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Der Genozid in Ruanda 1994 – alleiniges Resultat der kolonialpolitischen Konstruktion einer Ethnie?

©2011 Hausarbeit (Hauptseminar) 34 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit widmet sich der Frage nach den Ursachen des Völkermordes von 1994, wobei im Zentrum die Überlegung steht, ob der er das alleinige Resultat der kolonialpolitischen Konstruktion einer Ethnie war.
Zuerst werden zur Einführung in die Thematik die Ereignisse im chronologischen Überblick seit der Unabhängigkeit Ruandas 1962 dargestellt. Das sich anschließende Kapitel beinhaltet dann die Untersuchung des Effektes von Feindbildern auf den Genozid. Um deren Wesen zu untersuchen, wird zunächst deren theoretische Vorbetrachtung unternommen. Im Anschluss daran erfolgt gemäß der Leitfrage die schwerpunktmäßige Analyse der kolonialpolitischen Konstruktion einer Ethnie, welche in der Konsequenz die Grundlegung von Feindbildern bedeutete. In einer Weiterführung dieser Analyse wird nachgezeichnet, wie durch die Politisierung der Ethnie im öffentlichen Diskurs ein weiterer Grundstein für die Ausprägung von ethnisch bedingten Feindbildern gesetzt wurde, bevor dann die politische Instrumentalisierung und explizite Formulierung drastischer Feindbilder genauer unter die Lupe genommen wird. Angesichts der enormen Grausamkeit der Ereignisse stellt sich zudem die Frage, welche weiteren, generalisierbaren Faktoren zum Genozid beigetragen haben. Aus diesem Grund wird an dieser Stelle eine kurze theoretische Zwischenbetrachtung vorgenommen. In einem weiteren thematischen Komplex werden dann neben den politischen Faktoren noch die sozialen genauer betrachtet. Den Ausgangspunkt dafür wird die Theorie von Thomas Robert Malthus bilden, der einen Zusammenhang zwischen Überbevölkerung und Nahrungsmittelknappheit feststellt. Im Zusammenhang der Transferierung dieses Grundgedankens auf die Situation in Ruanda werden die sozialen Faktoren des Genozids wie zum Beispiel die zu hohe Bevölkerungsdichte und Landknappheit untersucht, welche diesen strukturell begünstigt haben.
Der Aufsatz „Warum Völkermord in Ruanda?“ von Hartmut Dießenbacher stellte eine wichtige Literaturbasis dar. Seine Hypothese ist, dass der Völkermord infolge hoher Geburtenraten durch eine Überbevölkerung des Landes strukturell begünstigt wurde, sodass in der Konsequenz ein Zusammenhang von Zeugungs- und Tötungsverhalten konstatiert werden kann. Dieser demografische Ansatz ist in der Völkermordforschung noch relativ neu , gerade deshalb ist es aufschlussreich, den demografischen und sozialen Faktoren neben der politologischen Untersuchung von Feindbildern ein wenig Raum zu geben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Die genuine Irrationalität des Menschen

2. Chronologie des Genozids seit der Unabhängigkeit

3. Der Effekt von Feindbildern auf den Genozid
3.1 Theoretische Vorbetrachtungen zum Feindbild
3.2 Die Grundlegung von Feindbildern durch die kolonialpolitische Konstruktion einer Ethnie
3.3 Explizite Feindbilder
3.3.1 Die Politisierung der Ethnien im öffentlichen Diskurs
3.3.2 Die politische Instrumentalisierung und Ausformung der Feindbilder
3.3.3 Theoretische Deutungen des Genozids

4. Die Theorie von Thomas Robert Malthus
4.1 Das Bevölkerungsgesetz
4.2 Die Transferierbarkeit der Theorie auf Ruanda

5. Soziale Ursachen des Genozids
5.1 Ökologie, Bevölkerungswachstum und das Nahrungsproblem
5.2 Soziale Ungleichheit und vergiftetes soziales Klima

6. Rationalität des Irrationalen - Irrationalität des Rationalen

Anhang

Literatur- und Quellenverzeichnis

1. Die genuine Irrationalität des Menschen

Descartes, Voltaire, Rousseau, Kant - die Liste der Philosophen und aufklärerischen Denker, welche die Vernunft des Menschen betonen, ist lang. Viel länger ist jedoch die Liste jener Taten, die noch weit über das hinausgehen, was Thomas Hobbes mit dem menschlichen Naturzustand eines „Krieges aller gegen alle“ beschrieb.

Das Jahr 1994 spiegelte gleich beide menschliche Facetten wider: Zum einen wurde in Südafrika die Apartheid überwunden und im Zuge dessen Nelson Mandela als erster schwarzer Präsident des Landes vereidigt, zum anderen fand in Ruanda ein Genozid statt, bei dem die Welt ohne nennenswerte Intervention zusah, wie innerhalb weniger Wochen circa 800.000 Menschen ums Leben kamen. „Sie töteten, töteten und töteten, bis sie vom Töten müde geworden. Das Blut spritzte, floss am Boden als rote Schlammasse. Es waren so viele Leichen, dass du die deines eigenen Sohnes nicht hättest herausangeln können. Am Abend gingen sie dann nach Hause.“1 - so berichtete ein Überlebender eines Massakers in der Kirche von Gishamvu im Mai 1994.

Die vorliegende Arbeit widmet sich der Frage nach den Ursachen dieses Völkermordes, wobei im Zentrum die Überlegung steht, ob der Genozid des Jahres 1994 das alleinige Resultat der kolonialpolitischen Konstruktion einer Ethnie war. Selbst wenn er rational kaum erklärbar scheint, ist es wichtig, die Ursachen des Genozids zu verstehen, denn deren Klärung kann dazu beitragen, generelle Muster von Genoziden zu eruieren. Auf diese Weise besteht die Chance, genügend Wissen in der Hand zu haben, um derartige Vorkommnisse durch ein besseres Verständnis politischer und sozialer Faktoren in Zukunft verhindern zu können. Des Weiteren weist die Leitfrage eine Relevanz für die Bewertung der Kolonialpolitik auf, denn es kann herausgestellt werden, inwiefern diese zur schrecklichen Konsequenz des Genozids geführt hat. Da das Wort „alleinig“ in der Leitfrage bereits impliziert, dass neben den politischen noch weitere Ursachen vorliegen, kann zudem der Untersuchung von demografischen Faktoren wie Bevölkerungsdichte und -zahl hinsichtlich der Stabilität eines Enzwicklungslandes genug Raum gegeben werden.

Zuerst werden zur Einführung in die Thematik die Ereignisse im chronologischen Überblick seit der Unabhängigkeit Ruandas 1962 dargestellt. Das sich anschließende Kapitel beinhaltet dann die Untersuchung des Effektes von Feindbildern auf den Genozid. Um das Wesen von Feindbildern zu untersuchen, wird zunächst deren theoretische Vorbetrachtung unternommen. Im Anschluss daran erfolgt gemäß der Leitfrage die schwerpunktmäßige Analyse der kolonialpolitischen Konstruktion einer Ethnie, welche in der Konsequenz die Grundlegung von Feindbildern bedeutete. In einer Weiterführung dieser Analyse wird nachgezeichnet, wie durch die Politisierung der Ethnie im öffentlichen Diskurs ein weiterer Grundstein für die Ausprägung von ethnisch bedingten Feindbildern gesetzt wurde, bevor dann die politische Instrumentalisierung und explizite Formulierung drastischer Feindbilder genauer unter die Lupe genommen wird. Angesichts der enormen Grausamkeit der Ereignisse stellt sich zudem die Frage, welche weiteren, generalisierbaren Faktoren zum Genozid beigetragen haben. Aus diesem Grund wird an dieser Stelle eine kurze theoretische Zwischenbetrachtung vorgenommen. In einem weiteren thematischen Komplex werden dann neben den politischen Faktoren noch die sozialen genauer betrachtet. Den Ausgangspunkt dafür wird die Theorie von Thomas Robert Malthus bilden, der einen Zusammenhang zwischen Überbevölkerung und Nahrungsmittelknappheit feststellt. Im Zusammenhang der Transferierung dieses Grundgedankens auf die Situation in Ruanda werden die sozialen Faktoten des Genozids wie zum Beispiel die zu hohe Bevölkerungsdichte und Landknappheit untersucht, welche diesen strukturell begünstigt haben.

In methodischer Hinsicht wird im Wesentlichen nicht akteurstheoretisch, sondern strukturalistisch vorgegangen, denn wichtiger als die konkreten Motive einzelner Akteure sind die generellen politischen und sozialen Strukturen, welche den Genozid ermöglicht haben. Das methodische Problem bei der Untersuchung von Entwicklungsländern (im Prinzip gilt das für jeden Kulturkreis) liegt in kultureller Arroganz, welche andere Kulturen bei angenommener eigener Überlegenheit abwertend betrachten lässt.2 In dieser Arbeit soll vor diesem Hintergrund die simplifizierende Ansicht mancher europäischer Kommentatoren des Genozids vermieden werden, welche ein periodisches Abschlachten bei afrikanischen Stämmen als normal ansehen, weil es in ihrer Natur liege.3 Ein weiteres Problem ist der Begriff der Ethnie. Will man den Genozid unter Rückgriff auf den Begriff des ethnischen Konfliktes erklären, ergibt sich in der Konsequenz dessen, dass die Existenz von Ethnien apriorisch vorausgesetzt wird und „[…] dem Bedürfnis entgegenkommt, nicht nur die eigene Welt, sondern auch den Rest der Welt durch Akte der Grenzziehung, die Gleiches und Anderes klar und zuverlässig scheidet, in eine binäre Ordnung zu bringen.“4 Mit Aspekten der Ethnie wird daher nicht nur besonders vorsichtig umgegangen, sondern darüber hinaus wird auf sie gleichfalls besonders eingegangen. Selbst wenn man jedoch die kritische Meinung des Autors teilt und Ethnien als letztlich nur konstruiert betrachtet, muss aufgrund der sozialen Tatsachen des Konfliktes vorerst von deren faktischer Existenz ausgegangen werden. Ein weiteres methodisches Grundproblem ist die Definition und Anwendung des Genozid- Begriffes. In einigen Fällen ist dieser sicherlich kontrovers zu sehen, in Bezug auf Ruanda ist die Anwendungsmöglichkeit jedoch evident. Gemäß der „Genocide Convention“ der Vereinten Nationen vom Dezember 1948 „genocide means any of the following acts committed with interest to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group [...]“5. Als Mittel dazu wird unter anderem „Killing members of the group“6 erwähnt, was in Ruanda eindeutig der Fall gewesen ist.

Es wäre im Rahmen einer Analyse des Genozids sicherlich interessant, auch die internationale Politik einzubeziehen. So ließe sich untersuchen, inwiefern die Vorwürfe gegen Frankreich, das Land habe nichts unternommen, um den Genozid zu verhindern7, berechtigt sind und ob die UNO sich in Bezug auf eine Intervention falsch entschieden hat. In dieser Arbeit erfolgt jedoch nur eine Analyse der internen Faktoren in Ruanda, weil gemäß der Leitfrage das Ursachengefüge des Genozids, nicht jedoch die internationale Politik analysiert werden soll.

Wichtige Titel für diese Arbeit waren vor allem Jared Diamonds „Kollaps. Warum Kulturen überleben oder untergehen“8 sowie der von Leonhard Harding herausgegebene Sammelband „Ruanda - der Weg zum Völkermord“9. Auch der Aufsatz „Warum Völkermord in Ruanda?“10 von Hartmut Dießenbacher stellte eine wichtige Literaturbasis dar. Seine Hypothese ist, dass der Völkermord infolge hoher Geburtenraten durch eine Überbevölkerung des Landes strukturell begünstigt wurde, sodass in der Konsequenz ein Zusammenhang von Zeugungs- und Tötungsverhalten konstatiert werden kann.11 Dieser demografische Ansatz ist in der Völkermordforschung noch relativ neu12, gerade deshalb ist es im analytischen Rahmen dieser Arbeit aufschlussreich, den demografischen und sozialen Faktoren neben der politologischen Untersuchung von Feindbildern ein wenig Raum zu geben.

2. Chronologie des Genozids seit der Unabhängigkeit

Ruandas Bevölkerung besteht im Wesentlichen aus zwei großen sozialen Gruppen. Diese sind die Hutu mit einem Anteil von 85% an der Gesamtbevölkerung ebenso wie die Tutsi, die mit einem Anteil von 14% die Minderheit darstellen.13 Es existiert zwar noch eine weitere Gruppe, die Twa, welche aufgrund ihrer marginalen Bedeutung für den Genozid14 hier jedoch nicht weiter thematisiert wird.

Ruanda wurde 1962 unabhängig. Bereits im Vorfeld der näher rückenden Unabhängigkeit kämpften die Hutu darum, die Dominanz der Tutsi zugunsten eigener Vorherrschaft zu brechen.15 Es kam im Zuge dessen zu kleineren Übergriffen beider Seiten, die jedoch bald in einer verhängnisvollen Spirale aus gegenseitigen Vergeltungsschlägen kulminierten.16 Letztendlich siegten die Hutu und töteten 1963 circa 20.000 Tutsi, in Folge dessen flüchteten etwa eine Million Ruander, die meisten von ihnen Tutsi, in Nachbarländer.17

1973 kam der Hutu-General Habyarimana durch einen Putsch an die Macht und beendete die Gewaltakte. Unter seiner Führung verbesserte sich die Situation des Landes etwa 15 Jahre lang, bis ein Wirtschaftsabschwung sowie ökologische Probleme seine Macht gefährdeten.18 So kam es Habyarimana wohl durchaus gelegen, dass Tutsi aus Uganda im Oktober 1990 in den Norden Ruandas eindrangen, denn in Folge dessen hatte er - gemäß der Interpretation von Diamond - einen Vorwand, um diese verhaften zu können.19 Sabine Grund hingegen kommt zu einer differierenden Schlussfolgerung. Sie bemängelt die einseitige Wahrnehmung der Ereignisse als Völkermord an den Tutsi und betont dabei, dass ebenso viele Hutu durch die aus Uganda vordringenden Exil-Tutsi getötet wurden.20 Zudem hebt die Verfasserin hervor, dass in den ersten Wochen nach Ende des Mordes an den Tutsi circa 30.000 Hutu aus Rache ermordet worden seien.21 Vor dem Hintergrund dieser beiden Aspekte bezeichnet sie die Ereignisse als „zweifachen Völkermord.“22

Das Friedensabkommen von Arusha 1993 sollte durch eine Teilung der Macht und ebenso die Bildung einer Mehrparteienregierung die Gewalt beenden. Das Abkommen wurde allerdings von Habyarimana nahe stehenden Geschäftsleuten hintergangen, die circa 581.000 Macheten importierten, die sie mit klarer Intention an Hutu verteilen ließen23. Die Brutalität brach nicht vollkommen spontan aus, vielmehr wurde sie von den Hutu langfristig geplant. Dies zeigt sich am Aufbau von Milizen und Todesschwadronen sowie an spätestens seit Dezember 1993 organisierten „local security meetings“24, welche zur Identifizierung von Tutsi beitragen sollten.25 Hinzu kommt, dass Ruanda sich in starker Interdependenz mit seinen Nachbarstaaten, vor allem Burundi, befand, was sich an einer gegenseitigen Beeinflussung bei Gewaltausbrüchen manifestierte.26 In diesem Kontext war die Ermordung des burundischen Präsidenten, eines Hutu, im Oktober 1993 das Signal zum Völkermord an den Tutsi in Ruanda.27 Des Weiteren wurden bereits vor dem Völkermord Todeslisten angefertigt28, womit die Intention der radikalen Hutu prinzipiell schon im Voraus offensichtlich war. In Anbetracht dessen wird deutlich, dass der Genozid nicht wie in anderen Fällen von Entwicklungsländern auf Staatsversagen zurückzuführen ist, sondern im Gegenteil eine autoritäre staatliche Organisation bis in die Dörfer voraussetzte.29

Eine weitere Zuspitzung erfolgte im April 1994, als die ruandische Präsidentenmaschine auf dem Flugplatz der Hauptstadt abgeschossen wurde.30 Es ist bis heute nicht genau geklärt, wer für diesen Anschlag verantwortlich ist31, allerdings kann man mit recht hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es Hutu-Extremisten waren, denn es schien ihr Plan zu sein, nach Ausschaltung der gemäßigten Regierung selbst die Macht zu übernehmen.32 Die treibenden Kräfte waren zunächst extremistische Kreise aus der Armee, welche durch die Errichtung von Straßensperren sowie Verteilung von Waffen an Zivilisten eine organisierte Verfolgung der Tutsi betrieben.33 Wenn diese Zuflucht in öffentlichen Gebäuden suchten, kam es oft zu Massakern mit hunderten oder tausenden Toten, wobei gemäßigte Hutu, welche dies verhindern wollten, bedroht oder ebenfalls umgebracht wurden.34 Nach sechs Wochen waren Schätzungen zufolge circa 800.000 Tutsi getötet worden, was etwa drei Viertel dieser Gruppe im Land entspricht.35

International wurde der genozidale Bürgerkrieg in Hinsicht auf eine nötige humanitäre Intervention nicht ernst genommen. Im Gegenteil wurde mit einem Beschluss vom UN- Sicherheitsrat Ende April 1994 ein Großteil von den ursprünglich 2.500 eingesetzten Blauhelm-Soldaten aus dem Land abgezogen.36 Der Völkermord fand erst ein Ende, als die Bevölkerungswachstum. In: APuZ, Jg. 44 (1994), Nr. 31, S. 15. aus Exil-Tutsi bestehende Ruandische Patriotische Front (RPF) die extremistische HutuRegierung stürzen konnte.37

Im Folgenden soll es darum gehen, kausale Erklärungen für jene Chronologie des Grauens in Ruanda zu finden, zuerst soll dies auf Grundlage des theoretischen Modells von Feindbildern geschehen. Dazu werden zunächst dessen theoretischen Grundlagen dargestellt, bevor anschließend auf die konkrete Ausformung von Feindbildern eingegangen wird.

3. Der Effekt von Feindbildern auf den Genozid

3.1 Theoretische Vorbetrachtungen zum Feindbild

Generell beinhaltet ein Feindbild Annahmen über den Gegner in Bezug auf dessen Eigenschaften sowie langfristige Absichten und Fähigkeiten.38 Diese Annahmen entspringen dabei keineswegs einer rationalen Abwägung, sondern einer unreflektierten, sehr oberflächlichen Meinungsbildung, wobei eben diese zu Vorurteilen führt. „Vorurteile haben heißt, zu wissen glauben, ohne wirklich zu wissen, voreilig zu urteilen, ohne ausreichende oder sichere Belege, zu schlußfolgern, ohne die erforderliche Sicherheit.“39 Die für eine ausgewogene eigene Meinungsbildung so essenzielle Unterscheidung zwischen wahr und falsch wird dabei weitgehend aufgehoben40, stattdessen spielt die Einordnung von Wissen durch Stereotypisierung eine wichtige Rolle.41 Ein Stereotyp ist die vereinfachte Vorstellung von einem Objekt, welche nur indirekt der eigenen Erfahrung entspringt.42 Aufgrund dessen werden Informationen über das Objekt in bereits bekannte Kategorien eingeordnet, sodass daraus eine vorgefertigte Reaktion resultiert43, welche die Wahrnehmung „schablonenhaft“44 werden lässt. Dabei überwiegt die eigene Einstellung das Wissen.45 Vor diesem Hintergrund lässt sich mit Taguieff sagen, dass der Einfluss von Vorurteilen bei demjenigen besonders groß ist, „der die Herrschaft über sein Verständnis verloren hat.“46

Ein Ansatz zur Erklärung des Wesens von Vorurteilen geht von deren instrumentellem Wert aus, der sie zu einem Mittel für einen praktischen Zweck werden lässt.47 Wie sich bei Punkt 3.3 zeigen wird, kann im Zuge von politischer Instrumentalisierung auch Feindbildern eine derartige Rolle zukommen, zum Beispiel, um die eigene Macht zu stärken. Ausgehend von der Stereotypisierung, welche zu Vorurteilen führt, kann noch eine weitere plausible Erklärung48 zur Entstehung von Vorurteilen herangezogen werden. Vorurteile können sich auch beim Fehlen von persönlichen Erfahrungen mit der betreffenden Gruppe herausbilden.49 Dementsprechend wären nicht die Eigenschaften einer bestimmten Gruppe die Ursache für ein Vorurteil ihnen gegenüber, sondern vielmehr die Zuschreibung von Eigenschaften, welche eine Antipathie rechtfertigen kann.50 Als Konsequenz dessen lassen sich ethnische Merkmale als Folge, nicht jedoch als Ursache von Vorurteilen verstehen, womit dann eine sich selbst erfüllende Prophezeiung gegeben wäre.51 Abstrahiert man dieses Begründungsschema, weist es sich nicht nur in Bezug auf Vorurteile, sondern auch auf Feindbilder einen hohen analytischen Wert auf.

In analytischer Hinsicht kann eine Kausalkette von Stereotypen über Vorurteilen zu den Feindbildern konstatiert werden. Feindbilder bauen auf Vorurteilen auf und lassen sich somit als Verdichtung und Zuspitzung von diesen auffassen. Das zeigt sich besonders an einem für Feindbilder charakteristischen inferenten Wahrnehmungsmuster, welches bewirkt, dass jede neue Information über den Gegner sofort in den bereits vorhandenen Wissensrahmen eingebaut wird.52 Da dieser Wissensrahmen jedoch einer spezifisch subjektiven Sicht entspringt, ist die gesamte Informationsaufnahme dementsprechend geprägt. Damit im Zusammenhang steht eine selektive Wahrnehmung53, die sich vor allem auf die Wahrnehmung von Ereignissen fokussiert, welche die eigene Meinung - oder besser gesagt das eigene Vorurteil - unterstützen. Die Wahrnehmung des Gegners ist somit von Verzerrung geprägt54 und führt in der Konsequenz zu einer sich selbst verschärfenden Spirale aus Wahrnehmung des Gegners als Feind und Konfliktintensität. Der Grund dafür liegt darin, dass Feindbilder zu Handlungen führen, die den Gegner zu einem Gegenschlag provozieren und damit das Feindbild wiederum verstärken55, womit dann der erste Schritt in die Spirale der Gewalt gegangen ist. Grundlage für das Bestehen eines Feindbildes ist starkes Misstrauen gegenüber dem Gegner, welches dazu führt, dass dieser wie ein Objekt erscheint, das Angst hervorruft.56 Der Versuch einer Kompensation dieser Angst äußert sich wiederum in aggressiven Handlungen.57 Darüber hinaus charakterisieren sich Feindbilder durch den Hass auf den Gegner, welcher ihn zur Zielscheibe der eigenen Aggression macht.58 In diesem Zusammenhang ist zudem die Projektion negativ konnotierter Charakteristika auf den Feind zu sehen, der auf jene Weise zum Sündenbock wird59 und durch diese Art der Schuldzuschiebung die eigene Misere erklären soll.60 Der letzte Schritt zur Ausprägung eines Feindbildes ist dann die Entmenschlichung und Verteufelung des Gegners61, welche sich in Bezug auf Ruanda bei Punkt 3.3 noch explizit zeigen wird. Diese Verteufelung, durch die der Gegner quasi als das Böse personifiziert wird, geht mit einer Deindividualisierung einher. Das bedeutet, dass jeder, der zur bestimmten Feindgruppe gehört, automatisch als Feind angesehen wird, auch wenn er es persönlich gar nicht ist.62 Die Folgen von Feindbildern sind sehr langfristig, weil sich Wandlungen nur langsam im Bewusstsein, welches auf stabilen Perzeptionsmustern basiert, durchsetzen.63

[...]


1 Zayasi Kanamugere, zitiert nach Marx, Jörg: Völkermord in Rwanda. Zur Genealogie einer unheilvollen Kulturwirkung. Eine diskurshistorische Untersuchung. (= Demokratie und Entwicklung Band 25.) Hamburg 1997, S. 3.

2 In Bezug auf die Durchsetzung universeller Menschenrechte ist eine derartige Sichtweise nötig wie auch gleichfalls legitim, aber an über die Menschenrechte hinausgehende kulturelle Aspekte sollte, wenn man keiner kulturellen Arroganz unterliegen will, ein partikularer statt eines universellen Maßstabes angelegt werden.

3 Vgl. Prunier, Gerard: The Rwanda crisis: history of a genocide. London 2008, S. 140.

4 Marx, Völkermord in Rwanda, S. 98.

5 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. Unter: http://treaties.un.org/doc/Treaties/1951/01/19510112%2008-12%20PM/Ch_IV_1p.pdf ; S. 11 ; Zugriff am 28.2.2011 um ca. 16.15 Uhr

6 ebd.

7 Vgl. Dießenbacher, Hartmut: Warum Völkermord in Ruanda?. Wie Bevölkerungswachstum und knappes Land die Massaker und den Bürgerkrieg begünstigt haben. In: Leviathan, Jg. 23 (1995), Nr. 2, S. 176.

8 Diamond, Jared: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Frankfurt am Main 2005.

9 Harding, Leonhard (Hrsg.): Ruanda - der Weg zum Völkermord. Vorgeschichte - Verlauf - Deutung. (= Studien zur Afrikanischen Geschichte Band 20.) Hamburg 1998.

10 Die komplette Angabe dazu findet sich bereits in Fußnote Nr. 7.

11 Vgl. Dießenbacher, Warum Völkermord in Ruanda?, S. 165.

12 Vgl. ebd., Fußnote Nr. 1.

13 Vgl. Grund, Sabine: Ruanda: Der zweifache Völkermord. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 53 (2008), Nr. 5, S. 22.

14 Abzüglich des Anteils von 85% Hutu und 14% Tutsi kommt den Twa nur ein Anteil von 1% an der Gesamtbevölkerung zu. Da in der Fachliteratur zudem nie von deren Beteiligung am Genozid zu lesen ist, kann auf die marginale Bedeutung geschlossen werden.

15 Vgl. Diamond, Kollaps, S. 391.

16 Vgl. ebd.

17 Vgl. ebd.

18 Vgl. ebd.

19 Vgl. ebd., S. 392.

20 Vgl. Grund, Ruanda: Der zweifache Völkermord, S. 22.

21 Vgl. ebd., S. 24.

22 ebd., S. 22. Um diese These zu verifizieren, müsste eine wesentlich tiefgründigere Analyse des Mordes von Tutsi an Hutu erfolgen, die im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht erfolgen kann. Unabhängig davon fokussiert sich diese Arbeit auf den Völkermord von Hutu an Tutsi, weil dessen Analyse in Bezug auf die Feindbilder besser erforscht und somit ergiebiger ist.

23 Vgl. Diamond, Kollaps, S. 392.

24 Dießenbacher, Hartmut: Bürgerkrieg und Völkermord in Ruanda. Ethnischer Klassenkonflikt und

25 Vgl. ebd.

26 Vgl. Marx, Völkermord in Rwanda, S. 30f.

27 Vgl. ebd., S. 33.

28 Vgl. Dießenbacher, Bürgerkrieg und Völkermord in Ruanda, S. 15.

29 Vgl. Mathieu, Hans: Wege aus der Hölle?. Ethik und Praxis humanitärer Intervention und der Völkermord in Ruanda. In: Internationale Politik und Gesellschaft, Jg. unbekannt (2004), Nr. 2, S. 187.

30 Vgl. Diamond, Kollaps, S. 392.

31 Der Abschuss des Flugzeuges wurde noch nicht gerichtlich untersucht und auch der Flugschreiber der Maschine wird immer noch bei der UNO in New York unter Verschluss gehalten. Vgl. dazu Grund, Ruanda: Der zweifache Völkermord, S. 23.

32 Vgl. Diamond, Kollaps, S. 392f.

33 Vgl. ebd., S. 393.

34 Vgl. ebd.

35 Vgl. ebd., S. 394.

36 Vgl. Hasenclever, Andreas: Die Macht der Moral in der internationalen Politik. Militärische Interventionen westlicher Staaten in Somalia, Ruanda und Bosnien-Herzegowina. Frankfurt/New York 2001, S. 289.

37 Vgl. Telöken, Stefan u.a.: Zur Lage der Flüchtlinge in der Welt. UNHCR-Report 1997-98. Bonn 1997, S. 21.

38 Vgl. Frei, Daniel: Wie Feindbilder entstehen. In: Wagenlehner, Günther (Hrsg.): Feindbild. Geschichte - Dokumentation - Problematik. Frankfurt am Main 1989, S. 222.

39 Taguieff, Pierre-Andre: Die Macht des Vorurteils. Der Rassismus und sein Double. Hamburg 2000, S. 169.

40 Vgl. ebd., S. 204.

41 Vgl. ebd., S. 248.

42 Vgl. Jegorowa, Jekaterina und Pleschakow, Konstantin: Modelle und Stereotypen im militärpolitischen Denken und ihre Funktion. In: NOWOSTI - Militärbulletin Nr. 3 vom 30.1.1989. Abgedruckt in: Wagenlehner (Hrsg.), Feindbild, S. 240.

43 Vgl. ebd.

44 ebd.

45 Vgl. ebd.

46 Taguieff, Die Macht des Vorurteils, S. 204.

47 Vgl. ebd., S. 246.

48 Genau genommen gibt es noch weitere Erklärungen für die Entstehung und Verbreitung von Vorurteilen. Neben den erwähnten können auch soziokulturelle Ansätze, Ansätze bei der Persönlichkeitsstruktur sowie Ansätze in phänomenologischer Hinsicht und in Bezug auf das Reizobjekt herangezogen werden. Vgl. dazu Taguieff, Die Macht des Vorurteils, S. 246-248. Diese Ansätze haben gegenüber den beiden erwähnten jedoch eine geringere Relevanz und werden - auch aus Platzgründen - hier nicht weiter thematisiert.

49 Vgl. Taguieff, Die Macht des Vorurteils, S. 247.

50 Vgl. ebd.

51 Vgl. ebd.

52 Vgl. Frei, Wie Feindbilder entstehen, S. 223. Insgesamt charakterisiert Frei Feindbilder in Bezug auf die

sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, wofür er 24 Merkmale nennt. Einige von diesen haben jedoch einen generalisierbaren Aussagewert und werden aus diesem Grund hier verwendet.

53 Vgl. ebd.

54 Vgl. ebd., S. 226.

55 Vgl. ebd.

56 Vgl. Jegorowa, Jekaterina: „Feindbild“, die Angst der Menschen voreinander bedroht ihre psychische Gesundheit. In: NOWOSTI - Militärbulletin Nr. 16 vom 19.9.1988. Abgedruckt in: Wagenlehner (Hrsg.), Feindbild, S. 239.

57 Vgl. ebd.

58 Vgl. Lapide, Pinchas: Auf Entfeindungsliebe kommt es an. Von der missverstandenen Bergpredigt. In: Wagenlehner (Hrsg.), Feindbild, S. 231.

59 Vgl. ebd.

60 Vgl. Wagenlehner, Günther: Feindbild. Einführung. In: ders. (Hrsg.), Feindbild, S. 7.

61 Vgl. Lapide, Auf Entfeindungsliebe kommt es an, S. 231.

62 Vgl. Wagenlehner, Feindbild, S. 7.

63 Vgl. Jegorowa/Pleschakow, Modelle und Stereotypen im militärpolitischen Denken und ihre Funktion, S. 241.

Details

Seiten
Jahr
2011
ISBN (eBook)
9783640953394
ISBN (Paperback)
9783640952960
DOI
10.3239/9783640953394
Dateigröße
649 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Rostock
Erscheinungsdatum
2011 (Juli)
Note
1,3
Schlagworte
Genozid Ruanda 1994 Kolonialpolitik Ethnie Völkermord Tutsi Hutu
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