auf der Eigentümlichkeit des menschlichen Bewußtseins oder, [...] beruhe und die dementsprechend jeglicher menschlicher Erfahrung als deren Bedingung vorausgehe. Hierzu zählt er vor allem Kant, der Zeit und Raum als Repräsentanten einer Synthese a priori ansah. Diese Auffassung besagt, „in schlichterer Sprache, ganz einfach, daß die Zeit eine Art von angeborener Erlebnisform ist, also eine unabänderliche Gegebenheit der Menschennatur.“ (Elias)
In weiterer Folge beschreibt Elias die Gemeinsamkeiten beider polar entgegengesetzten
Zeittheorien. Demnach stellt sich die Zeit in beiden Fällen als Naturgegebenheit dar. In dem ersten Fall als eine <objektive>, unabhängig von allen Menschen existierende Gegebenheit und im zweiten Fall als eine bloß <subjektive>, in der Natur des Menschen angelegte Vorstellung. Die Problematik dieser entgegengesetzten Erkenntnistheorien läge nach Elias darin, daß bei der Bildung menschlicher Vorstellung, beispielsweise die Einbettung aller Ereignisse in den Strom der Zeit, entweder dem Subjekt oder dem Objekt der Vorrang zu geben sei. Der „Künstlichkeit dieser gemeinsamen Grundannahmen“ stellt er also die Theorie des menschlichen Wissens entgegen.
„Menschliches Wissen, das ist die Vorstellung, die ihm zugrunde liegt, ist das Ergebnis des langen, anfangslosen Lernprozesses der Menschheit. Jeder einzelne Mensch, wie groß sein innovatorischer Beitrag auch sein mag, baut auf einem schon vorhandenen Wissensschatz auf und setzt ihn fort. Mit dem Wissen von der Zeit verhält es sich nicht anders.“ (Elias) In weiterer Folge spricht er dann von einem fünfdimensionalen Universum, in dem er zwischen dem multifunktionalen Charakter der Zeit (Bsp.: kommunikatives Symbol, Orientierungsmittel) und der Zeit als eine Dimension des natürlichen Universums differenziert. Die ersten drei Dimensionen werden durch den Raum begrenzt, die vierte Dimension beinhaltet Ereignisse, die im Strom des Nacheinander, also in Zeit und Raum wahrgenommen werden können, ohne daß die Wahrnehmenden den symbolischen Charakter von Raum und Zeit in Betracht ziehen. Dies entspricht der Zeit als eine Dimension des natürlichen Universums. In der fünften Dimension rücken Menschen, die das Geschehen in Zeit und Raum wahrnehmen und verarbeiten, ins Blickfeld der Beobachter. Man sieht sich quasi selbst als Beobachter des vierdimensionalen Geschehens und somit auch den Symbolcharakter der vier Dimensionen (Raum und Zeit) als Orientierungsmittel von Menschen.
Abgesehen davon, daß dies wie eine Anleitung eines Scientologen anmutet, um zum höchsten Punkt, dem <Status Clear> zu kommen, birgt diese neue Theorie des menschlichen Wissens nicht viel Neues in sich, da schon Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) von der Zeit schrieb und schon vor ein wenig mehr als zwei Jahrhunderten das gleiche sagte. Selbstverständlich hantierte er mit anderen Wörtern, der Inhalt war jedoch der selbe.
Mein Anliegen ist es nicht, die Philosophie Kants darzulegen, sondern bloß auf seine Aussagen über die Zeit näher einzugehen, um erstens klarzustellen, daß die beiden entgegengesetzten Erkenntnistheorien wie sie Elias kurz skizziert hat, durch Kant sowieso schon gelöst oder vereint worden sind (und nicht durch Elias‘ Theorie des menschlichen Wissens), um zweitens Kants Zeitbegriff darzulegen und um drittens die abstruse Ansicht eines fünfdimensionalen Universums, wie sie von Elias beschrieben wurde, zu widerlegen.
Durch die Lektüre des Empiristen Humes wurde Kant damals aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt. Er sah ein, daß sowohl der Rationalismus als auch der Empirismus gerechtfertigt waren. Vernunft allein konnte nicht zu Erkenntnis führen, und Erfahrung allein auch nicht. Sodann begann er die beiden entgegengesetzten Strebungen miteinander zu kombinieren. „Alle unsere Erkenntnis hebt mit der Erfahrung an, aber nicht alle unsere Erkenntnis stammt aus der Erfahrung.“ (Kant)
Nach Kant können Zugleich und Aufeinanderfolge nicht wahrgenommen werden, wenn die Vorstellung der Zeit nicht schon gegeben wäre. Das heißt, die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zugrunde liegt. Sie ist a priori, in ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich. Sie ist also die Bedingung der Möglichkeit der (aller) Erscheinungen. Sie ist die subjektive Bedingung, unter der alle Anschauungen in uns stattfinden können. Anzumerken ist hier, daß Kant zwischen noumenon (Ding an sich) und phaenomenon (Erscheinung) unterscheidet. Insofern zeigt sich die Zeit als <subjektive> Naturgegebenheit, als eine in der Natur des Menschen angelegte Vorstellung (vgl. Elias) mit der Erscheinungen zur Anschauung werden können.
Weiters folgert Kant, daß sich auf die Notwendigkeit a priori die Möglichkeit apodiktischer Grundsätze über die Zeitverhältnisse, das heißt die Möglichkeit von Zeitaxiomen gründet. Insofern ist sie eine reine Form sinnlicher Anschauung. Verschiedene Zeiten sind nur Teile der einen einheitlichen Zeit. Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nur, daß alle bestimmten Zeitgrößen (Bsp.: Zeitintervalle, Zeitdauern) nur als Teile der einen Zeit möglich sind. Daher kann Zeit nicht ursprünglich bloßer Begriff sein (ein solcher hätte nur endlich viele Teilbegriffe), also liegt der Zeitvorstellung eine unmittelbare Anschauung zu Grunde. Die Vorstellung der Zeit selbst ist also Anschauung, nämlich in Form einer Linie. Die Zeit stellt sich hier also als <objektive> Naturgegebenheit vor, als eine unabhängig von allen Menschen existierende Gegebenheit (vlg. Elias), die sich in Form einer Linie anschauen, darstellen läßt.
„Die Künstlichkeit dieser gemeinsamen Grundannahmen von diametral entgegengesetzten Erkenntnistheorien herkömmlicher Art und die Sterilität der endlosen Debatten zwischen deren Vertretern...“ (Elias) ist von Kant schon längst zerschlagen worden. Es ist für Kant „nicht besonders schwer, die Blockade zu beseitigen, die unserem Denken durch die begriffliche Polarität <Natur und Gesellschaft> (physikalische Zeit und soziale Zeit) auferlegt wird, sobald man die Probleme der Zeit zu erforschen beginnt“ (Elias), da er zwischen Ding an sich und Erscheinung unterscheidet. Klar polarisiert er hier erneut, aber auf eine andere Art und Weise. Natur und Gesellschaft ist nämlich sowohl Erscheinung, als auch Ding an sich. Nur können wir laut Kant niemals zu einem noumenon vorstoßen. Wir haben es immer und ausschließlich mit Erscheinungen zu tun.
Und so verhält es sich auch mit der Zeit. Nach Kant ist die Zeit nur hinsichtlich der Erscheinungen von objektiver Gültigkeit, nicht hinsichtlich der Dinge an sich selbst. Sie ist daher empirisch real, das heißt objektiv gültig in Ansehung aller Sinnesgegenstände (Bsp.: Gesellschaft, Natur).
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