Die selbsterfüllende Prophezeiung im Schulwesen
Wie die Erwartungshaltungen der Lehrkräfte das Leistungsvermögen ihrer Schüler beeinflussen
Zusammenfassung
bereits seit Jahrzehnten die empirische Wissenschaft beschäftigt, ist sie dennoch aktuell und
bietet zahlreiche Forschungsfragen, die bislang nicht eindeutig geklärt werden konnten.
Während erste Studien zu den Auswirkungen von Lehrererwartungen auf Schülerleistungen
noch scheinbar skandalöse Ergebnisse hervorbrachten und die Diskussion entfachten, ob
Lehrkräfte somit maßgeblich für das Zustandekommen von schulischen und folglich sozialen
Ungleichheiten verantwortlich seien, konnten zahlreiche spätere Studien zeigen, dass eine
derart vereinfachte Sichtweise nicht ausreichend ist, um das weite Feld dieses Themas
angemessen darzustellen.
In der folgenden Arbeit soll nun aufgedeckt werden, was die Forschung bisher zeigen konnte
und welche Aspekte weiterhin Fragen aufwerfen.
Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
2 Die selbsterfüllende Prophezeiung im Schulkontext
2.1 Allgemeines
2.2 Bisherige Forschung
2.3 Grenzen der selbsterfüllenden Prophezeiung
3 „Do Self-Fulfilling Prophecies Accumulate, Dissipate, or Remain Stable Over Time?“ (Eccles, Jussim & Smith, 1999) – eine Studie im Überblick
3.1 Hypothesen
3.2 Methode
3.3 Ergebnisse
3.4 Bewertung und Implikationen
4 Fazit
5 Literatur
Obwohl die Diskussion um die Effekte der sogenannten selbsterfüllenden Prophezeiung bereits seit Jahrzehnten die empirische Wissenschaft beschäftigt, ist sie dennoch aktuell und bietet zahlreiche Forschungsfragen, die bislang nicht eindeutig geklärt werden konnten. Während erste Studien zu den Auswirkungen von Lehrererwartungen auf Schülerleistungen noch scheinbar skandalöse Ergebnisse hervorbrachten und die Diskussion entfachten, ob Lehrkräfte somit maßgeblich für das Zustandekommen von schulischen und folglich sozialen Ungleichheiten verantwortlich seien, konnten zahlreiche spätere Studien zeigen, dass eine derart vereinfachte Sichtweise nicht ausreichend ist, um das weite Feld dieses Themas angemessen darzustellen.
In der folgenden Arbeit soll nun aufgedeckt werden, was die Forschung bisher zeigen konnte und welche Aspekte weiterhin Fragen aufwerfen.
1 Einleitung
Dass unser Denken und Handeln stets durch unsere Umwelt beeinflusst wird, ist allgemein bekannt. Wir treffen beispielsweise Entscheidungen weder rational, noch vollkommen bewusst und ebenso wenig sind wir uns über die Mechanismen im Klaren, die unsere kognitive Verarbeitung ausmachen. Soziale Schemata, Stereotypen und Vorurteile sind Teil dieses Prozesses und helfen dabei, die Vielzahl an Informationen aus unserer Umwelt zu strukturieren, wodurch eine schnellere kognitive Verarbeitung, ein „Denken ohne Mühe“ (Aronson, Wilson & Akert, 2008) ermöglicht wird.
Auch selbsterfüllende Prophezeiungen gehören zu diesen unbewussten Mechanismen und gründen sich auf Erwartungen, die wir bezüglich einer anderen Person haben. Die selbsterfüllende Prophezeiung ist hierbei als Vorgang zu verstehen, bei welchem bestimmte Erwartungen, die ein Individuum einer Person gegenüber hat, dazu führen, dass sich diese Person den Erwartungen entsprechend verhält. Dieses erwartungskonforme Verhalten wird dadurch verursacht, dass sich der „Sender“ der „Zielperson“ gegenüber bereits seiner Erwartungshaltung entsprechend verhält, was wiederum dazu führt, dass die „Zielperson“ das erwartete Verhalten zeigt (Aronson, Wilson & Akert, 2008). Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen: Ein auffällig gekleideter männlicher Teenager mit Migrationshintergrund führt eine Umfrage in einer Einkaufsmeile durch und spricht einen ihm unbekannten älteren Mann an. Dieser Mann hat beispielsweise Vorurteile gegenüber der „heutigen Jugend“, insbesondere gegenüber ausländisch aussehenden Jugendlichen, die seiner Einschätzung nach meist zu Straßengangs gehören. Entsprechend besagter Vorurteile reagiert der Mann abweisend und geht kopfschüttelnd an dem Jungen vorbei, woraufhin dieser leise aber hörbar eine Beleidigung ausspricht. Der alte Mann sieht dieses Verhalten als Bestätigung seiner Erwartung an, wodurch seine Vorurteile aufrecht erhalten und auf weitere Personen übertragen werden.
Dieses Beispiel zeigt nicht nur, wie eine Erwartungshaltung im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung bestätigt werden kann, sondern es verdeutlicht auch, wie soziale Schemata in diesen Prozess integriert sind. Zwar müssen selbsterfüllende Prophezeiungen nicht immer auf Vorurteilen bestimmten Gruppen gegenüber basieren, jedoch sind Stereotype oftmals Grundlage für eine Erwartungshaltung. Wie bereits erwähnt, erfüllen diese mentalen Kategorien den Zweck der vereinfachten Wahrnehmung und somit der Beschleunigung der Informationsverarbeitung, zudem liefern sie wichtige Anhaltspunkte, wie sich ein Individuum in bestimmten Situationen verhalten sollte. Neben dieser positiven und notwendigen Funktion bieten sie jedoch auch Nährboden für soziale Probleme: Sobald sich Erwartungshaltungen gegenüber bestimmten stigmatisierten Gruppen manifestieren und durch selbsterfüllende Prophezeiung aufrecht erhalten werden – wie in obigem Beispiel zu sehen - , kann es schnell zu Benachteiligungen dieser Gruppen durch die Gesellschaft kommen. Beispiele hierfür können im Extremfall Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Diskriminierung sein.
Die selbsterfüllende Prophezeiung bietet nicht nur im Bezug auf soziale Probleme und individuelle Benachteiligungen Diskussionsmaterial, sie wirft auch die Frage auf, in wieweit sie für das Zustandekommen von Ungleichheiten im Schulkontext verantwortlich ist. Wenn Lehrer ihren Schülern gegenüber bestimmte Erwartungen haben, dann sollte sich dies auf ihre schulischen Leistungen auswirken: Positiv bewertete Schüler hätten demnach Vorteile im Vergleich zu Schülern, die als weniger leistungsfähig eingeschätzt werden, was nicht nur den Lernerfolg einiger Schüler behindern, sondern auch die Kluft zwischen „guten“ und „schlechten“ Schülern vergrößern sollte. Unterschätze Schüler blieben somit hinter ihrem eigentlichen Potential zurück, während überschätzte Schüler die Chance bekämen, ihre Leistungen zu steigern. Wichtig ist hierbei, den Lehrern keine absichtliche Bevorzugung einzelner Schüler zu unterstellen – Erwartungen beeinflussen das Verhalten unbewusst und sind infolgedessen nur schwer kontrollierbar. Für selbsterfüllende Prophezeiungen heißt dies, dass sie als unabsichtliche Handlungen und Beispiele für automatisches Denken zu verstehen sind (Chen & Barghi, 1997, zit. nach Aronson, Wilson & Akert, 2008).
Wie bereits angemerkt, können selbsterfüllende Prophezeiungen beträchtliche Konsequenzen mit sich ziehen. In dieser Arbeit soll nun der Frage nachgegangen werden, in welchem Ausmaß Erwartungen seitens der Lehrer die Leistungen ihrer Schüler beeinflussen und unter welchen Bedingungen sich die Erwartungseffekte als besonders stark erweisen. Zu diesem Zweck werden zunächst einige Studien und deren Ergebnisse unter Rückgriff auf eine Review-Studie von Harber und Jussim („Teacher Expectations and Self-Fulfilling Prophecies: Knowns and Unknowns, Resolved and Unresolved Controversies“, 2005) vorgestellt sowie Rahmenbedingungen und Grenzen der selbsterfüllenden Prophezeiung aufgezeigt. Weiterhin wird die Studie „Do Self-Fulfilling Prophecies Accumulate, Dissipate, or Remain Stable Over Time?“ (Eccles, Jussim & Smith, 1999) mit der Frage, ob Lehrererwartungen Langzeiteffekte verursachen, stabil bleiben oder sich mit der Zeit auflösen, gesondert betrachtet und in den Gesamtzusammenhang der bisherigen Forschung eingebettet.
2 Die selbsterfüllende Prophezeiung im Schulkontext
Unterschiede zwischen Schülerleistungen basieren einerseits auf tatsächlichen Fähigkeitsunterschieden, können andererseits jedoch auch durch falsche Lehererwartungen hervorgerufen werden. Eine der ersten und bedeutendsten Studien über die selbsterfüllende Prophezeiung und ihre Auswirkungen im Unterricht stammt von Rosenthal und Jacobson (1968): Sie untersuchten den Effekt von falsch induzierten Erwartungen der Lehrer bezüglich ihrer Schüler und kamen zu verheerenden Ergebnissen, welche in den folgenden Abschnitten genauer erläutert werden. Zunächst sollen jedoch einige allgemeine Merkmale der selbsterfüllenden Prophezeiung dargestellt werden.
2.1 Allgemeines
Selbsterfüllende Prophezeiungen als unbewusste Einflüsse auf das Verhalten anderer können zu dramatischen Effekten führen. Als ein schulbezogenes Beispiel sei das Auswahlverfahren zu nennen, mit dem Colleges unter ihren Bewerbern selektieren, dem sogenannten SAT-Test.
Jungen schneiden in den Bereichen Mathematik und Sprachbeherrschung in der Regel besser ab als Mädchen, wodurch sich die Collegeaufnahme mangels Vertrauen in die eigenen Kompetenzen für Mädchen als schwieriger erweist (Gallagher, Levin & Cahalan, 2002; Molete, 2004; Stumpf & Stanley, 1998, zit. nach Aronson, Wilson & Akert, 2008). Dieser Effekt ist insbesondere deshalb als dramatisch anzusehen, da die Ausbildungschancen über spätere berufliche Postionen und den weiteren Lebenslauf der Jugendlichen entscheiden. Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Jungen können nicht allein biologisch erklärt werden. Werden Lehrer befragt, welche ihrer Schüler wohl die begabtesten seien, so verweisen sie meist auf Jungen (Aronson, Wilson & Akert, 2008). Jussim und Eccles (1992, zit. nach Aronson, Wilson & Akert, 2008) zufolge sind Lehrkräfte sogar bewusstermaßen der Meinung, Jungen seien intelligenter und könnten bessere Leistungen erbringen als Mädchen. Zu ähnlichen Einschätzungen kommen Eltern bezüglich der Begabung ihrer Kinder und auch Jugendliche selbst schätzen ihre Fähigkeiten dementsprechend ein (Bhanot & Jovanovic, 2005; Yee & Eccles, 1988, zit. nach Aronson, Wilson & Akert, 2008). Diese Ergebnisse werfen die Frage auf, ob schlechtere schulische Leistungen von Mädchen auf die generell verbreitete Annahme, sie seien weniger intelligent als Jungen, im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung zurückzuführen sind. Gegen diesen Ansatz spricht jedoch der Entwicklungstrend der letzten Jahrzehnte, nach welchem der Mädchenanteil mit Hochschulabschluss stetig angestiegen und der Anteil der Jungen hinter diesem zurückgeblieben ist.
Neben den Schülerleistungen nehmen an sozialen Schemata orientierte Erwartungen auch Einfluss auf die Jobsuche: So wurde beispielsweise festgestellt, dass Interviewer in Bewerbungsgesprächen häufig nach bestimmten Erwartungen agieren und somit das Verhalten der Bewerber beeinflussen; dabei kommt es am häufigsten zu selbsterfüllenden Prophezeiungen, wenn der Interviewer unkonzentriert ist und die persönlichen, nicht schemakonformen Besonderheiten des Kandidaten außer Acht lässt (Blesanz, Neuberg, Smith, Asher & Judice, 2001; Harris & Perkins, 1995, zit. nach Aronson, Wilson & Akert, 2008). Erschwerend kommt hinzu, dass sich Schemata aufgrund ihres automatischen Ablaufs gegenüber Veränderungen als sehr resistent erweisen.
Aus der Perspektive derer betrachtet, die selbsterfüllende Prophezeiungen als Mitverursacher sozialer Probleme ansehen, sind die aus ihnen resultierenden Effekte dramatisch, weit verbreitet und nehmen sogar gravierenden Einfluss auf die Intelligenz von Schülern, wobei negative Erwartungen stärkere Effekte hervorrufen als positive. Zudem ist die Annahme, dass selbst kleine Effekte mit der Zeit akkumulieren können, eine allgemeine Befürchtung unter Vertretern dieser Sichtweise. Im folgenden Abschnitt gilt es nun zu klären, was die Forschung bisher nachweisen konnte und welche dieser Befürchtungen gerechtfertigt sind.
2.2 Bisherige Forschung
Die bisherige Forschung liefert die unterschiedlichsten Ergebnisse zu den Auswirkungen der selbsterfüllenden Prophezeiung im Schulkontext. Einige der Wichtigsten sollen anhand der Review-Studie „Teacher Expectations and Self-Fulfilling Prophecies: Knowns and Unknowns, Resolved and Unresolved Controversies“ (2005) von Harber und Jussim im Folgenden vorgestellt werden.
Eine der ersten und einflussreichsten Studien zum Thema selbsterfüllende Prophezeiung im Schulwesen ist die bereits angesprochene „Pygmalion in the Classroom“-Studie von Rosenthal und Jacobson (1968). Sie führten mit Kindern im Kindergartenalter bis zur fünften Klasse einen nonverbalen Intelligenztest, namentlich TOGA, durch, wobei den Lehrern nicht mitgeteilt wurde, dass es sich um einen Intelligenztest handelte – ihnen sagten sie, der Test helfe, Kinder zu identifizieren, die das Potential hätten in der nächsten Zeit hinsichtlich ihrer Leistungen „aufzublühen“. Tatsächlich jedoch handelte es sich bei den „Aufblühern“ um rein zufällig ausgewählte Schüler, die sich nicht von den anderen Kindern unterschieden.
Insgesamt wurden 20% der Schüler als „Aufblüher“ deklariert, wobei die Lehrer Informationen erhielten, um welche Kinder es sich handelte. Hierdurch sollte der Einfluss der Überschätzung einiger Schüler auf deren IQ getestet werden.
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