"In lebhaftester Unruhe"
Zur Bedeutung nonverbaler Kommunikation in Heinrich von Kleists "Marquise von O..."
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. EINFÜHRUNG: ZUR BEREDSAMKEIT DES KÖRPERS BEI KLEIST
Exkurs: Zu den zeitgenössischen Erkenntnissen über die körperliche Beredsamkeit
2. »IN LEBHAFTESTER UNRUHE« - SZENEN (UN-)TRÜGLICHEN GEBARENS
2.1 Der Heiratsantrag
2.2 Der Schuss
2.3 In der Gartenlaube
2.4 Die Aussöhnung
3. KÖRPERSPRACHE ALS SCHLÜSSEL ZUR WAHRHAFTIGKEIT
Denn jede Regung des Gemüts hat von Natur ihren charakteristischen Ausdruck in Miene, Tonfall und Gebärde. Der ganze Körper eines Menschen, sein gesamtes Mienenspiel und sämtliche Register seiner Stimme klingen wie die Saiten eines Instruments, so wie sie jeweils die betreffende Gemütsbewegung anschlägt.1
1. EINFÜHRUNG: ZUR BEREDSAMKEIT DES KÖRPERS BEI KLEIST
Erstmals hat wohl Cicero dergestalt auf die Verbindung von Seele und Körpersprache hinge- wiesen.2 Der Klang einer Stimme, die das Wort spricht, kann in der Literatur nur beschrieben werden, sie bleibt dennoch nicht-hörbar. Mit dem beschriebenen Körper, seiner Beschaffen- heit und seinen Bewegungen verhält es sich hinsichtlich seiner Sichtbarkeit ebenso. Und trotzdem kann all dies im- und durch den Text transportiert werden. Erzähltes Mienen- und Gebärdenspiel erweist sich als umso wichtiger, je weniger die literarischen Figuren direkt sprechen - oder je öfter sie einer Sprachlosigkeit auf der diegetischen Ebene verfallen. Bei Kleist etwa verhält es sich mitunter so, dass Worte fehlen oder den Worten nicht immer zu trauen ist. Andererseits ist die nonverbale Kommunikation sehr ausgeprägt; es wird geweint, gelacht, bedrängt, geherzt, gefleht und errötet. Eine Ungewissheit auf Seiten des Lesers be- züglich der Glaubwürdigkeit der Figuren wird durch deren Sprache zumeist nicht zu reduzie- ren, sondern eher zu forcieren versucht. Doch die zum Teil trügerisch konstruierte verbale Kommunikation steht nicht allein, sondern wird durch eben solche körperlichen Zeichen er- gänzt, vielerorts ist sogar eine Konzentration auf selbige zu bemerken. Nuanciert beschreibt Kleist mitunter Blicke und Gesten in der zwischenmenschlichen Kommunikation und verhilft dem Leser damit zur Hinzugewinnung einer weiteren Dimension. Vor dem Hintergrund seiner Zeit und der Einwirkung der Tradition der Moralistik vermag die nonverbale Kommunikation im Text fast schon als Schlüssel für dessen Deutung gelten zu können. Eben hier scheint Kleist auf das Ansinnen der Aufklärung zu reagieren, die »auf maximale Offenheit« zielt, denn »gegen die Verstellungskunst des Hofes [sehnt] sich das aufstrebende Bürgertum nach Ehrlichkeit, Natürlichkeit, Aufrichtigkeit«3. Es werden Künste der Täuschung angewendet, sogar in Bezug auf jene körperlichen Zeichen wie die Ohnmacht - sie sind bei Kleist also ebenfalls nicht unkritisch hinzunehmen - denn sie können einer höfischen Verhaltensweise entsprechen, fingiert sein, um den Druck der herrschenden Moralität zu umgehen. Handelt es sich beispielsweise bei der Ohnmacht der Marquise von O..., die sich als folgenschwer erwei- sen wird, um Schauspielkunst? Gerade die Folgen, denen oft mit Sprachlosigkeit begegnet wird, lenken den Fokus auf die Körpersprache innerhalb der zwischenmenschlichen Kommu- nikation zurück. Kleist setzt die Sprachreflexion der Aufklärung fort, indem er »diese[...] bei- den Erscheinungsformen des Verhältnisses von Körper und Sprache - nämlich lebendige Re- de auf der einen und Körpersprache auf der anderen Seite«4 verwendet.
Kann dem Wort der Figur nicht einmal mit Vorbehalt getraut werden, muss sich der Leser anderer Möglichkeiten bedienen, etwa pathognomischer Kenntnisse. Schon zu Kleists Zeiten wurde zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Körperzeichen unterschieden, wie es etwa Georg Christoph Lichtenberg tat: »Pathognomik lügt nicht, ›denn es gibt eine unwillkürliche Gebärden-Sprache, die von den Leidenschaften in allen ihren Gradiationen über die ganze Er- de geredet wird‹«5. Konventionell etwa werden das Weinen und Erröten als unwillkürliche Zeichen verstanden, d.h. sie können vom betreffenden Individuum nicht gesteuert oder beein- flusst werden. Diese Zeichen scheinen über eine Eigenschaft der Gewissheit zu verfügen, doch wie schon oben angedeutet, können sie durchaus auch vorgetäuscht werden, etwa von einem professionellen Schauspieler. Hier würde Lichtenbergs These unterlaufen werden.
In der folgenden Betrachtung wird »Die Marquise von O...« in Augenschein genommen, denn in Hinblick auf die oft trügerisch anmutende direkte Rede vermögen bei Kleist die körper- sprachlichen Zeichen über eine Ergänzung verbaler Inhalte hinausweisen zu können. Hierzu werden einige prägnante Szenen herangezogen, die nicht zuvörderst ausgedeutet, sondern analysiert und endlich einer wissenschaftlichen Diskussion ausgesetzt werden sollen.
Exkurs: Zu den zeitgenössischen Erkenntnissen über die körperliche Beredsamkeit
Die Gestik, so führte Cicero schon in seiner Schrift »De Oratore« aus, sei gewissermaßen die Beredsamkeit des Körpers. Die eloquentia corporis bildete im System der Antike und im Rahmen einer »mündliche[n] Aufführung einer Rede oder Theaterrolle (actio) das letzte Sta- dium, nämlich das der körperlichen Beredsamkeit […]. Dies gliedert sich in Aussprache (pro- nuntiatio) sowie Mimik des Gesichts (vultus) und körperliche Gestik (gestus).«6 Im Kontext dieser Untersuchung interessieren vor allem vultus, noch mehr aber gestus, zudem ist anzu- merken, dass es sich bei den ausgewählten Szenen nicht unbedingt um solche handelt, in de- nen eine Rede im o.g. Sinne vorgetragen wird. Dennoch lassen sich die Thesen, beispielswei- se von Willkürlichkeit und Unwillkürlichkeit körperlicher Zeichen auf diesen Zusammenhang übertragen. So kann sich die eloquentia corporis einerseits als entrhetorisiert unwillkürlich zeigen, das heißt als technikfreier körpersprachlicher Ausdruck7 und dementsprechend ande- rerseits als willkürlich, der Technik und also der potentiellen Manipulation des Ausführenden unterworfen. Ursula Geitner bezieht sich in ihrer Untersuchung zwar auf den Pietismus, doch erscheinen ihre Aussagen zur Theorie von Friedrich Andreas Hallbauer für den hier vorlie- genden Zusammenhang sehr fruchtbar. So konstatiert sie unter anderem, dass »[d]ie freie Ver- fügbarkeit über die (körper-)sprachlichen Zeichen zum Spiel [verführt]. Erfahrbar wird, daß überzeugend wirken kann, was sich der Sprache des Herzens nicht fügt, sondern sich von ih- ren unmittelbaren Botschaften möglicherweise gerade absetzt. Die Gebärdung des Pietisten ist deshalb dem Zweifel ausgesetzt.«8 Auch ist die Gebärdung der literarischen Figur, gerade wenn Misstrauen und Täuschung nicht ausgeschlossen werden können, daher dem Zweifel auszusetzen.
Kleist versetzt seine Figuren oft in Krisen- bzw. Extremsituationen, in denen- und mit denen sie umgehen müssen. Genauso oft derlei Situationen eintreffen, versagt den Figuren ihre Sprache oder ihre Sprache erscheint vor dem Hintergrund ihrer individuellen oder sozialen8 Bedrängnisse unglaubwürdig. Hier ist dann erst recht das Augenmerk auf die Körpersprache zu richten, welche »Teil des Zeichenangebotes des literarischen Textes [ist], das insbesondere für die Interaktion der Figuren und ihren unwillkürlichen Gefühlsausdruck von Bedeutung ist.«9 Im zeitgenössischen Kontext »besitzt die Körpersprache gegenüber der gesprochenen Sprache nicht nur den Vorzug der Unwillkürlichkeit, sondern vor allem den der Nähe zur Na- tur, und damit zur Wahrheit«10. Lichtenberg wie Oschmann unterstellen der körperlichen Be- redsamkeit ein hohes - wenn nicht das höchste - Maß an Zuverlässigkeit im Sinne von Wahr- haftigkeit. Dennoch schreibt Lichtenberg in seiner Physiognomikkritik der willkürlichen Aus- führung der Körpersprache eine größere Dominanz zu - bei unwillkürlichen Gebärden träfe daher »jener seltene Fall unkontrollierter Emotion und Exaltion [ein], welcher Rückschlüsse auf das eigentliche Befinden zuläßt.«11 Das eigentliche Befinden einer Person bzw. Figur wird also nicht in adäquater Form kommuniziert, wenn es etwa durch Verstellungskünste ver- schleiert wird. Hier hebt Geitner den Naturbegriff hervor; mit diesem sei »eine moralische Kategorie eingeführt. […] Die natürlichen Worte und Gesten verweisen auf ein Inneres, wel- ches, nicht ferner durch künstliche Eingriffe verstellt, nun als für andere zugänglich ge- dacht«12 werden muss. Es scheinen also, auch wenn das Gebaren mitunter durch Verstellung modifiziert ist, zumindest Verweise im Gebaren erkennbar werden zu können; Verweise auf das natürliche Innere, das Eigentliche.
Vor diesem Hintergrund soll »Die Marquise von O...« einer neuerlichen Lektüre unterzogen werden, mi]t fokussiertem Blick auf die nonverbale Kommunikation, vornehmlich der Geste, die »eine intime Beziehung zum Gefühl [unterhält], zur Sprache des Inneren. In diesem Sinne ist sie eigentlicher, elementarer und aufrichtiger als das Wort, das als unmotiviertes Zeichen der Willkür unterliegt.«13
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1 Cicero, Marcus Tullius: De Oratore. Der Redner, hgg. v. Harald Merklin. Stuttgart 1986, S. 582f. Zitiert nach: Košenina, Alexander: Literarische Anthropologie - Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008, S. 149.
2 Vgl. Košenina, Alexander: Literarische Anthropologie, ebd.
3 Košenina, Alexander: Physiognomik und Pathognomik. In: Literarische Anthropologie, S. 132.
4 Kleist-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung, hrsg. von Ingo Breuer, Stuttgart 2009, S. 341.
5 Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe, Bd.2, hgg. v. Wolfgang Promies, München 1968-92, S. 278. Zitiert nach: Košenina, Alexander: Lichtenbergs Kritik an der Physiognomik. In: Literarische Anthropologie, S. 137.
6 Košenina, Alexander: Empfindender und reflektierender Schauspieler. In: Litera- rische Anthropologie - Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008, S. 149.
7 Vgl. Geitner, Ursula: »Aus der Fülle des Herzens...« Interpretationen des biblischen Topos. In: Die Sprache der Verstellung: Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992, S. 181.
8 Ebd., S. 205.
9 Kleist-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung, hrsg. von Ingo Breuer, Stuttgart 2009, S. 340.
10 Ebd., S. 341. ( mit dem Verweis auf Oschmann, Dirk: Bewegliche Dichtung: Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. München 2007, S. 242)
11 Geitner, Ursula: Lavaters Physiognomik: Traum vom Verstehen ohne Rest. In: Die Sprache der Verstellung. Tübingen 1992, S. 273.
12 Geitner, Ursula: »Aus der Fülle des Herzens...« Interpretationen des biblischen Topos. In: Die Sprache der Verstellung. Tübingen 1992, S. 189.
13 Geitner, Ursula: Der naive und der theatralische Schein: Von der Jahrhundertmitte bis zu Schiller. In: Die Sprache der Verstellung. Tübingen 1992, S. 315. Hier bezieht sich und verweist Geitner auf Rousseau.