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Kafka und Kristeva: Erprobung des Intertextualitätsmodells nach Julia Kristeva an Franz Kafkas "Bericht für eine Akademie"

©2008 Hausarbeit (Hauptseminar) 24 Seiten

Zusammenfassung

„Kafkas weltliterarische Bedeutung manifestiert sich erstens in den Einflüssen, die von den Werken anderer Autoren auf Kafkas Oeuvre ausgegangen sind und zweitens in jenen, die es selbst auf die Werke anderer Autoren nahm.“ Vor allem um die Einflüsse anderer Werke auf die Texte Franz Kafkas soll es in dieser Arbeit gehen. Sie macht es sich zur Aufgabe, die Möglichkeiten und Grenzen einer intertextuellen Interpretation von Kafkas Erzählung Ein Bericht für eine Akademie herauszuarbeiten.
Wenn in diesem Zusammenhang von Intertextualität gesprochen wird, ist der Ansatz von Julia Kristeva gemeint, der dieser Arbeit als maßgebliche theoretische Fundierung dienen soll. Und das gerade weil er mit einem höheren Grad an Unbestimmtheit operiert, als der zweite große, mit ihm konkurrierende Ansatz, zu dessen Vertretern etwa Ulrich Broich und Manfred Pfister zählen. Anders als deren Konzept, dass aufgrund des eng gesteckte Rahmens nur greifen kann, wenn intertextuelle Bezüge markiert und intendiert sind, geht Kristeva von einem Textbegriff aus, für den sie exemplarisch Kafkas Werke heranzieht: Gerade ihn sieht sie als einen Vertreter des polyphonen Romans des 20. Jahrhunderts, „der Sprache innerlich [...] macht“ und deshalb ihrem Konzept eher zu entsprechen vermag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Theoretische Grundlagen: Die Intertextualitätstheorie

Exkurs: Interpretation und Überinterpretation

Kafka und Intertextualität: Ein erster Zugang
4.1 Zu Kafkas Lektüren
4.2 Zu Kafkas intertextuellem Verfahren

Intertextuelle Bezüge in Kafkas Bericht
5.1 Zu Kafka und Homer
5.2 Zu Kafka und E.T.A. Hoffmann
5.3 Zu Tierdressur und Varieté
5.4 Zu Kafka und Wilhelm Busch

Zusammenfassung und Fazit

Literaturliste
7.1 Texte
7.2 Sekundärliteratur

1. Einleitung

„Kafkas weltliterarische Bedeutung manifestiert sich erstens in den Einflüssen, die von den Werken anderer Autoren auf Kafkas Oeuvre ausgegangen sind und zweitens in jenen, die es selbst auf die Werke anderer Autoren nahm.“[1] Vor allem um die Einflüsse anderer Werke auf die Texte Franz Kafkas soll es in dieser Arbeit gehen. Sie macht es sich zur Aufgabe, die Möglichkeiten und Grenzen einer intertextuellen Interpretation von Kafkas Erzählung Ein Bericht für eine Akademie[2] herauszuarbeiten.

Wenn in diesem Zusammenhang von Intertextualität gesprochen wird, ist der Ansatz von Julia Kristeva gemeint, der dieser Arbeit als maßgebliche theoretische Fundierung dienen soll. Und das gerade weil er mit einem höheren Grad an Unbestimmtheit operiert, als der zweite große, mit ihm konkurrierende Ansatz, zu dessen Vertretern etwa Ulrich Broich und Manfred Pfister zählen. Anders als deren Konzept, dass aufgrund des eng gesteckte Rahmens nur greifen kann, wenn intertextuelle Bezüge markiert und intendiert sind, geht Kristeva von einem Textbegriff aus, für den sie exemplarisch Kafkas Werke heranzieht: Gerade ihn sieht sie als einen Vertreter des polyphonen Romans des 20. Jahrhunderts, „der Sprache innerlich [...] macht“[3] und deshalb ihrem Konzept eher zu entsprechen vermag. „Die Bezugnahmen auf Texte anderer Autoren in seinem eigenen Werk“, führt Dieter Lamping aus mit Blick auf Kafka zudem aus, „sind allerdings durchweg unmarkiert und deshalb nicht immer ohne weiteres zu identifizieren.“[4] Damit geht Lamping konform mit Kristeva: Auch er ordnet die Werke Kafkas in die Reihe der Texte ein, die sich für eine Untersuchung nach dem eng gefassten Modell der Intertextualitätstheorie weniger eignen und eine Anwendung des Modells nach Kristeva empfehlen.

Der Widerspruch zwischen den beiden Ausrichtungen soll gleichsam als Anregung dienen, den Grad der Nachweisbarkeit der Bezüge zwischen dem Bericht und anderen Texten zu überprüfen. Wieso etwa Dubiel zu dem Fazit gelangt, dass

nirgendwo im Text kontextuell markierte Bezugnahmen auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Nachricht von einem gebildeten jungen Mann, Wilhelm Hauffs Märchen Der Affe als Mensch und seine Erzählung Der junge Engländer, die von Richard Wilhelm übersetzten Chinesischen Volksmärchen und Robert Reinicks Die Fabel vom Affen, Gustave Flauberts Quidquid Volueris oder Wilhelm Buschs Fipps der Affe nachgewiesen werden konnten,[5]

wird zu gegebener Zeit von Belang sein. Seine Folgerung aus diesem Befund, dass sofern „keine nachvollziehbare Korrespondenz zwischen Kafkas Text und seinen traditionellen Vorgängern aufgezeigt werden kann, [...] der Begriff Intertextualität nur im Sinne Kristevas gültig“[6] sei, soll jedoch vorweggenommen werden, da sie als Rechtfertigung der Wahl des Kristevaschen Modells als theoretische Grundlage dieser Arbeit dienen kann. Im fünften Kapitel wird die Frage zu stellen sein, inwiefern sich dieses Modell für eine Interpretation des Berichts eignet. Das geschieht anhand ausgewählter Motivkomplexe unter den Stichpunkten Kafka und Homer (Kapitel 5.1), Kafka und E.T.A. Hoffmann (Kapitel 5.2), Tierdressur und Varieté (Kapitel 5.3) und Kafka und Wilhelm Busch (Kapitel 5.4)

Um Überlegungen zum benannten Problemkreis anstellen zu können, bedarf es jedoch zunächst einiger theoretischer Grundlagen. Diese werden im zweiten Kapitel dieser Arbeit dargestellt. Dabei wird vor allem der Ansatz Kristevas vorgestellt, um seine Stärken und Schwächen bei der Anwendung auf literarische Texte herausarbeiten zu können. Daraufhin wird – nach einem Exkurs zum Problemfeld der Überinterpretation im dritten Kapitel – im vierten Kapitel ein erster, allgemeiner Zugang zu Kafka erlangt über seine Lektüren einerseits (Kapitel 4.1) und sein intertextuelles Verfahren (Kapitel 4.2) andererseits. Das ermöglicht eine Betrachtung der intertextuellen Bezüge im Bericht für eine Akademie und die Skizzierung von Möglichkeiten einer Annäherung an die Fragestellung, inwiefern sich die von Julia Kristeva entwickelte, dekonstruktivistisch-poststrukturalistische Ausrichtung der Intertextualitätstheorie zur Anwendung an diesem Text eignet.

2. Theoretische Grundlagen: Die Intertextualitätstheorie

Zwei divergierende Ausrichtungen bilden die Intertextualitätstheorie:

Verstehen die poststrukturalistischen Vertreter [...] den Text als Bestandteil eines Archivs, als Permutation einer kulturellen Landschaft und im Anschluß an Michail Bachtin als Kosmos dissonanter Diskurse [...], so versuchen die Vertreter eines eng gefaßten Intertextualitästbegriffs das Phänomen aus Praktikabilitätsgründen klassifikatorisch in den Griff zu bekommen.[7]

Während also das Interesse der auch als hermeneutisch-strukturalistisch bezeichneten Ausrichtung „bewussten, intendierten und markierten Verweisen eines Textes auf andere Texte [gilt], die dann in systematischer Weise erfasst, klassifiziert und analysiert werden sollen"[8], geht es der dekonstruktivistisch-poststrukturalistischen Ausrichtung der Intertextualitätstheorie, die auf dem Konzept von Julia Kristeva basiert, um etwas anderes: Bezeichnend für ihr Konzept ist, dass Literatur und Gesellschaft in ihrem „Entwurf einer allgemeinen Kultursemiotik als Zeichensysteme verstanden“[9] werden. Mit diesem weit gefassten Rahmen, verliert ihr Konzept an Präzision, indem es die gesamte Gesellschaft miteinbezieht. Dass es sich deshalb grundsätzlich möglicherweise weniger gut eignet für die Interpretation von Texten, darf daher bereits vermutet werden. Bei Kristeva wird die "Einheit eines Werkes [...] zugunsten eines textübergreifenden allgemeinen Zusammenhangs, der als Intertext bezeichnet wird, aufgelöst".[10] Das bedeutet gleichfalls, dass für Kristeva „auch die traditionellen Kategorien von Subjekt, Autor und Werk einer kritischen Revision unterzogen werden [müssen], da Werke keine abgrenzbaren Einheiten darstellen, immer kollektiv sind und der Autor im Schreibprozeß implizit und explizit fortwährend Verbindungen mit anderen Texten herstellt.“[11] Es kann bereits festgehalten werden, dass das Konzept Kristevas mit einer derartigen Unbestimmtheit operiert, die es nur dann zur Anwendung auf literarische Texte empfiehlt, wenn das konkurrierende Konzept am Text scheitert: Erst wenn die grundsätzlich für die Anwendung bei einer Interpretation empfehlenswerter erscheinende hermeneutisch-strukturalistische Methode, die im Gegensatz zum Konzept Kristevas bezeichnenderweise von ihren geistigen Vätern auch für interpretatorische Zwecke ausgelegt wurde, an ihre Grenzen gelangt, sollte wohl zu Kristeva gegriffen werden.

Vereinfacht ausgedrückt, besteht der Unterschied zwischen den konkurrierenden Konzepten der Intertextualitätstheorie also vor allem im Abstraktionsgrad des jeweiligen Vorgehens: Die textnähere Ausrichtung in der Nachfolge vor allem Genettes, Stierles und Lachmanns erhält mit der Aufrechterhaltung der am literarischen Prozeß beteiligten Instanzen eine engere Rahmung, die ihr die Identifikation intertextueller Bezüge nur bei konkret fassbaren Bezugnahmen erlaubt. Damit ist sie - das sei vermutet - vordergründig wohl tatsächlich besser für die Anwendung in der literaturwissenschaftlichen Praxis geeignet: Ein Abdriften in die Beliebigkeit kann bei der strikten Anwendung dieser theoretischen Ausrichtung quasi ausgeschlossen werden, weil es nicht zu einer Gradwanderung zwischen haltbaren und unhaltbaren Deutungsversuchen kommen kann. Kristevas Konzept hingegen, dass sich über den engen Rahmen konkret nachweisbarer Bezüge erhebt, ist diesbezüglich vielfältig kritisiert worden: Ihr Ansatz, erklärt etwa Stiegler, „steht im Verdacht, einem Irrationalismus zu verfallen und zugleich unbegründbare und beliebige neue Setzungen zu unternehmen.“[12] So berechtigt die Kritik anmutet, so vorhersehbar ist sie auch. Bedeutsam ist es dementsprechend, darauf hinzuweisen, dass Kristevas Ausrichtung es gar nicht darauf anlegt, sich dienstbar zu machen für eine Interpretation: „Kristevas Konzept [hat] mit Fragen nach den konkreten Beziehungen zwischen literarischen Texten und ihrer Funktionalisierung für eine Interpretation nichts [...] zu tun. Textauslegung war jedoch auch nie ihr Erkenntnisziel.“[13]

Jedes Wort und jeder Text bekommen bei ihr einen dreifachen Sinn, woraus folgt, dass „das Wort (der Text) [...] eine Überschneidung von Wörtern (von Texten) [ist], in der sich zumindest ein anderes Wort (ein anderer Text) lesen läßt.“[14] Die minimale Einheit der poetischen Sprache ist für Kristeva in Anlehnung an Bachtin eine doppelte.[15] Relevant für interpretatorische Bemühungen ist vor allem, dass nach dem Konzept Kristevas „jeder Versuch der Festlegung von Textsinn dogmatisch und willkürlich erscheinen“[16] muss. Hier zeigt sich wiederum, welche Bedingungen zu akzeptieren sind, will man Kristevas Intertextualitäskonzept konsequent auf die Analyse und Interpretation literarischer Texte anwenden: Wenn von einem einzigen gültigen Sinn nicht gesprochen werden kann, weil eine „literarische Struktur nicht ist, sondern sich erst aus der Beziehung zu einer anderen Struktur herstellt“[17], kann nicht eine einzige Interpretation alleinige Gültigkeit beanspruchen. Jede Deutung muss sich gefallen lassen, dass sie eine von vielen bleibt. Als einziges Kriterium kann daher nur gelten, dass sie sich am Text nachweisen lässt. Inwiefern einer intertextuellen Analyse durch die Fixierung auf das Theoriekonzept von Julia Kristeva Grenzen durch vermeintliche grenzenlose Freiheiten gesetzt werden, wird noch zu zeigen sein.

Die entscheidende Differenz zwischen den Ausrichtungen besteht also darin, ob lediglich markierte Bezüge zwischen Texten als intertextuelle Bezüge gelten können, oder auch andere, kaum konkret greifbare. Bert Nagel etwa kritisiert mit Blick auf einen seiner Meinung nach zu weit gefassten Intertextualitätsbegriff, der selbst Parallelen zwischen Kafka und Lessing miteinbeziehe, es bedürfe „schon überzeugenderer Kriterien als lediglich stofflicher Entlehnungen, um künstlerische Zusammengehörigkeit zu unterstellen.“[18] Stimmen in der Forschung, die mit den von Nagel angesprochenen überzeugenderen Kriterien auf markierte Bezugnahmen der Texte Kafkas auf andere literarische Werke abzielen, stehen jedoch in herbem Widerspruch zu anderen Beiträgen der ergiebigen Kafka-Forschung, die solche markierten Bezüge, etwa des Berichts, auf andere Texte bestreiten: Nicht selten wird – wie etwa in dem bereits zitierten Beitrag von Jochen Dubiel - darauf hingewiesen, dass markierte Bezüge im Sinne der hermeneutisch-strukturalistischen Ausrichtung der Intertextualiätstheorie nicht zu finden sind: Man würde dementsprechend mit der Theoriekonzeption nach Julia Kristeva Vorlieb nehmen müssen, die – einer diagnostizierbareren größeren Vagheit zum Dank – auf die Einschränkung auf intendierte Bezüge verzichtet.

3. Exkurs: Interpretation und Überinterpretation

Gerade die Wahl des Kristevaschen Modells der [19] Intertextualitätstheorie als theoretische Fundierung dieser Arbeit lässt es angeraten erscheinen, die hermeneutischen Maßgaben in den Blick zu nehmen und sie – gleichsam als Warnung – anzuerkennen als in der gegebenen Situation quasi ganz besonders wichtige Hilfen, die dazu beitragen sollen, das durch die Vagheit des theoretischen Rahmens eingegangene Wagnis zu meistern, eine Identifikation intertextueller Bezüge in Kafkas Bericht zu versuchen, ohne unhaltbare Unterstellungen an den Text heranzutragen. Um eine intertextuelle Analyse des Berichts in diesem Sinne angemessen vorzubereiten, empfiehlt sich die Miteinbeziehung der bisherigen komparatistischen Forschung, da die Intertextualität eine genuin komparatistische Forschungsrichtung ist.[20] Beispielhaft für jüngere komparatistische Lektüren des Berichts ist Jochen Dubiels bereits erwähnte Dissertationsschrift zu nennen. Der Autor interpretiert den Text allerdings im Sinne einer kontrapunktischen Lektüre, um die kolonialismuskritische Potential des Berichts herauszuarbeiten. Relevant sind daher im Rahmen dieser Arbeit vor allem seine Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Text- und Autorintention und den sich ergebenden Gefahren bei der Vermischung der beiden Intentionen. Mit Blick auf das Spannungsfeld zwischen den Intentionen kritisiert Dubiel, dass bisher zu häufig partielle Interpretationen vorgenommen wurden, von denen „bisher keine am Text als einem kohärenten Ganzen bestätigt“[21] werden konnte. Schlimmer noch, dass „durch Berufung auf textexterne Fakten und hermeneutische Inkonsequenz“[22] versäumt worden sei, sich bei der Identifizierung intertextueller Bezugnahmen auf textinterne Fakten zu stützen.

Dabei läuft der Interpret Gefahr, den Text zu missdeuten: Es gilt Umberto Ecos Diktum, nach dem "zwischen der unergründlichen Intention des Autors und der anfechtbaren Intention des Lesers [...] die transparente Textintention [liegt], an der unhaltbare Interpretationen scheitern."[23] Dieses Diktum soll, um dem Text hermeneutische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, bei der anstehenden Interpretation als Maßgabe gelten, um den Fehler früherer Interpreten vermeiden zu helfen, die durch die „Flucht vor der Textintention ins Auswendige“[24] intertextuelle Bezüge zwischen dem Bericht und anderen literarischen Werken zu identifizieren glauben, wo sie am entscheidenden Bezugspunkt, dem Text selbst, gar nicht nachgewiesen werden können. Es gilt, dass „unabhängig davon, ob nachweisbare Bezüge vom Autor beabsichtigt wurden oder auf seinen unbewussten Gebrauch der Sprache zurückzuführen sind, [...] es immer die semantische Totalität des Textes [ist], der solche Parallelen [...] kommensurabel sein müssen.“[25] Damit ist klar, dass auch die Intention des empirischen Autors nicht das entscheidende Maß einer Interpretation sein darf: An die Intention des Textes hat sich die Interpretation zu halten, um aus einem Text nicht mehr herauslesen zu wollen, als darin steht.

Wie problematisch es ist, die Interpretation auf außertextliche Fakten zu stützen, erwähnt auch Hans-Gerd Koch[26] in seinem - beinahe den kompletten Raum seiner eigenen Interpretation einnehmenden - Rückblick auf den bisherigen Forschungsverlauf. Koch erklärt, dass George Schulz-Behrend eine Deutung des Textes vor dem Hintergrund des Assimilationsdiskurses zurückweise, weil sich sich darauf beziehende Interpreten durch die Publikation des Berichts in der Monatsschrift Der Jude in die Irre hätten leiten lassen. Die Erklärung des Publizisten Martin Bubers, den Bericht nicht ihres jüdischen Inhalts wegen, sondern weil „es mir für meine Leser wichtig schien sie zu kennen"[27], lässt Koch als Beleg dafür gelten, dass Schulz-Behrend mit seiner Ablehnung früherer Interpretationen im Dunstkreis des Assimilationsdiskurses richtig liege. Gleichwohl lässt Koch unbeachtet, dass Schulz-Behrends Begründung wiederum auf dezidiert außerliterarischen Fakten beruht: Wie literarische Texte interpretiert werden dürfen oder auch nicht, darf nicht davon abhängen, aus welchen Motiven ein Publizist ihn veröffentlichte. Hier soll allerdings nicht behauptet werden, dass Schulz-Behrend (und damit auch Koch) mit der Ablehnung früherer Interpretationen gleichzeitig einen neuen, ebenso falschen Deutungsansatz liefern: Das Problem an dieser Stelle ist lediglich, dass die Begründung der Ablehnung der Interpretation Rubinsteins durch Schulz-Behrend weit weg vom Text führt.

4. Kafka und Intertextualität: Ein erster Zugang

4.1 Zu Kafkas Lektüren

Um einen Zugang zu möglichen intertextuellen Bezügen in Kafkas Bericht zu bekommen, empfiehlt es sich, den Autor Franz Kafka auch als Leser in den Blick zu nehmen: Zwar muss, sofern mit dem Konzept Kristevas operiert werden soll, nicht unbedingt vorausgesetzt werden, dass Kafka Texte anderer Autoren bewusst rezipiert hat. Auch unbewusste Bezugnahmen, sei es, weil die Lektüre eines Hypotextes so lange zurückliegt, dass die Erinnerung daran nur noch unbewusst vorhanden ist, oder solche, die auf Texte rekurrieren, die nicht mit einer gebührenden Aufmerksamkeit rezipiert wurden, und daher von vornherein nur begrenzt Eingang in den bewussten geistigen Fundus Kafkas gefunden haben[28], müssen einbezogen werden.

[...]


[1] Monika Schmitz-Emans: Kafka und die Weltliteratur. In: Bettina v. Jagow/ Oliver Jahraus (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S.273-292, hier S.273.

[2] Kafka, Franz: Ein Bericht für eine Akademie. In: Ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. Von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. (Franz Kafka. Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. Von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit.) Frankfurt: S.Fischer 1994, hier S.299-313.

[3] Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman anzuführen. In: Dorothee Kimmich, Rolf Günther Renner, Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Durchgesehene und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Reclam 2003, S.334-348, hier S.345.

[4] Dieter Lamping: Franz Kafka als Autor der Weltliteratur. Einführung. In: Ders., Manfred Engel (Hg.): Franz Kafka und die Weltliteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S.9-23, hier S.15.

[5] Jochen Dubiel: Dialektik der postkolonialen Hybridität. Die intrakulturelle Überwindung des kolonialen Blicks in der Literatur. Bielefeld: Aisthesis 2007, S.243.

[6] Ebd.

[7] Claudia Liebrand/ Franziska Schössler: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Textverkehr. Kafka und die Tradition. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S.7-16, hier S.8.

[8] Bernd Stiegler: Intertextualität. Einleitung. In: Ders., Dorothee Kimmich, Rolf Günther Renner (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Durchgesehene und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Reclam 2003, S.327-333, hier S.328.

[9] Ebd., S.327.

[10] Ebd.

[11] Ebd.,S.329, Herv.i.O.

[12] Stiegler (2003), S.330.

[13] Schedel (2002), S.224.

[14] Kristeva (2003), S.337.

[15] Vgl. Ebd., S.342.

[16] Susanne Schedel: Literatur ist Zitat - „Korrespondenzverhältnisse“ in Kafkas Das Urteil. In: Oliver Jahraus/ Stefan Neuhaus (Hg.): Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen. Stuttgart: Reclam 2002, S.220-240, hier S.224.

[17] Kristeva (2003), S.335, Herv.i.O.

[18] Bert Nagel: Kafka und die Weltliteratur. Zusammenhänge und Wechselwirkungen. München: Winkler 1983, S.8.

[19] Die Kapitelüberschrift borge ich mir von Umberto Eco. Vgl. Ders.: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini. 2.Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004.

[20] Vgl. dazu etwa Angelika Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik. 2., überarbeitete Auflage. Berlin 2004: Erich Schmidt, S.115ff.

[21] Dubiel (2007), S.240.

[22] Ebd., S.242.

[23] Eco (2004), S.87.

[24] Dubiel (2007), S.243.

[25] Ebd., S.245.

[26] Vgl. Hans-Gerd Koch: Ein Bericht für eine Akademie. In: Michael Müller (Hg.): Franz Kafka. Romane und Erzählungen. Stuttgart. Reclam 2003 (2., durchgesehene und erweiterte Auflage), S.173-196.

[27] Ebd., S.180.

[28] Vgl. zur Frage nach dem Grad der Aufmerksamkeit bei der Lektüre Kilcher, Andreas/ Detlef Kremer: Die Genealogie der Schrift. Eine transtextuelle Lektüre von Kafkas Bericht für eine Akademie. In: Claudia Liebrand/ Franziska Schössler (Hg.): Textverkehr. Kafka und die Tradition. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S.45-72, hier S.46.

Details

Seiten
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783656029618
ISBN (Paperback)
9783656029885
DOI
10.3239/9783656029618
Dateigröße
1.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz – Deutsches Institut
Erscheinungsdatum
2011 (Oktober)
Note
1,0
Schlagworte
Kafka Kristeva Intertextualität Literaturwissenschaft Germanistik
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Titel: Kafka und Kristeva: Erprobung des Intertextualitätsmodells nach Julia Kristeva an Franz Kafkas "Bericht für eine Akademie"