Die schulischen Erziehungsinstanzen in Christa Wolfs "Kindheitsmuster"
Eine Figurenanalyse
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhalt
Einleitung
1. Die Figur
1.1 Eine kurze Einführung
1.2 Strukturalistische vs. mimetische Ansätze
1.2.1 Strukturalistische und formalistische Ansätze
1.2.2 Mimetische Ansätze
1.2.3 Versuche der Versöhnung der Ansätze
1.2.4 Figurenbegriff dieser Arbeit und Parameter der Figurenanalyse
1.3 Figurenanalyse und Mittel der Charakterisierung
2. Die Erziehungsinstanzen in Christa Wolfs Kindheitsmuster – Eine Figurenanalyse
2.1 Die Besonderheiten des Romans
2.2 Herr Warsinski – Mädchenschule III
2.3 Dr. Juliane Strauch - Oberschule
Fazit
Einleitung
Christa Wolfs Kindheitsmuster beschäftigt sich mit einem Erzähler-Ich, das 1929 in Deutschland geboren wurde und somit seine Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland verbrachte. Im Gegensatz zu anderen Romanen, die sich mit dem zweiten Weltkrieg beschäftigen, setzt Kindheitsmuster demnach bereits mit der Kindheit des Erzähler-Ichs ein, nämlich etwa in dem Jahr 1932, in dem das Kind zum ersten Mal „Ich“ denkt. Der Fokus, der somit auch auf die Erziehung in den Vorkriegsjahren gelegt wird, legt es nahe, diese etwas genauer zu betrachten, um nachvollziehen zu können, mit welchen Erziehungsinstanzen Kinder im nationalsozialistischem Deutschland konfrontiert waren und inwiefern diese ihre Entwicklung zu einem systemkonformen Bürger beeinflusst haben. In dieser Arbeit sollen demnach die schulischen Erziehungsinstanzen analysiert werden, um ihren Einfluss auf das Kind Nelly Jordan zu untersuchen. Um dieses reflektiert tun zu können, beschäftigt sich die Arbeit jedoch zunächst theoretisch mit der narratologischen Entität der Figur, um anschließend die Figuren des Lehrers Warsinski und der Lehrerin Dr. Juliane Strauch zu analysieren.
1. Die Figur
Da sich diese Arbeit mit den schulischen Erziehungsinstanzen des NS-Regimes in Kindheitsmuster[1] und deren Einfluss auf eine faschistisch geprägte Kindheit Nellys, des kindlichen Erzähler-Ichs, beschäftigen soll, ist es zunächst einmal notwendig, den Diskurs über Figuren in der Forschung zu skizzieren, um anschließend den Umgang mit der Entität der Figur in dieser Arbeit festzulegen. Des Weiteren soll diskutiert werden, wie eine Figurencharakterisierung aussehen könnte und welche Aspekte bei der Betrachtung der Erziehungsinstanzen in den Vordergrund rücken sollen.
1.1 Eine kurze Einführung
Betrachtet man die Entität der Figur in der Erzählwelt, ist es zu Beginn interessant zu reflektieren, welche Rolle Figuren in einer Erzählung einnehmen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sich in der Forschung die Auffassung durchgesetzt hat, dass die Voraussetzung einer Erzählung eine Zustands- oder Situationsveränderung und somit ein Ereignis ist. So fasst zum Beispiel Peter Hühn in seinem Artikel im Living Handbook of Narratology ein Ereignis folgendermaßen zusammen: “The term ‘event’ refers to a change of state, one of the constitutive features of narrativity” (Hühn LHN: Paragraph 2). Es ist zudem festzuhalten, dass nach Hühn solche Ereignisse normalerweise in Bezug zu einer oder mehreren Figuren als „agent[s] or patient[s]“ (Hühn LHN: Par.5) stattfinden, also eine Erzählung ohne Figuren nicht möglich wäre.
Auch bereits Jurij M. Lotman befasst sich mit der Zustandsveränderung als konstitutives Element einer Erzählung. Lotman gebraucht jedoch den Begriff sujethaft, der besagt, dass ein Text erst sujethaft und somit narrativ wird, wenn die Grenze zwischen zwei komplementären Teilräumen überschritten wird. (vgl. Martinez/Scheffel 2009:140) Interessant ist es nun zu betrachten, aus welchen drei Elementen sich laut Lotman ein Sujet zusammensetzt:
1. ein bestimmtes semantisches Feld, das in zwei sich ergänzende Teilmengen gegliedert ist; 2. eine Grenze zwischen diesen Teilen, die unter normalen Umständen unüberschreitbar ist, sich jedoch im vorliegenden Fall (ein Sujet-Text spricht immer von dem vorliegenden Fall) für den Helden als Handlungsträger doch als überwindbar erweist; 3. der Held als Handlungsträger. (Lotman 1972: 341)
Es wird also auch bei Lotman deutlich, dass der Held als Handlungsträger eine der drei Voraussetzungen eines Sujets und somit auch Voraussetzung für einen sujethaften, also narrativen Text ist. Bei der Betrachtung der beiden oben aufgeführten Definitionen wird demnach bereits deutlich, dass Figuren eine wichtige Position in der Ereignishaftigkeit von Texten einnehmen und allein deshalb in den meisten Erzählungen nicht wegzudenken sind. Hierbei müssen die Figuren jedoch nicht ausschließlich menschlich sein, sondern können auch lediglich „human-like“ (Jannidis LHN: Par.2), so zumindest nach einem mimetischen Ansatz, sein.
Neben dieser konstitutiven Besonderheit von Figuren, ist es jedoch auch interessant zu betrachten, welche Rolle Figuren für den Leser einnehmen. Es ist vermutlich jedem bewusst, dass Erzählungen ohne Figuren für den Leser wenig interessant wären. Wir erhoffen uns beim Lesen Einblicke in zumindest eine Figur zu bekommen, um so eine gewisse Nähe zu der Figur aufzubauen. Wie dieses Gefühl der Nähe erzeugt wird, kann jedoch verschiedenste Gründe haben und muss somit im Einzelfall betrachtet werden (vgl. Lahn/Meister 2008: 232). Festzuhalten ist jedoch, dass die Figur für den Leser eine ganz besondere Rolle in einer Erzählung einnimmt und eine starke Faszination ausübt. Der Leser betrachtet diese faszinierende Entität nun häufig als Individuum, also als menschenähnliche Instanz, die somit auch analysiert und durchschaut werden kann. Dieser Aspekt der Psychologisierung der Figuren führte in der Forschung zu kontroversen Diskussionen bezüglich der Behandlung von Figuren. Diese Debatte soll im Folgenden kurz dargestellt werden.
1.2 Strukturalistische vs. mimetische Ansätze
Wie bereits oben erläutert, gibt für die Figurenbetrachtung in der Forschung unterschiedliche Ansätze. Die entscheidende Frage ist hierbei, ob man die Figuren als anthropomorph oder lediglich als reines sprachliches Konstrukt auffasst. Die zwei wichtigsten Ansätze, die sich in diesem Punkt unterscheiden, sollen im Folgenden kurz dargestellt werden.
1.2.1 Strukturalistische und formalistische Ansätze
Strukturalisten, so Rimmon-Kenan, können Figuren natürlich kaum in ihre Theorie aufnehmen, welche den Inhalt als zweitrangig und Menschen als dezentral ansieht und sich somit auch gegen die Ansicht von Individualität und einer psychologischen Tiefenstruktur wendet. (vgl. Rimmon-Kenan 1997: 30) Mit dieser Feststellung einhergehend, vertraten Strukturalisten wie Roland Barthes, Vladimir Propp oder Boris Tomasevskij bis ins 20. Jh. hinein die Auffassung, dass die Besonderheiten literarischer Texte vernachlässigt würden, wenn die Figuren als Abbild realer Menschen betrachtet würden. (vgl. Lahn/Meister 2008: 233) Wie der Name bereits verrät, legen Strukturalisten also den Fokus auf die Struktur von Texten. Figuren werden daher als Knotenpunkt in einem Text aufgefasst, an dem Ereignisse und Kräfte aufeinandertreffen und zusammenwirken; die Individualität sowie der anthropomorphe Charakter werden jedoch negiert. (vgl. Rimmon-Kenan 1997: 30) Aus diesem Grund werden den Figuren in strukturalistischen Abhandlungen vielfach Funktionen zugeschrieben. Außerdem werden die Figuren als ihren Handlungen untergeordnet angesehen. Bereits bei Aristoteles, der die Figuren lediglich als „‘agents‘ or ‘performers‘“ (Rimmon-Kenan 1997: 34) für notwendig hielt, kann man diese Unterordnung finden. Einer der ersten, der ein Modell für die Funktionen von Figuren entwarf, war Vladimir Propp. Propp ordnet in seinem Modell Figuren ihren „Handlungskreisen“ (Martinez/Scheffel 2009: 139) unter und schreibt ihnen folgende mögliche Rollen zu: „the villain, the donor, the helper, the sought-for-person and her father, the dispatcher, the hero and the false hero.“ (Rimmon-Kenan 1997: 34). Auch Greimas verfasste ein ähnliches Modell, sein sogenanntes Aktantenmodell, welches sich auf die Funktionen der Figuren „in Bezug auf die Gesamthandlung“ (Lahn/Meister 2008: 244) bezieht. Toolan fasst die strukturalistische Position wie folgt zusammen: „In short, the text of the person, in narrative, belies individuality and discloses at every turn their typicality.“ (Toolan 1988: 90) Es wird also bereits an diesem sehr kurzen Überblick deutlich, dass sich die Strukturalisten gegen die Betrachtung von Figuren als reale Menschen oder menschähnliche Individuen richten und vielmehr abstrakte, strukturalistische, funktionale Aspekte in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellen. Durch diese Ablehnung der Psychologisierung der Figuren umgeht man zwar zum einen die Gefahr einer falschen Interpretation von Figuren durch "anthropological, biological or psychological theory of persons“ (Jannidis LHN: Par.12), zum anderen, so argumentieren die Vertreter des mimetischen Ansatzes, vernachlässigt diese rein strukturalistische Betrachtung der Figuren wesentliche Aspekte, wie zum Beispiel den „wirkungsästhetische[n] Gesichtspunkt“ (Lahn/Meister 2008: 234).
1.2.2 Mimetische Ansätze
Während nun der strukturalistische Ansatz Figuren als rein sprachliche Phänomene betrachtet, hat der mimetische Ansatz die anthropomorphe Auffassung der Figuren als Grundannahme, die es dem Leser und literaturwissenschaftlichen Betrachter erlaubt, die Figuren zu psychologisieren. Rimmon-Kenan fasst die mimetische Theorie folgendermaßen zusammen:
[…] the so-called ‚realistic‘ argument sees characters as imitations of people and tends to treat them –with greater or lesser sophistication- as if they were our neighbours and friends, whilst also abstracting them from the verbal texture of the work under consideration. (Rimmon-Kenan 1997: 32)
Demnach beschäftigt sich der mimetische Ansatz nicht mit rein handlungslogischen Zusammenhängen, wie es der Strukturalismus häufig tut, sondern befasst sich zum Beispiel auch mit psychoanalytischen Untersuchungen der Figuren - wie z.B. Freuds Analyse von Hamlet (vgl. Jannidis LHN: Par.12) - sowie mit psychologischen Phänomenen, wie zum Beispiel der Bildung von Sympathien und Antipathien, kurz mit den wirkungsästhetischen Aspekten (vgl. Lahn/Meister 2008: 233).
In den letzten Jahrzehnten fand die mimetische Theorie wieder mehr Zuspruch, da unter anderem die Reduzierung der Figuren auf rein sprachliche Konstrukte auch praktische Probleme in der Literaturwissenschaft mit sich brachte. (vgl. Jannidis LHN: Par.14) So stellt sich das Aktantenmodell Greimas in der Anwendung auf moderne Literatur als problematisch dar, weil viele Figuren nicht mehr durch ihre Funktion und Motive definiert sind, sondern auch rein „abstrakte bzw. syntaktische […] Subjekte“ sein können und somit eine rein (handlungs-)logisch orientierte[..] Figurenkonzeption“ (Lahn/Meister 2008: 246) nicht mehr ausreicht.
Aber auch der mimetische Ansatz wurde immer wieder kritisiert, da er, so die Kritiker, das spezifisch Narrative außer Acht lasse (vgl. Rimmon-Kenan 1997: 34). Die Figuren sind, so wird immer wieder betont, unvollständig in dem Sinne, dass nur ein Ausschnitt ihres Lebens und ihrer Psyche in der Erzählung gezeigt wird. Strukturalisten betonten nun immer wieder, dass eine Figur sich auch ausschließlich nur aus diesen Informationen zusammensetzt, während in der mimetischen Theorie, die Figuren häufig als trotzdem ganzheitlich betrachtet wurden oder sogar Leerstellen ergänzt wurden. So analysierte Bradley (1902) Shakespeares Figuren wie reale Menschen und ergänzte sogar eine Vorgeschichte und eine Zukunft für die jeweiligen Figuren. Diese sehr extreme Ausformung des mimetischen Ansatzes verdeutlicht noch einmal die Gefahr, durch die Behandlung der Figuren als reale Personen und die rein psychologische oder psychoanalytische Analyse spezifisch narrative Aspekte zu vernachlässigen und sich in Spekulation zu verlieren, wie zum Beispiel an Knights (1933) spöttischer Frage „‘How many children had Lady Macbeth?‘“ (zitiert in[2] Jannidis LHN: Par.14) deutlich wird.
Die Aufgabe, die sich nun also die Kritiker in der Forschung stellen mussten und müssen, war/ist es, einen Ansatz zu entwickeln, der die beiden vorgestellten Ansätze so vereint, dass weder das rein textuelle Konstrukt noch eine rein menschliche Betrachtung im Vordergrund steht. Einige Vorschläge für eine solche Figurenbetrachtung sollen im folgenden Abschnitt beschrieben und die Behandlung der Figuren in dieser Arbeit geklärt werden. Hierbei soll der Fokus auf Jannidis (2004) und Rimmon-Kenan (1997) liegen, da der Rahmen dieser Arbeit eine weiter reichende Betrachtung nicht zulässt.
1.2.3 Versuche der Versöhnung der Ansätze
Jannidis fasst zusammen:
Figuren lassen sich weder als bloße textuelle Bezüge noch als direkte Wiedergabe von realen Personen auffassen, aber ganz offensichtlich haben sie von beidem etwas. Dieses ‚Etwas‘ genauer zu bestimmen ist das eigentliche Problem. (2004: 172)
Auch Rimmon-Kenan beschreibt, dass die große Aufgabe in der Figurenforschung „the elaboration of a systematic, non-reductive but also non-impressionistic theory of character“ (1997: 29) sei. Das bedeutet, dass eine systematische Theorie verfasst werden muss, die weder rein strukturalistisch noch rein mimetisch arbeitet und die zusätzlich auch genre- und epochenübergreifend funktionieren muss (vgl. Lahn/Meister 2008: 246).
Weder der strukturalistische noch der mimetische Ansatz, so Rimmon-Kenan, vermag es, das Spezifische der fiktionalen Figuren (vgl. 1997: 33) zu erfassen. Sie versucht nun also einen Mittelweg zu finden, der beide Theorien vereint und der das spezifisch Narrative, bzw. das Spezifische fiktionaler Figuren, berücksichtigt. Nach Rimmon-Kenan ist es möglich, die Figuren einerseits als „persons“ und andererseits als „parts of a design“ (1997: 33) zu betrachten. Dies sei möglich, wenn man einerseits den Figuren eine Knotenfunktion auf der sprachlichen Ebene, aus der sie nicht herauszulösen sind, zuschreibt, andererseits jedoch die Figuren in der story, in der die Figuren aus der sprachlichen Ebene herausgelöst werden, nicht als sprachliche Konstrukte begreift, sondern vielmehr als Konstrukte, die zwar keine realen Menschen sind, aber dennoch, insbesondere aus Sicht der Leser, menschähnlich sind. (vgl. Rimmon-Kenan 1997: 33). Nicht nur Rimmon-Kenan beschäftigte sich mit der Problematik einer einseitigen Betrachtung des Figurenkonzepts. Auch andere Literaturwissenschaftler und Kritiker erkannten die oben erwähnten Probleme. Selbst Roland Barthes distanzierte sich von der zuvor postulierten Hierarchie von Handlung und der Figur selbst. Auch Ferrera stellte ein strukturalistisches Modell auf, das die Figur und nicht ihre Funktion und Handlung als zentral betrachtet und sie sogar als strukturierendes Element bezeichnet, durch das Ereignisse und Objekte erst entstehen können. (vgl. Rimmon-Kenan 1997: 35) Es wird also deutlich, dass laut Rimmon-Kenan eine Versöhnung der beiden Ansätze nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll ist. Sie stellt jedoch drei Voraussetzungen für eine solche Versöhnung auf. Erstens müssten die verschiedenen Ansätze als voneinander abhängig begriffen werden, zweitens müssten die verschiedenen Hierarchien (character > action vs. action > character) eher als relativ und abhängig von der Art der Erzählung angesehen werden, und drittens müsste man sogar so weit gehen, dass die Hierarchien genreunabhängig sowie unabhängig von der Art der Erzählung je nach Interesse und Fokus des Lesers umgekehrt werden können. (vgl. Rimmon-Kenan 1997: 35f.) Die Hierarchien sind also variabel. So erstellt Rimmon-Kenan ein Figurenkonzept, das sich, wie bereits bei Chatman, aus „traits“ (1997: 37) zusammensetzt. Diese traits sieht sie jedoch nicht als statisch an, sondern als zwar hierarchisch, jedoch variabel. Sie negiert also hier den Begriff der traits und somit auch den der Figur, wie er zum Beispiel von Roland Barthes vertreten wurde, der nämlich Figuren als „mere words or a paradigm of traits“ (Jannidis LHN: Par.) sah, während jedoch traits hier als statische Seme angesehen wurden. Rimmon-Kenan aktualisiert den Begriff traits nun also als die klassischen Charaktereigenschaften, die sich baumdiagrammförmig anordnen und in ihren Hierarchien variabel sind (vgl. 1997: 36).
Es ist interessant zu betrachten, dass Rimmon-Kenan außerdem bereits den Leser in den Fokus rückt, da auch Jannidis dieses in seiner Monographie zur Figur und Person 2004 tut. Jannidis führt die Figur als „das Konzept eines textbasierten mentalen Modells des Modell-Lesers“ (2004: 243) ein, durch das einerseits das „lebensweltliche Wissen zur Konstitution des Modells als auch die prinzipielle Differenz der Figur zur Person angemessen“ (2004: 243) erfasst werden kann. Das Modell der Figur wird in seiner Binnenstruktur durch einen Basistypus –Minimaltypus der Figur, der durch die Handlungsfähigkeit und die Opposition von Innen und Außen definiert ist (vgl. Jannidis 2004: 126)- bestimmt. (vgl. Jannidis 2004: 242) Die Figur ist des Weiteren als „Leserkonstrukt“ (Lahn/Meister 2008: 234) aufzufassen. Der Modell-Leser nach Jannidis ist kein realer Leser, sondern ein vom Autor intendierter Leser, der mit einem „Gedächtnis, mit kulturellem Wissen und mit der Fähigkeit Inferenzen zu bilden“ (2004: 237) ausgestattet ist. Daraus wird deutlich, dass der hypothetische Modell-Leser Weltwissen sowie auch Textwissen hinzuziehen und sich somit vom reinen sprachlichen Konstrukt trennen muss, um die Figur und die narrative Kommunikation zu konstruieren und zu analysieren. Andererseits verwendet Jannidis in seinem inferenzbasierten Modell keinen empirischen Leser, sondern mit dem Modell-Leser ein textbasiertes Konstrukt und betrachtet auch die Figur als textbasiert und keinesfalls als „realistisches Substrat“ (2004: 170), so dass er weder einen rein mimetischen noch rein strukturalistischen Ansatz verfolgt, sondern beide in verschiedenen Aspekten verbindet. Für die konkrete Analyse der Erzählung benötige man dann also das Wissen über den „basic type“ (Jannidis LHN: Par.4), über „character models or types“ (ebd.), also ähnlich wie bei Propp das Wissen über die verschiedenen Funktionen, die Figuren in Texten übernehmen können, und man müsse schließlich über „encyclopedic knowledge of human beings“ (ebd.) verfügen, um Schlussfolgerungen ziehen zu können, die genrespezifisches bis alltägliches Wissen erfordern können.
Diese dargestellten Beispiele von Figurenmodellen zeigen, dass es Ansätze gibt, die strukturalistische und mimetische Theorien vereinen. Diese Ansätze erscheinen umfassender, da sie spezifisch Narratives, wie zum Beispiel die Funktionen der Figuren, sowie alltägliches Wissen oder auch Weltwissen vereinen. Dennoch sind auch diese Theorien der Kritik ausgesetzt und in der Praxis nicht für alle Erzähltexte ausreichend. Jedoch erscheint es schwierig, wie auch Phelan schon schrieb, eine Studie zu erstellen, die die „multitudinous interactions of characters and progression“ (1989: 189) vollständig in sich vereinen kann. Es erscheint somit sinnvoll, für jede Erzählung, die man hinsichtlich der Figuren untersuchen möchte, zu überprüfen, ob die intendierte Figurenkonzeption und die Mittel der Figurencharakterisierung ausreichend und sinnvoll erscheinen. Hierbei ist es jedoch, wie oben dargestellt, notwendig, keine rein mimetischen oder strukturalistischen Untersuchungen durchzuführen, um nicht das spezifisch Narrative zu vernachlässigen und um alle Ansätzen für Analysen ausreichend zu reflektieren. Aufgabe dieser Arbeit wird es also sein, die konkrete Figurenanalyse an einem Figurenkonzept zu orientieren, das die oben zusammengefassten Erkenntnisse für den konkret vorliegenden Fall überprüft, um somit die Figurenanalyse an diesem Konzept zu orientieren.
1.2.4 Figurenbegriff dieser Arbeit und Parameter der Figurenanalyse
Im Folgenden soll nun der Figurenbegriff, der der Figurenanalyse zugrunde liegt, kurz dargestellt, sowie wichtige Parameter der Figurenanalyse festgelegt werden.
- anthropomorphe Agenten: Die Figuren werden nicht als reale Personen aufgefasst, auch wenn die vorliegende Erzählung autobiographische Züge hat, da dies wiederum das spezifisch Narrative, wie zum Beispiel die Figurenkonstellation und Funktionen der Figuren des Romans vernachlässigen würde. Da es sich bei den Figuren um das Abbild von Personen in der aktualen Welt handelt, insbesondere durch die autobiographischen Bezüge, werden sie zwar als Textkonstrukte jedoch als menschenähnlich begriffen und somit zum Teil unter Rückgriff auf das Weltwissen untersucht. (ST, M)[3]
- Leerstellen: Figuren werden als auf die Textinformation beschränkt begriffen und Leerstellen werden nicht ergänzt, so wie es beispielsweise Bradley getan hat, sondern werden höchstens als Spekulation auf Seiten der Leser markiert. (ST, M)
- Funktionen und Rollen: Die Figuren sollen auf eventuell bestehende Funktionen und Rollen hin untersucht werden, die sich zum Beispiel aus der Figurenkonstellation und –charakterisierung ergeben. Es wird jedoch nicht davon ausgegangen, dass Figuren nur handlungslogisch zu betrachten sind. (ST)
- Individualität: Des Weiteren, wie sich aus der Analyse der Funktionen und Rollen ergeben wird, soll betrachtet werden, ob den Figuren Individualität zugeschrieben wird. In der Figurenanalyse soll demnach keine Vorannahme bestehen, sondern im Verlauf der Betrachtung zwischen Typ und Individuum entschieden werden. (M)
- Charaktereigenschaften: Die traits sollen in Anlehnung an Rimmon-Kenan an dieser Stelle noch einmal klar als Charaktereigenschaften und nicht als Seme festgelegt werden, obwohl laut Jannidis (2004) dies eigentlich, trotz anderer Bezeichnung, auch bei den Strukturalisten immer der Fall war. (vgl. 162) (M)
- Modell-Leser und Basistypus: Der Modell-Leser und der Basistypus sollen von Jannidis übernommen werden. Anhand des Modell-Lesers kann somit untersucht werden, welcher vom Autor intendierter Leser vermutet werden kann. Der Basistypus soll als Grundannahme zu einer Figur dienen, die also ein Äußeres und Inneres hat, das untersucht werden muss. (ST, M)
- Wirkungsästhetische Gesichtspunkte: Schließlich sollen auch wirkungsästhetische Aspekte reflektiert werden. (M)
Wie auch an den Ergänzungen „M“ und „ST“ erkenntlich, ergeben sich Voraussetzungen einer Figurenbetrachtung, die verschiedene Ansätze in sich vereinen. Diese Durchmischung in einigen Aspekten, wie auch Rimmon-Kenan bereits formulierte, ergibt sich jedoch durch die Interdependenz der beiden Ansätze sowie der neutraleren Betrachtung verschiedener Aspekte. Es ist hier bereits zu erkennen, dass auch in dieser Zusammenfassung sich die mimetischen Aspekte eher auf den Bereich der story und die strukturalistischen eher auf den Bereich des discourse beziehen.
1.3 Figurenanalyse und Mittel der Charakterisierung
Anhand der oben genannten Parameter der Figurenbetrachtung, soll im folgenden Abschnitt dargestellt werden, welche Mittel der Figurenanalyse möglich sind und auch sinnvoll für die Analyse der Erziehungsinstanzen in KM erscheinen.
Seit Jahrzehnten herrscht E.M. Forsters Modell von flachen und runden Figuren in der Forschung vor. Viele Versuche andere Modelle zu erstellen, seien, so Jannidis (LHN: Par.8), zu kompliziert und unübersichtlich. Nach Forster sind flache Charaktere in ihrer reinsten Form nur eine Idee oder Eigenschaft, die „idealtypischerweise in einem Satz zusammengefaßt werden“ (Jannidis 2004: 86) können. Sobald jedoch mehrere Motive in ihnen wirken, liegt bereits eine Krümmung zu einer runden Figur vor.
We may divide characters into flat and round. Flat characters were called ‘humours‘ in the seventeenth century, and are sometimes called types, and sometimes caricatures. In their purest form, they are constructed around a single idea or quality; when there is more than one factor in them, we get the beginning of the curve towards the round. (Forster 1960: 67)
Diese bildliche Darstellung hat jedoch einige Schwächen. Zum einen tendieren wir dazu, mit der Unterscheidung zwischen flat und round bereits Wertungen vorzunehmen, da wir komplexen Figuren mehr Wert zusprechen als einfachen. (vgl. Jannidis LHN: Par.39) Hinzu kommt, dass die Kategorien zwei Dimensionen vermischen, nämlich erstens die der Komplexität der Figuren sowie die der Entwicklung der Figuren. (vgl. Rimmon-Kenan 1997: 40) Des Weiteren wurden die Kategorien in der Forschung häufig als zwei extreme Pole gewertet. Forster beschreibt jedoch selbst in dem oben zitierten Abschnitt, dass sobald mehr als eine Eigenschaft in einer Figur besteht, es zu einer Krümmung zu runden Charakteren kommt. Der Begriff Krümmung scheint hier essentiell, da er die Auffassung von zwei extremen Polen negiert und vielmehr eine graduelle Abstufung impliziert. Insofern erscheint Rimmon-Kenans Vorschlag einer Achse mit zwei Endpolen, nämlich einfach und komplex, auf der Figuren auf jeder Höhe eingetragen werden und auf der die Figuren sich auch im Verlauf der Erzählung bewegen können, sinnvoll. (vgl. Rimmon-Kenan 1997:40) Zur Trennung der verschiedenen Dimension der beiden Kategorien schlägt sie zudem eine separate Achse für die Kategorie „development“ vor.
Neben dieser sehr stark verbreiteten Unterscheidung zwischen flachen und runden Figuren, findet man auch immer wieder die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Charakterisierung. Merkmale (traits) im Sinne der Definition als Charaktereigenschaft können den Figuren direkt oder indirekt zugeschrieben werden, bzw. können sich die Charaktere auch selbst direkt oder indirekt charakterisieren. Eine direkte Charakterisierung kann hierbei als die konkrete Erwähnung von Charaktereigenschaften einer Figur gewertet werden. Hierbei muss jedoch eine Gewichtung vorgenommen werden. Wenn die Merkmalszuschreibung von einem zur Allwissenheit neigendem Erzähler vollzogen wird, fällt diese Charakterisierung stärker ins Gewicht, als wenn zum Beispiel Charaktere sich untereinander Eigenschaften zuschreiben. Zum einen muss hierbei immer die Zuverlässigkeit und Objektivität der charakterisierenden Instanz bewertet werden, zum anderen kann eine direkte Charakterisierung einer Figur durch eine andere Figur, diese auch indirekt selbst charakterisieren. (vgl. Rimmon-Kenan 1997: 60) Zu unterscheiden sind folglich also auch Eigen- und Fremdcharakterisierung. Figuren können sich des Weiteren, so Hansen (2000), zum Beispiel durch ihr Handeln, ihre Sprache sowie durch ihre äußere Erscheinung indirekt charakterisieren (vgl. Lahn/Meister: 237). Diese vier genannten Kategorien der indirekten Charakterisierung werden dabei dem showing (Zeigen) zugeordnet, während die explizit charakterisierenden Erzählerkommentare dem telling (Erzählen) zuzuordnen sind. Auch das soziale Umfeld kann Figuren indirekt charakterisieren. Rimmon-Kenan führt neben den bereits genannten Wegen der indirekten Charakterisierung außerdem die Charakterisierung über Analogien auf, die entweder auf Gemeinsamkeiten oder Kontrasten beruhen. So können Figuren zum Beispiel auch über Analogien zwischen ihrer Person und ihrem zugeschriebenen Namen charakterisiert werden oder gerade durch den Kontrast zwischen ihrem Verhalten und dem Verhalten, das ein bestimmter Name impliziert. Des Weiteren können analoge Landschaften charakterisierende Eigenschaften haben, dadurch dass sich die Figur entschließt, gerade in einer bestimmten Landschaft zu verweilen. Eine weitere Analogie kann zwischen zwei Charakteren entstehen. Durch Kontrast- und Korrespondenzrelationen können in verschiedenen Figurenkonstellationen in verschiedenen situativen Rahmen –„umfaßt Figuren an einem Ort sowie das Geschehen an einem Ort“ (Jannidis 2004: 133) – besondere Merkmale hervorgehoben werden. (vgl. Rimmon-Kenan 1997: 67ff.) Auch bei KM erscheint eine Untersuchung auf die Mittel der indirekten und direkten Charakterisierung hin sinnvoll, wobei zum Teil durch die Auffassung der Figur als menschenähnliches Textkonstrukt auch textexternes Wissen, oder, wie Jannidis es formuliert, enyclopedic knowledge in die Figurenanalyse einfließt. Dieses extratextuelle Wissen variiert natürlich von Leser zu Leser und somit kann auch die Deutung des Textes variieren. Toolan schreibt hierzu:
[...]
[1] Im Folgenden abgekürzt mit KM
[2] im Folgenden abgekürzt mit „zit. in“
[3] ST soll hier für eine strukturalistische Tendenz stehen, M für eine Tendent zur mimetischen Theorie