Zusammenfassung
Das Problem, mit dem die in der Diaspora lebenden Muslime konfrontiert sind, ist sich einerseits an die Souveränität des Staates, in dem sie leben und andererseits an die Ge- und Verbote ihrer Religion zu halten, wobei es in einigen Fällen zu Unvereinbarkeiten kommen kann. Die freiwillige dauerhafte Ansiedlung von Muslimen in Europa und damit außerhalb der islamischen Welt stellt in der Dimension, wie wir sie heute vorfinden, eine völlig neue Situation dar. In diesem Essay soll die Frage behandelt werden, ob es für einen Muslim, der sich der Scharia verpflichtet fühlt, möglich ist, in unserem deutschen Rechtssystem zu leben und sich an die geltenden Rechtsnormen zu halten ohne damit gegen die für ihn nach islamischem Recht geltenden Rechtsnormen und seine religiösen Überzeugungen zu verstoßen. Es soll erläutert werden, in welchen Bereichen es zu Unvereinbarkeiten oder Schwierigkeiten zwischen deutschem und islamischem Recht kommen kann und inwiefern es möglich ist, [...]
Leseprobe
Islamisches Recht in Deutschland
Derzeit ist der Islam die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Deutschland, gleich nach dem Christentum. Dies ist in erster Linie eine Folge aus der Arbeitermigration, welche Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre stattfand. Sowohl die Migranten als auch Deutschland als Aufnahmeland sahen den Aufenthalt der Muslime als vorübergehend an. Daher beschäftigte man sich anfangs kaum mit dem Thema der Integration der Gastarbeiter in die deutsche Gesellschaft. Das Verhalten der Zuwanderer änderte sich jedoch Anfang der siebziger Jahre drastisch dadurch, dass die Familien in den Migrationsprozess mit einbezogen wurden. Die Anwesenheit der Familie sowie die damit zusammenhängende schwindende Aussicht auf Rückkehr in das Heimatland hatten eine Wandlung des Verhaltens der Migranten zur Folge. Die Beständigkeit des Aufenthaltes weckte im religiösen Bereich das Bedürfnis nach Einrichtungen, in denen man gemeinsam religiöse Pflichten erfüllen und den hier aufwachsenden Kindern die eigene religiöse und kulturelle Identität vermitteln konnte.1 Heutzutage ist es so, dass besonders bei der jüngeren, hier geborenen und aufgewachsenen Generation ein gesteigertes Interesse am Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft besteht, um zum Ausdruck zu bringen, dass man sich diesem neuen Heimatland mehr verbunden fühlt, als dem Heimatland der Eltern. Trotz der vorhandenen Integrationsbereitschaft möchte man dennoch nicht auf die Ausübung der Religion und an die Bindung derselbigen verzichten.2
Das Problem, mit dem die in der Diaspora lebenden Muslime konfrontiert sind, ist sich einerseits an die Souveränität des Staates, in dem sie leben und andererseits an die Ge- und Verbote ihrer Religion zu halten, wobei es in einigen Fällen zu Unvereinbarkeiten kommen kann. Die freiwillige dauerhafte Ansiedlung von Muslimen in Europa und damit außerhalb der islamischen Welt stellt in der Dimension, wie wir sie heute vorfinden, eine völlig neue Situation dar.3 In diesem Essay soll die Frage behandelt werden, ob es für einen Muslim, der sich der Scharia4 verpflichtet fühlt, möglich ist, in unserem deutschen Rechtssystem zu leben und sich an die geltenden Rechtsnormen zu halten ohne damit gegen die für ihn nach islamischem Recht geltenden Rechtsnormen und seine religiösen Überzeugungen zu verstoßen. Es soll erläutert werden, in welchen Bereichen es zu Unvereinbarkeiten oder Schwierigkeiten zwischen deutschem und islamischem Recht kommen kann und inwiefern es möglich ist, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, in dem ein Kompromiss zwischen unzulässiger staatlicher Definition religiöser Inhalte einerseits und schrankenloser Selbstdefinition durch einzelne andererseits gefunden werden kann. Dabei muss allerdings erwähnt werden, dass das islamische Recht selbst in der islamischen Welt keinen monolithischen Block darstellt, sondern von verschiedenen Strömungen innerhalb des Islams und unterschiedlichen Rechtsschulen unterschiedlich interpretiert wird. Daher ist es unmöglich für ein das islamische Recht betreffende Problem eine eindeutige Lösung zu finden, die allen verschiedenen Ausprägungen des Islams gerecht wird. In fast allen Fällen ist es so, dass verschiedene islamische Gruppen auf die Probleme, mit denen sie in Deutschland konfrontiert werden, verschiedene Antworten und Lösungsmöglichkeiten finden.5
Für die Muslime ist die Scharia die Gesamtheit der im Koran und Sunna6 des Propheten enthaltenen göttlichen Gebote, die von prinzipiell allumfassendem und zeitlosem Charakter sind. Wenn damit gemeint ist, dass sämtliche enthaltenen Vorschriften rechtlich und religiös für jeden Muslim an jedem Ort verbindlich sind, würde an dieser Stelle ein Konflikt mit dem deutschen Grundgesetz entstehen. Die Scharia selbst unterscheidet aber zwischen Ibadat und Muamalat. Ibadat beschäftigt sich mit den entscheidenen die Religion betreffenden Fragen, wie dem Beten, der Almosengabe, dem Fasten, der Pilgerreise etc.. Es beschäftigt sich also mit den Verpflichtungen des Gläubigen gegenüber Gott, den göttlichen Diensten und seiner Verehrung, also den individuellen Geboten. Es ist die Pflicht aller Muslime diese Gebote zu jeder Zeit unabhängig vom Aufenthaltsort einzuhalten.
Muamalat beschäftigt sich hauptsächlich mit Angelegenheiten bezüglich des Straf- bzw. Zivilrechts, wie zum Beispiel Heiratsverträgen, Scheidungen, Vertragsrecht und kriminellen Handlungen. Es handelt sich dabei also um Rechtsnormen des islamischen Staatswesens, deren Geltungsbereich sich nur und ausschließlich auf das Staatsgebiet der islamischen Welt beschränkt.7 Die individuellen Gebote, die sich aus dem Ibadat herleiten, fallen in Deutschland unter den Schutz des Artikels 4 Grundgesetz, welcher die Unverletzbarkeit des Gewissens, die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und die ungestörte Religionsausübung gewährleistet.8
Es wird einem in Deutschland lebenden Muslim also sehr wohl verfassungsrechtlich der Freiraum eingeräumt, der für ihn notwendig ist, um die ihm vorgegebenen Gebote auszuführen. Es ist sogar häufig so, dass Muslimen in Deutschland eine freiere Religionsausübung gewährt wird als es ihnen in ihren Heimatländern je möglich wäre. Aus dieser Sicht betrachtet, schließt die Bindung an das deutsche Rechtssystem also nicht das Einhalten islamischer Regeln aus.
Sogar zu Lebzeiten des Propheten Muhammads gab es einen Präzedenzfall, der eine Antwort auf die Frage gibt, inwiefern Muslime, die sich nicht auf islamischem Staatsgebiet aufhalten nach den Vorgaben der Scharia leben müssen. Während der vorislamischen Zeit Mekkas wanderten einige Muslime nach Äthiopien aus, um dort Schutz vor Verfolgung zu finden. Laut Muhammad ist für einen Muslim, wenn er sich freiwillig in einem nicht islamischen, aber gerechten Staat aufhält, in dem ihm gewährleistet wird, dass er seine religiösen Pflichten ungehindert ausüben kann, das dort vorherrschende und geltende Rechtssystem verbindlich, auch wenn er sich eigentlich an die Vorgaben der Scharia gebunden fühlt.9
Aus dem Islam selbst hinaus findet man also keine Grundlage, die es rechtfertigen würde, die Verfassungsregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu missachten. Solange ein Muslim sichere und gerechte Konditionen in dem von ihm gewählten Aufnahmeland vorfindet, ist er auch nach den Regeln des Islams dazu verpflichtet sich an das dort geltende Recht zu halten. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime Elyas geht in einer Stellungnahme sogar noch weiter, indem er sagt, dass ein Muslim selbst wenn er an seiner Religionsausübung gehindert wird, nicht mit Gewalt gegen das vorherrschende Rechtssystem vorgehen darf, sondern nötigenfalls auswandern muss. Fraglich bleibt jedoch, inwiefern die Stellungnahme von Elyas als verbindlich für alle in Deutschland lebenden Muslime angesehen werden kann, da er keine offizielle Autorität besitzt, an die sich alle Muslime halten müssten.10
Das Problem, auf welches man in verschiedenen Zusammenhängen stößt, wenn man sich mit dem Islam beschäftigt ist, dass es keine autoritäre Macht gibt, die von der gesamten Gemeinschaft anerkannt wird bzw. diese repräsentiert und die verbindliche Richtlinien geben könnte, sowie es bei den Katholiken durch den Papst geschieht. Aus diesem Grund kann die Frage, ob ein Muslim sich an das deutsche Rechtssystem gebunden fühlen muss oder darf nie verbindlich für alle Muslime beantwortet werden.
Ein Muslim, der beispielsweise einen traditionellen Dogmatiker nach einer Rechtsauskunft fragt, kann ohne weiteres die Antwort erhalten, dass der Islam mit der deutschen Rechtsordnung komplett unvereinbar ist. Er ist an dieses Ergebnis jedoch nicht gebunden, sondern kann weitere Autoritäten befragen, bis er eine Antwort erhält, die ihn zufrieden stellt.
Tritt man mit der gleichen Fragestellung an eine reformorientierte islamische Autorität heran, die beispielsweise dem Prinzip des Igtihad11 viel Bedeutung zukommen lässt, kann man genauso gut zu dem Ergebnis gelangen, dass der Islam und die deutsche Rechtsordnung sehr wohl miteinander vereinbar sind. Sowohl bei den Sunniten als auch bei den Schiiten gibt es viele Autoritäten, die für die Interpretation der koranischen Offenbarung mit Hilfe des menschlichen Verstands plädieren. Ihrer Ansicht nach ist die Gesetzgebung durch Gott praktisch gesehen nur begrenzt möglich, da es so gut wie keinen Teil der Offenbarung gibt, der nicht der Auslegung bedürfe. Diese Auslegungen und Interpretationen ändern sich jedoch mit den Menschen und ihren Lebensumständen. Demzufolge wäre es in Übereinstimmung mit dem Koran, wenn Vorgaben neu interpretiert werden würden, so dass sie die neu entstandenen Lebensumstände der in der Diaspora lebenden Muslime einbeziehen.12 Ein muslimischer Europäer sagte zu diesem Thema: " (...) we had very vital, very alive, very evolving jurisprudential activities up to the fourth century of Islam. Then suddenly the community was declared to go braindead. No longer are we allowed to develop our ideas. For it became doctrine that everyone must follow one of the present current schools. I believe that our crises started from this point."13
Gerade die in fremden Gesellschaften lebenden Muslims sind dazu aufgefordert, sich nicht an dogmatische Regeln zu halten, sondern ihren Beitrag dazu zu leisten, dass ein friedliches Miteinander in einem ihm zum Teil fremden, jedoch frei gewählten Land möglich ist. Dafür wäre es sicher hilfreich, wenn man deutlicher zwischen religiösen Geboten und traditionellen Riten, die sich in verschiedenen Ländern entwickelt haben, jedoch letzten Endes nichts mit dem Islam im ursprünglichen Sinne zu tun haben, unterscheiden würde. Gerade Traditionen, die sich nicht auf der Grundlage des Korans und der Sunna legitimieren lassen, werfen häufig Konflikte mit deutschen Gesetzen auf.
Im Folgenden sollen anhand zweier Beispiele aufgezeigt werden, in welchen Bereichen des alltäglichen Lebens es zu Konflikten zwischen deutschem und islamischem Recht kommen kann.
[...]
1 vgl. Heuberger, Valeria: Der Islam in Europa. S. 119
2 vgl. Rohe, Mathias: Islam und deutsches Recht. S.7
3 vgl. Rohe, Mathias: Islam und deutsches Recht. S. 15
4 Religiöses Gesetz des Islams, das kultische Pflichten sowie ethische Normen und Rechtsgrundsätze für alle Lebensbereiche aufstellt.
5 vgl. Heuberger, Valeria: Der Islam in Europa. S. 119
6 Gewohnheiten des Propheten
7 vgl. Rohe, Mathias: The Formation of a European Sharia. S. 168 2
8 vgl. Grundgesetz Art. 4
9 vgl. Rohe, Mathias: The Formation of a European Sharia. S. 170
10 vgl. Rohe, Mathias: Islam und deutsches Recht. S. 16
11 im Islam das juristisch-theologische Prinzip zur individuellen Meinungsbildung in Rechtsfragen, die nicht im Koran oder einem Hadith (Aussprüche des Propheten) geklärt sind
12 vgl. Rohe, Mathias: The Formation of a European Sharia. S. 168
13 Badawi in: Rohe, Mathias: The Formation of a European Sharia. S. 168 4