Frühe Hilfen für Kinder mit psychisch krankem Elternteil
Zusammenfassung
So oder so ähnlich beginnen viele Biographien von Kindern psychisch kranker Menschen. Hochrechnungen zufolge beläuft sich die Zahl der Betroffenen jährlich auf etwa drei Millionen, das heißt, „dass in der Bundesrepublik Deutschland etwa drei Millionen Kinder im Verlauf eines Jahres einen Elternteil mit einer psychischen Störung erleben.“ (Mattejat, 2008, S. 75). Deutlich zeigen sich die Hauptbelastungen, die mit einer Erkrankung mindestens eines Elternteils einher gehen. In jedem Fall ist ein „normales“ Familienleben nur begrenzt möglich. Nun liegt der Fokus aber meist auf der erkrankten Person. Oft werden Angehörige und Familie nur am Rande wahrgenommen, insbesondere wenn zwischen psychiatrischer Hilfe, sei es ambulant oder stationär und (sozial-) pädagogischen Angeboten kein adäquater Austausch herrscht. Dass aber gerade die Kinder hohen Belastungen ausgesetzt sind bleibt oft ungesehen. Deshalb ist es wichtig auch für sie schon früh eine Betreuung anzubieten, um die Gefahr von Verhaltensauffälligkeiten oder einer Selbsterkrankung im weiteren Lebenslauf zu minimieren. Hier kann nur ein Netzwerk greifen, das die Problemlagen aller Beteiligten mit einbezieht.
Aus diesem Grund beschäftigt sich diese Arbeit mit den Risiken, denen explizit die Kinder psychisch Kranker ausgesetzt sind und wie dem aus professioneller Sicht Abhilfe geschaffen werden kann, genauer: Wo und wie angemessen schon früh Unterstützung angeboten werden kann und welchen Problemen sich Institutionen und Eltern dabei gegenübergestellt sehen. Dabei gilt: Je eher diese greift, desto größer ist die Chance für das Kind eine stabile Entwicklung zu durchlaufen und schmälert das Risiko selbst zu erkranken.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Risiken für Kinder mit psychisch krankem Elternteil
2.1 Kindesvernachlässigung
2.2 Selbsterkrankungsrisiko der Kinder
2.3 Psychosoziale und kognitive Defizite
3. Handlungsansätze
3.1 Rechtliche Grundlagen
3.2 Unterstützung von Anfang an – Frühe Hilfen
3.3 Familienhilfe als pädagogische Dimension
3.4 Ein Netzwerk schaffen – Kooperation und Organisation der Institutionen
4. Schluss
5. Literaturverzeichnis
1.Einleitung
„Als meine Mutter kurz nach der Geburt meines Bruders an Schizophrenie erkrankte, war ich knapp drei Jahre alt. Meine Mutter war deshalb das erste und einzige Mal zwei bis drei Monate in einer Klinik. Sie kam völlig verändert nach Hause. […] Sie war manchmal völlig abwesend, saß nur auf dem Sofa und war nicht ansprechbar. Meinen Bruder, der ja noch ein Baby war, behandelte sie nach Aussage meiner Tanten wie einen Gegenstand. Sie war nicht in der Lage sich um ihn zu kümmern. Mein Vater war beruflich eingespannt und den ganzen Tag über im Büro.“ ( Scherber, 2008, S. 14).
So oder so ähnlich beginnen viele Biographien von Kindern psychisch kranker Menschen. Hochrechnungen zufolge beläuft sich die Zahl der Betroffenen jährlich auf etwa drei Millionen, das heißt, „dass in der Bundesrepublik Deutschland etwa drei Millionen Kinder im Verlauf eines Jahres einen Elternteil mit einer psychischen Störung erleben.“ (Mattejat, 2008, S. 75). Deutlich zeigen sich die Hauptbelastungen, die mit einer Erkrankung mindestens eines Elternteils einher gehen. In jedem Fall ist ein „normales“ Familienleben nur begrenzt möglich. Nun liegt der Fokus aber meist auf der erkrankten Person. Oft werden Angehörige und Familie nur am Rande wahrgenommen, insbesondere wenn zwischen psychiatrischer Hilfe, sei es ambulant oder stationär und (sozial-) pädagogischen Angeboten kein adäquater Austausch herrscht. Dass aber gerade die Kinder hohen Belastungen ausgesetzt sind bleibt oft ungesehen. Deshalb ist es wichtig auch für sie schon früh eine Betreuung anzubieten, um die Gefahr von Verhaltensauffälligkeiten oder einer Selbsterkrankung im weiteren Lebenslauf zu minimieren. Hier kann nur ein Netzwerk greifen, das die Problemlagen aller Beteiligten mit einbezieht.
Aus diesem Grund beschäftigt sich diese Arbeit mit den Risiken, denen explizit die Kinder psychisch Kranker ausgesetzt sind und wie dem aus professioneller Sicht Abhilfe geschaffen werden kann, genauer: Wo und wie angemessen schon früh Unterstützung angeboten werden kann und welchen Problemen sich Institutionen und Eltern dabei gegenübergestellt sehen. Dabei gilt: Je eher diese greift, desto größer ist die Chance für das Kind eine stabile Entwicklung zu durchlaufen und schmälert das Risiko selbst zu erkranken.
Das erste Kapitel im Hauptteil dieser Hausarbeit beleuchtet die vielfältigen Risiken und Belastungen für Kinder, die in Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil vorherrschen. Es werden die drei wichtigsten Problemfelder näher beleuchtet. Zu Beginn fällt die Kindesvernachlässigung in den Fokus. Nach der Klärung des Begriffs wird die Frage beantwortet, wieso gerade in diesen Familien Kindesvernachlässigung beziehungsweise –misshandlung gehäuft vorkommt. Das Selbsterkrankungsrisiko der Kinder, welches zu zusätzlichen Ängsten und Unsicherheiten seitens der Eltern führen kann ist das zweite Problemfeld. Hier werden die Forschungsbeiträge der High-Risk-Forschung zur genetischen Vererblichkeit psychischer Störungen und den beeinflussenden Umweltfaktoren kurz erläutert. Kapitel zwei schließt mit den psychosozialen und kognitiven Defiziten von Kindern in psychisch belasteten Familien, die in solchen Konstellationen vermehrt auftreten. Dies beginnt schon im Säuglingsalter und kann bei fehlendem Eingreifen im weiteren Lebenslauf zu Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten führen. Kapitel drei beschäftigt sich mit den Handlungsansätzen, die Fachkräften und Professionellen bestimmter Institutionen wie Jugendhilfe oder Psychiatrie zur Unterstützung zu Verfügung stehen. Zunächst werden rechtliche Grundlagen der Gewährung von Hilfen und der Abwendung von Kindeswohlgefährdung seitens der Jugendhilfeeinrichtungen einleitend geklärt. Danach werden in Kapitel 3.2 Zugangswege und Beispiele für frühe Hilfen und ihre Wirkweisen erläutert. Im Zentrum steht hier die Hilfe für Eltern. Ein konkretes Hilfsangebot bildet die Familienhilfe, die Thema des nächsten Kapitels ist. Fachkräfte können unmittelbar mit ihren Kompetenzen in der Familie ansetzen, sehen sich jedoch zunächst gewissen Ausschlusskriterien, die die psychische Erkrankung der Eltern mit einbezieht, gegenüber gestellt. An einem konkreten Beispiel wird in Kapitel 3.4 die Planung und Umsetzung eines für die umfassende und direkte Hilfe so wichtigen kooperativen Netzwerks zwischen den einzelnen Institutionen veranschaulicht. Das Schlusskapitel fasst die Ergebnisse noch einmal zusammen und diskutiert und hinterfragt sie.
Im Folgenden werden der Übersichtlichkeit halber nur Familien mit jeweils einem erkrankten Elternteil beschrieben, da sich im Falle einer psychischen Erkrankung beider wiederum andere Problemfelder ergeben, die hier zu weit führen würden.
2. Risiken für Kinder mit psychisch krankem Elternteil
Die Gefährdung für Kinder mit psychisch krankem Elternteil kann sehr vielseitig ausfallen. Wie das einleitende Beispiel zeigt ist es den Erkrankten oft nicht mehr möglich die Grundversorgung für ihr Kind zu gewährleisten, geschweige denn es durch eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung in seiner Entwicklung zu fördern. Somit kann sich in extremen Fällen nicht nur eine psychische Vernachlässigung sondern auch eine physische ergeben. Deshalb soll im Folgenden das Hauptaugenmerk auf eben diesen Risiken liegen.
2.1 Kindesvernachlässigung
Es gibt verschiedene Ansätze Vernachlässigung zu beschreiben. Neben der körperlichen gibt es weiterhin die erzieherische und emotionale Komponente. Sie unterscheiden sich wesentlich in ihren Auswirkungen auf das Kind. Die körperliche Vernachlässigung zeichnet sich durch mangelnde Grundversorgung, also Ernährung, Hygiene, medizinische Versorgung etc. aus. Erzieherische und emotionale Vernachlässigung, nicht minder schwerwiegend, beinhalten das Fehlen von erzieherischen Maßnahmen, nicht genügend Aufmerksamkeit, Mangel an Feingefühl und Wärme um nur einige Beispiele zu nennen (Lenz, 2008, S. 21). Ein Charakteristikum der Vernachlässigung, im Gegensatz zur Kindesmisshandlung, ist „die andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns sorgepflichtiger Personen […], welches zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes notwendig wäre.“ (Schone, 2000, S. 445).
Gerade Säuglinge und Kleinkinder, die in jeder Beziehung abhängig von ihren Eltern sind, treffen diese Arten der Vernachlässigung besonders schwer. Sie können ihre Mangelsituation nicht kompensieren oder öffentlich ausdrücken. Der Grundpfeiler für das Kindeswohl ist die Basisversorgung. Das Fehlen führt unweigerlich zu einer existentiellen Bedrohung des Kindes. Betrachtet man nun die Spezifika vieler psychischer Erkrankungen gestalten sich gerade die erzieherische und emotionale Fürsorge durch den betroffenen Elternteil als schwierig. Welche Folgen diese Defizite haben können ist Thema der beiden folgenden Unterkapitel.
Indes ist die psychische Erkrankung nicht allein Ursache für Vernachlässigung. Schone (Ebd., S. 446) nennt mehrere Elemente, die eine sogenannte „Risikofamilie“ auszeichnen. Neben der psychischen Belastung können die finanzielle Lage, das gesellschaftliche Umfeld, soziale Isolation der Familie und eine problematische Beziehung zwischen den Eltern weiterhin dazu beitragen, dass die Bedürfnisse des Kindes außer Acht gelassen werden.
Untersuchungen zur körperlichen Misshandlung von Personen mit psychisch kranken Eltern sprechen eine deutliche Sprache. Die Gefahr von sexuellem Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung ist zwei- bis dreimal höher als in Familien mit gesunden Eltern. Gleichzeitig steigt das Risiko einer psychischen Misshandlung. Diese geht mit der körperlichen meist einher (Lenz, 2008, S. 21 ff). Die Kinder werden als wertlos betrachtet und wie Gegenstände behandelt. „ Vieles deutet darauf hin, dass die psychische Misshandlung die häufigste Form der Kindesmisshandlung in Familien mit psychisch kranken Eltern ist […].“ (Ebd., S. 23).
2.2 Selbsterkrankungsrisiko der Kinder
In ihren Forschungen konnten Remschmidt und Mattejat feststellen, dass etwa ein Drittel der Kinder, die sich in stationärer kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung befinden einen psychisch kranken Elternteil haben. (1994, S. 15). In diesem Zusammenhang ist die High-Risk-Forschung zu nennen, die sich nicht nur mit dem genetischen Kontext der Vererblichkeit von psychischen Störungen befasst sondern auch die psychosoziale Komponente mit einbezieht. (Ebd., S. 108). So hat die Forschung herausgefunden, dass das Selbsterkrankungsrisiko sich etwa zu gleichen Teilen aus Umwelteinflüssen und genetischen Faktoren zusammensetzt, wobei nicht die Krankheit selbst weitergegeben wird, sondern vorrangig die Disposition für eine höhere Verletzlichkeit (Schrappe, 2010, S. 145). Diese Tatsache lässt darauf schließen, dass durch eine geeignete und frühe Begleitung der Eltern beziehungsweise des Kindes schädliche Belastungen minimiert werden können, die den Ausbruch einer psychischen Erkrankung fördern.
2.3 Psychosoziale und kognitive Defizite
Mit die größte Gefährdung, der ein Kind mit psychisch kranker Mutter oder krankem Vater ausgesetzt ist, ist eindeutig die mangelnde seelische und kognitive Entwicklung. Studien ergaben, „ dass Kinder psychisch auffälliger Eltern eine ungünstigere Entwicklungsprognose aufweisen als Kinder gesunder Eltern.“ (Schone, Wagenblass, 2006, S. 19). Diese hat ganz verschiedene Ursachen. Zwar muss zwischen den einzelnen psychischen Störungen unterschieden werden, aber in jedem Fall weisen die Kinder spezifische Beeinträchtigungen in eben genannten Bereichen auf.
Für eine gesunde Entwicklung brauchen schon Säuglinge sehr früh ein Gefühl von Schutz, Sicherheit und Anerkennung, das sie in erster Linie durch die emotionale Zuwendung der Bezugsperson erfahren. Nur dadurch können sich die Kinder unter geschützten Bedingungen entfalten und ausprobieren um so ein Selbstvertrauen zu entwickeln und Sozialverhalten zu lernen (Ebd., S. 18 f). Besonders die Mutter-Kind-Beziehung ist eine wichtige Bindung. Bei der Untersuchung von Remschmidt und Mattejat (1994, S. 76 ff) wurde festgestellt, dass die Kinder sowohl depressiver als auch schizophrener Mütter schon früh Störungen der Sprache, der emotionalen Regulation, der Kognition und der Bindungsfähigkeit aufwiesen. Den Müttern war es aufgrund ihrer Erkrankung nicht möglich sich auf ihr Kind einzulassen, es zu fördern und ihm Struktur und Halt zu geben.
Im späteren Kindesalter kommen noch einige andere Belastungen hinzu. Lenz (2008, S. 28 f) nennt beispielsweise die innerfamiliären Belastungen, in denen die Kinder teilweise in elterliche Rollen gedrängt werden, sprich sie übernehmen Aufgaben des erkrankten Elternteils. Dies fängt an bei der Haushaltsführung, der Versorgung jüngerer Geschwister und endet mit der Bürde für den gesunden Elternteil eine Art emotionaler Partnerersatz zu sein. Jedoch ist es unmöglich die Wünsche und Erwartungen zu erfüllen ohne die eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen. Auf den Kindern lastet also eine Verantwortung, die es nicht zulässt sich kindgerecht zu verhalten, seine Umwelt im Schutz der Familie zu erleben und eigene Wünsche zu äußern.
Zusätzlich müssen die Kinder lernen mit den Krankheitsschüben umzugehen. Hierbei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine Depression, Schizophrenie oder Suchtabhängigkeit handelt. Das Verhalten des Betroffenen ist oftmals unberechenbar und kann in kürzester Zeit umschlagen. Auf Grund dessen sehen sich die Kinder zwar ein und derselben Person gegenüber, die allerdings zwei Gesichter zu haben scheint. Lenz (Ebd., S. 25) beschreibt die damit einhergehende Problematik als Frage nach der Identität des erkrankten Elternteils. Ergo kann ein gesundes Vertrauensverhältnis nicht gegeben sein.
Festzuhalten ist aber, dass nicht in jedem Fall solch extreme Probleme auftreten. Frühe Hilfen und Unterstützung, ob nun von Seiten der näheren Bezugspersonen, also gesunder Elternteil, Großeltern etc. oder Hilfe in professioneller Form, sind gute und angebrachte Möglichkeiten die genannten Risiken zu minimieren. Der Frage wie und wo genau eine Unterstützung angesetzt werden kann wird im folgenden Kapitel nachgegangen.
3. Handlungsansätze
Im letzten Kapitel wurden die Risiken und Gefahren, die in einer Familie mit psychisch krankem Elternteil herrschen und ihre Auswirkungen auf die Kinder beleuchtet, denen sie meist ungefiltert und machtlos ausgesetzt sind. Auch wenn das Thema „Kinder psychisch kranker Eltern“ seit Mitte der Neunzehnhundertneunziger mehr und mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit von Wissenschaft und Forschung rückt (Kluth, Stern, Trebes, Freyberger, 2010, S.43), so gilt es weiterhin viele noch vorhandene Hürden zu nehmen und Problemlagen aus professioneller Sicht zu beschreiben und zu analysieren um ein spezifisches Hilfsangebot zusammenstellen zu können. Bei der Arbeit können sich ganz verschiedene Hindernisse ergeben. Sei es von Seiten der Eltern, der unterstützend tätigen Institutionen oder der gesellschaftlichen Umgebung. Nachfolgend sollen verschiedene Handlungs- und Lösungskompetenzen, insbesondere der frühen Hilfe veranschaulicht und die rechtlichen Rahmenbedingungen geklärt werden
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