Rollen und Kommentare eines höfischen Erzählers in Wirnts von Grafenberg "Wigalois"
Zusammenfassung
sî ez iemen der mich kan
beidiu lesen und verstên,
der sol genâde an mir begên,
ob iht wandels an mir sî,
daz er mich doch lâze vrî
valscher rede: daz êret in
(v. 1-7 ).
Den Prolog zu dem um 1210/20 entstandenen Artusroman Wigalois1 scheint nicht die Stimme des Autors oder Erzählers zu eröffnen, oder etwa einer Figur der Erzählung – vielmehr kommt diese Aufgabe dem Buch selbst zu, das die Leserschaft auffordernd anspricht. Wirnt von Grafenberg, Autor des mittelhochdeutschen Versepos, nimmt hier bereits zu Beginn literarische Techniken und Perspektiven vor, die seine Rolle als Verfasser auf eine aktive Ebene setzen, die stark mit der Erzählung verwoben ist. Bezeichnend für den Verlauf der Geschichte um den Titelhelden Gwîgâlois sind regelmäßige
subjektive Einschaltungen Wirnts, die der Gegenstand für die folgenden Untersuchungen sein sollen.
Dabei soll aufgezeigt werden, welche verschiedenen Rollen Wirnt annimmt, und in welchen erzählerischen Kontexten diese in Erscheinung treten. Den zentralen Fokus der vorliegenden Arbeit nehmen die Erzählerkommentare Wirnts ein, deren formale sowie inhaltliche und intentionale Aspekte voneinander abgegrenzt und erläutert werden sollen.
Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Erzählerrollen Wirnts von Grafenberg
3. Die Erzählerkommentare im Wigalois
3.1 Reflexionen
3.1.1 Frouwen und minne
3.1.2 Geistliche Kommentare
3.1.3 Zeitklagen
3.1.4 Weitere Tugenden und Weisheiten
3.2 Sentenzen
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Wer hât mich guoterûf getân? sîez iemen der mich kan beidiu lesen und verstê n, der sol genâde an mir begên, ob iht wandels an mirsî , daz er mich doch lâze vrî valscher rede: daz ê ret in (v. 1-7 ).
Den Prolog zu dem um 1210/20 entstandenen Artusroman Wigalois1 scheint nicht die Stimme des Autors oder Erzählers zu eröffnen, oder etwa einer Figur der Erzählung - vielmehr kommt diese Aufgabe dem Buch selbst zu, das die Leserschaft auffordernd anspricht. Wirnt von Grafenberg, Autor des mittelhochdeutschen Versepos, nimmt hier bereits zu Beginn literarische Techniken und Perspektiven vor, die seine Rolle als Verfasser auf eine aktive Ebene setzen, die stark mit der Erzählung verwoben ist. Bezeichnend für den Verlauf der Geschichte um den Titelhelden Gwîgâ lois sind regelmäßige subjektive Einschaltungen Wirnts, die der Gegenstand für die folgenden Untersuchungen sein sollen.
Dabei soll aufgezeigt werden, welche verschiedenen Rollen Wirnt annimmt, und in welchen erzählerischen Kontexten diese in Erscheinung treten. Den zentralen Fokus der vorliegenden Arbeit nehmen die Erzählerkommentare Wirnts ein, deren formale sowie inhaltliche und intentionale Aspekte voneinander abgegrenzt und erläutert werden sollen.
2. Erzählerrollen Wirnts von Grafenberg
Die Analyse mittelhochdeutscher Epik involviert stets die besondere Funktion des Erzählers, die in starkem Kontrast zu etwa neuzeitlichen literarischen Gewohn- heiten steht. Für viele Werke des höfischen Romans erscheint es charakteristisch, dass sich der Erzähler über den erzählten Stoff erhebt, indem er seiner Persönlichkeit aktiven Einzug ins Geschehen ermöglicht, die Handlung kommentiert und mit dem Publikum Kontakt aufnimmt. In seiner Abhandlung zu diesem Thema unterscheidet Pörksen gar dreißig verschiedene Typen erzäh- lerischen Hervortretens, jeweils differenziert nach Aufgabe und Anlass in sechzehn untersuchten mittelhochdeutschen Epen.2
Die umrahmenden Einheiten Pro- und Epilog nehmen dabei eine bedeutende Stellung innerhalb des mittelhochdeutschen Epos ein, in denen das Hervortreten des Dichters besonders sichtbar wird. Die Einführung wird auch im Wigalois dazu genutzt, um das direkte Gespräch mit der Zuhörer- bzw. Leserschaft zu initiieren, als auch die Intention und den empfohlenen Umgang mit der anschließenden Dichtung herauszustellen. Es wird eine Vortragssituation simuliert und verschriftlicht; dabei erscheint eine klare Trennung zwischen Autor und Erzähler durchaus schwierig. In den ersten Versen ist das lyrische Ich, wie bereits eingangs zitiert, mit der als Buch vorliegenden Erzählung identisch - ein Umstand, der durch entsprechende Partizipien wie ûfgetân (v. 1) oder getihtet (v. 10) deutlich wird. Hier „verbirgt sich der Autor hinter der Rede des Buches“3. Diese abstrakte Erzählperspektive wechselt offenbar fließend in die Rolle eines anderen Ich- Erzählers über, der sich nun als man (v. 33) zu erkennen gibt. Hier scheint es nun der eigentliche Erzähler oder Dichter zu sein, der gerne ein ebensolch wîser man wäre, der nâch des herzen gir erzählen in der Lage wäre (v. 33-35). Ob es sich dabei nun um Wirnt selbst handelt, bleibt gerade am Ende des Prologs unklar, wenn jener in der dritten Person vorgestellt wird: Er heizet Wirnt von Grâfenberc (v. 141). Nichtsdestoweniger soll die Person des Wirnt im Folgenden das erzählende Ich des Wigalois meinen.
Speziell in diesem Prolog füllt Wirnt eine Rolle aus, auf die er immer wieder zurückkommen wird, und die ihn in dieser Eigenschaft von literarischen Vorgängern wie etwa Hartmann oder Wolfram unterscheidet. Er stellt sich als literarischen Anfänger dar, der einige „Selbstgeißelungen“ vorweg nimmt, um das Publikum vor der zweifelhaften Qualität, die sînê rstez werc (v. 140) wider- spiegelt, zu warnen. Das Werk sei angeblich weder sôwol getihtet (v. 10) noch von ganzer wârheit (v. 133). Vertrauen in sein Handwerk beweist Wirnt ebenfalls nicht und bescheinigt sich dilettantisches Unvermögen. Beidiu zunge und ouch der sin (v. 37) versagen ihm, der er vielmehr nâch kindes sit (v. 47) spricht. Grôz unheil und sein bœser sin (v. 62-63) trügen die Schuld an seiner kreativen Misere, und durch bœsen gemach (v. 72) lebe er, kaum ein werder kneht (v. 7576), noch immer nicht seinem Stande gemäß.
Derartige Bekenntnisse über die eigenen Unzulänglichkeiten tauchen immer wieder im Verlauf des Romans auf. Die ungewöhnliche Schönheit der Hofdamen Roaz’ preisend gibt Wirnt etwa zu, dass ihm die heimlîche (v. 7572) derart vornehmer Frauen nicht bekannt sind und er infolgedessen mit vremder hant (v. 7573) darüber berichten muss. Frouwen stehen ohnehin häufig im Fokus der Erzählerkommentare und werden an späterer Stelle ausführlicher behandelt. Die Todesklagen Japhites veranlassen Wirnt zu einem Einschub, der seine Unfähigkeit umschreibt: swie truckenlîcheihz dâsage (v. 7740). Japhites fatales herzeleid stellt ihn anschließend vor völlige Ratlosigkeit. Von großem Mitgefühl getragen fragt er:
wer si dâscheide,
herzeliep od herzeleit,
wie wirt daz gänzlîch geseit?
(v. 7884-7886)
Über die Antwort vermag Wirnt nur Vermutungen anzustellen und überlässt die offene Lösung lieber einem wîsen man. Weitere Zugeständnisse dieser Art finden sich im abschließenden Epilog. Hier traut sich der Erzähler nicht zu, sich der offenen Geschichte von Lifort Gâwânides, des Sohnes des Titelhelden, anzunehmen, denn diese sei ze wilde, krump und swære (v. 11626-11633). Als kaum künstiger man (v. 11654) sieht sich Wirnt nicht in der Lage, derart wildiu wort zu zamen (v. 11653-11655). Ein mögliches Nachfolgewerk will der zuver- sichtliche Dichter allerdings in hochwertigerer Form abliefern:
Mînen sin will ich wenden
an ein ander, und wizzet daz diu wirt von mir erriten baz
(v. 11693-11695).
Im Kontrast zu dieser Rolle als literarischer Anfänger, der vor allem um die offenbar nicht einfach zu erlangende Gunst des Publikums buhlt, offenbart sich Wirnt gleichzeitig als belesener Autor, der seine Kenntnisse und literarischen
Fähigkeiten „zur Schau stellt“4. Im Rahmen des Namur-Feldzugs etwa wird abschließend die Leistung des Dichters hervorgehoben, nachdem in 43 Versen die bemerkenswert schöne Erscheinung Laries detailliert geschildert wurde:
Alsus hât gemeistert dar
nâch dem wunsche ditze werc
mit Worten Wirnt von Grâfenberc
(v. 10574-10576).
Die Erläuterung der märchenhaften Herkunft von Japhites feuerbeständig seidener Kleidung veranlasst Wirnt zu der Bemerkung als wirz an den buochen lesen (v. 740), die möglicherweise seinen hohen Bildungsstand untermauert. Er ist auch nicht nur mit der hohen Baukunst in Korinth îâ vertraut, die er mit der beeindruckenden Beschaffenheit der Burg von Glois vergleicht (v. 7073-7080), sondern auch mit orientalische Düften und Gewürzen, wie die ausführlichen Informationen zu balsam nahe legen (v. 10367ff.). Japhites Begräbnis bietet Wirnt Raum für eine weitschweifige Erinnerung an einen ähnlichen Schicksalsschlag, bei dem möglicherweise er selbst unter den Trauernden geboren von der h œ hsten art (v. 8070) war, die den Verlust eines vürsten von Merân bezeugen. Zudem weiß der Dichter von der Rhetorik Ovids (v. 988-992) sowie aus Passagen der Werke Hartmanns von Aue (v. 6307ff.) und Wolframs von Eschenbach (v. 6343ff.) zu berichten. Auf den zweiten Blick scheint Wirnt also doch nicht unbedingt der unfähige, dilettantische Dichter zu sein, für den er sich wiederholt ausgibt. Vielmehr belegt er an selbstbewussten Stellen wie den beschriebenen nicht nur ungewöhnliches Wissen, sondern auch literarische Versiertheit.
Neben diesen beiden Autoren-Masken schreibt Lienert Wirnt von Grafenberg eine dritte, signifikante Rolle des „moralischen Lehrers“ zu5. Dieser Habitus war eine gängige Praxis von Wirnts dichtenden Zeitgenossen und Vorbildern, stellten doch Einschaltungen solch belehrender Art einen „ganz wesentlichen Bestandteil des Gesamtwerks“6 in der höfischen Epik dar. Didaktische Erzählermuster unterstreichen die fiktive Vortragssituation der Dichtung und markieren eine direkte Appellfunktion des Erzählers an sein Publikum. Hier zentriert sich eine wesentliche gesellschaftliche Funktion mittelalterlicher Literatur, dem Publikum ideal erfüllte höfische Verhaltensnormen vor Augen zu führen. Wirnt erfüllt damit eine Tradition, die an das Konzept Hartmanns anknüpft, ein belehrend didak- tisches Element fest in die Erzählerfigur zu integrieren7. Bewertung der handeln- den Charaktere und die Kommentierung der Ereignisse machen den Wigalois laut Lienert gar zu einem Prototyp der Erzählsituation des mittelhochdeutschen Romans8. Die Besprechung dieser Erzählerkommentare soll den Hauptteil der vorliegenden Arbeit bilden und wird in den folgenden Kapiteln vorgenommen.
[...]
1 Verwendete Textausgabe: Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text - Übersetzung - Stellenkommentar. Text der Ausgabe von J.M.N. Kapteyn übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin/New York 2005.
2 vgl. Pörksen, Uwe, Der Erzähler im mittelhochdeutschen Epos (Philologische Studien und Quellen 58), Berlin 1971.
3 Mittgau, Wolfgang, Bauformen des Erzählens im ‚Wigalois’ des Wirnt von Gravenberc, Diss. Göttingen 1959, S. 152.
4 Lienert, Elisabeth, Zur Pragmatik höfischen Erzählens. Erzähler und Erzählerkommentare in Wirnts von Grafenberg Wigalois, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Bd. 234 (1997), Hg. v. Horst Brunner/Klaus Heitmann/Dieter Mehl, Berlin 1997, S. 263-275, hier S. 267.
5 Ebd.
6 Brinkmann, Henning, Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, Halle 1928, S. 24.
7 Vgl. Lienert, S. 264.
8 Lienert, S. 267.