Chinas Aufstieg und der Untergang der Sowjetunion
Eine machttheoretische Betrachtung
Zusammenfassung
herangezogen.
In dieser Arbeit wird zunächst ein kurzer Überblick über den Machtbegriff in den Internationalen Beziehungen gegeben, gefolgt von einer Umreißung der neorealistischen Prämissen und des Machtbegriffs von Hannah Arendt. Anschließend wird der Zusammenbruch der Sowjetunion und dessen Gründe erörtert und mit der Situation in China verglichen. Dies geschieht anhand der Dimensionen wirtschaftliche Entwicklung, politisches System und Ideologie. Abschließend wird erörtert, wieso und auf welche Weise der Volksrepublik China trotz ihres Aufstiegs schnell ein ähnliches Schicksal wie das der ehemaligen Sowjetunion drohen könnte.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Der Begriff der Macht in den Internationalen Beziehungen
Materielles und Immaterielles: Der Neorealismus und Hannah Arendt
Die Sowjetunion - wirtschaftlich nicht leistungsfähig genug?
Chinas vorsichtige Demokratisierung
Festhalten in der Sowjetunion, Wandel in China
Die Fehler der Sowjetunion
Weltmacht China - außen stark, innen schwach?
Chinas Aufstieg und der Untergang der Sowjetunion
Eine machttheoretische Betrachtung
Einführung
Zwei ähnliche Systeme, zwei völlig verschiedene historische Verläufe: Wieso ist die Sowjetunion inmitten ihrer Reformbemühungen für ein moderneres Wirtschafts- und Gesellschaftsystem zusammengebrochen, während die Volksrepublik China, die ebenfalls ein kommunistisches System mit ähnlichen Merkmalen darstellt, einen rasanten machtpolitischen und wirtschaftlichen Aufstieg erlebt und als kommende Weltmacht gesehen wird (Marsh 2003; Holbig/Gilley 2010)? Diese Untersuchung will zeigen, welche äußeren und inneren Faktoren zum Untergang der Sowjetunion und zur Vermeidung einer ähnlichen Entwicklung in China beigetragen haben. Dabei wird der Fokus auf Machtstrukturen gelegt und wie sie durch die damaligen Ereignisse und politischen Gestaltungen beeinflusst wurden. Zur Erklärung werden die Machttheorie des Neorealismus für die äußere Perspektive und die Machtkonzeption Hannah Arendts für die innere Perspektive herangezogen.
Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Überblick über den Machtbegriff in den Internationalen Beziehungen gegeben, gefolgt von einer Umreißung der neorealistischen Prämissen und des Machtbegriffs von Hannah Arendt. Anschließend wird der Zusammenbruch der Sowjetunion und dessen Gründe erörtert und mit der Situation in China verglichen. Dies geschieht anhand der Dimensionen wirtschaftliche Entwicklung, politisches System und Ideologie. Abschließend wird erörtert, wieso und auf welche Weise der Volksrepublik China trotz ihres Aufstiegs schnell ein ähnliches Schicksal wie das der ehemaligen Sowjetunion drohen könnte.
Der Begriff der Macht in den Internationalen Beziehungen
Wie bereits einige Forscher dargelegt haben, ist Macht schon mit unserer alltäglichen Gesellschaft untrennbar verbunden (Koller 1991: 107; Arendt 1993), im politischen Bereich spielt sie sowieso eine herausragende Rolle (Arendt 1993: 52). Niklas Luhmann definiert sie in seiner Systemtheorie gar als Kommunikationsmedium der Politik (Luhmann 1988). Es kann zwischen zwei Herangehensweisen an den Machtbegriff unterschieden werden: Der „Macht über etwas“, wie sie etwa Robert A. Dahl und Max Weber formuliert haben, und der „Macht zu etwas“, wie sie Hannah Arendt geprägt hat. Die Macht über etwas basiert darauf, wie in einer sozialen Beziehung eine
Person gegen eine andere ihren Willen durchsetzen kann, klassisch nach Robert A. Dahl formuliert: „Person A hat Macht über Person B in dem Ausmaße, dass sie Person B dazu bringen kann etwas zu tun, das Person B sonst nicht tun würde“ (Dahl 1957: 202). Arendt hingegen definiert Macht als die Macht, etwas zu tun, als eine menschliche Fähigkeit (Arendt 1993: 45). Die Konzeption Arendts wird im Folgenden noch weiter erläutert werden.
Materielles und Immaterielles: Der Neorealismus und Hannah Arendt
Im Vergleich des Neorealismus zur Machtkonzeption Hannah Arendts fällt auf, dass die realistischen Theorien einen härteren, materielleren Machtbegriff formulieren: Eine wichtige Rolle spielen die „capabilities“, die Ressourcen, über die Staaten verfügen, allen voran die materiellen (Mearsheimer 2001: 30). Die Annahmen des Neorealismus über das internationale System sind: Das System ist ein anarchisches, es gibt keine übergeordnete Instanz. Daraus folgt, dass Staaten sich ihrer Position im internationalen Gefüge und der Absichten anderer Staaten nie sicher sein können und so immer danach streben, ihre Macht zu maximieren. Das primäre Ziel ist, in diesem System zu überleben und ein Hegemon zu werden, der über die meisten Machtmittel verfügt.
Dabei spielt das „Sicherheitsdilemma“ eine zentrale Rolle: Weil mehr Sicherheit für einen Staat mit mehr Unsicherheit für einen anderen einhergeht, sind alle Staaten daran interessiert, ihre Sicherheit und Machtmittel ständig zu erhöhen. So kommt es zu einer Spirale der Aufrüstung. Die militärische Macht ist die wichtigste Ressource, was bedeutet, dass auch andere Faktoren wie geopolitische Lage, Bevölkerung, Wirtschaft, Bildung/Technologie etc. eine wichtige Rolle spielen, da sie alle die militärische Macht bedingen.
Mit diesem Fokus auf materiellen Ressourcen verschleiern realistische Theorien, was innerhalb eines Staates passiert. Der Neorealismus begnügt sich mit einer Betrachtung des Verhaltens und der Merkmale von Staaten im internationalen Raum, das Innenpolitische wird ausgeblendet. Staaten werden somit im Neorealismus weitgehend zu einer „black box“.
Deshalb macht es Sinn, eine machttheoretische Betrachtung mit einer „weicheren“, immateriellen Beobachtung zu ergänzen, die die „black box“ aufbricht und Vorgänge innerhalb der Staaten mit in den Fokus nimmt. In dieser Analyse geschieht das mit der Machtkonzeption Hannah Arendts.
Arendt wendet sich gegen die Definitionen von Macht, die Macht mit Gewalt gleichsetzen (Arendt 1993: 36). Bei ihrer Konzeption ist Macht eine Fähigkeit, insbesondere dazu, sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen zu handeln. Macht ist kein Einzelphänomen, sondern tritt immer nur in Gruppen auf. Sobald die Gruppe zusammenbricht, bricht auch die Macht der Gruppe zusammen (Arendt 1993: 45). Übertragt man diese Annahme auf Staaten, stützt sich die Macht einer Regierung auf die Unterstützung des Volks - dieser Punkt wird später noch erläutert.
Macht und Gewalt sind nach Arendt Gegensätze und können in ihrer extremsten Form nicht gleichzeitig existieren. Wenn die Gewalt in einer Machtbeziehung zunimmt, schwindet die Macht. Zwar spielt Gewalt auch in Machtbeziehungen eine Rolle, jedoch muss hinter der Gewalt immer Macht stehen, um zu wirken. Ähnlich wie Niklas Luhmann argumentiert Arendt, dass Macht ohne Gewalt wirken muss, auch wenn Gewalt möglicherweise im Hintergrund mitschwingt.
Am zentralsten ist bei Arendts Machtbegriff die öffentliche Meinung. Wenn die öffentliche Meinung umschwingt und damit die allgemeine Zustimmung zu einem System oder einer politischen Regierung schwindet, sind Revolutionen nicht unwahrscheinlich. Wenn es so weit kommt, helfen auch die größten Mengen materieller Machtmittel nicht mehr, der Staat zerbricht.
Die Sowjetunion - wirtschaftlich nicht leistungsfähig genug?
Es steht außer Frage, dass ein komplexer Vorgang wie der Fall der Sowjetunion nicht an wenigen, klaren Gründen festgemacht werden kann. Für viele Forscher stellt die schlechte wirtschaftliche Entwicklung ein zentrales Problem dar, das zum Ende der Sowjetunion geführt hat (Weede 2003). Gegen diese Annahme spricht, dass die SU selbst in ihren wirtschaftlich schwächsten Zeiten noch ein Wachstum von 2-3 Prozent vorweisen konnte (Ilkhamov 2002: 317). Dennoch steckt in der wirtschaftlichen Entwicklung offenbar ein wichtiger Grund für den russischen Niedergang.
Das sowjetische, zentralistische Wirtschaftssystem wurde zunehmend als ineffektiv wahrgenommen, insbesondere von den wirtschaftlichen Eliten des Landes (Marsh 2003: 261). Die Planwirtschaft hat den Bürgern kaum Anreize zur Produktivität geliefert, was die wirtschaftliche Entwicklung behinderte (Weede 2003: 346). Als es in den 1970er Jahren nötig wurde, Waren aus dem Ausland zu importieren, kamen russische Unternehmer in Kontakt mit westlichen Wirtschaftssystemen, was in der sowjetischen Wirtschaftselite den Wunsch nach Dezentralisierung und Liberalisierung weckte. Diese Elite hatte somit ein Interesse daran, dass das zentralistische System der SU reformiert wird, was ja auch geschah - allerdings ging den Eliten diese Reform nicht weit genug, sie befeuerte nur den Wunsch nach mehr ökonomischer Freiheit. Als man in der Sowjetunion begann, Kompetenzen von der zentralen Planungsstelle hin zu lokalen Firmenmanagern zu verlagern, fehlte auch die Überwachung, denn das zentrale Planungsbüro war gleichzeitig Informationszentrale (Solnick 1996: 224). Das führte dazu, dass die lokal ansässigen
Unternehmer begannen, Produktionsgüter in einen de-facto-Privatbesitz zu überführen, was die Hierarchie der Sowjetunion zunehmend untergrub.
Die Sowjetunion war kaum exportorientiert, Anfang der Neunziger lag die russische Exportrate bei 2,3 Prozent, in China bereits bei 13 Prozent (Weede 2003: 349). Diese geringe Möglichkeit des internationalen Handels schmerzte die Managerelite der SU. Da die russische Wirtschaftselite großen Einfluss auf die öffentliche Meinung im Land hatte, gelang es ihr, gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppen Druck auf die Regierenden auszuüben.
China hingegen hat wesentlich früher begonnen, Teile der Wirtschaft zu dezentralisieren und zu privatisieren, wenn auch vorsichtig. Während die Sowjetunion innerhalb weniger Jahre von zentralisierter Planwirtschaft zu liberalisierter Marktwirschaft hastete, hat China bereits in den 1970ern spezielle Wirtschaftszonen und die Basiselemente einer Marktwirtschaft eingeführt (Marsh 2003: 269). In China haben die wirtschaftlichen Reformen die Legitimität der KPCh gestärkt und sie nicht, wie bei der KPdSU, untergraben. Das liegt vor allem daran, dass die Chinesen von den Wirtschaftsreformen selbst profitieren und Privatbesitz anhäufen konnten. Chinesische Unternehmer hatten kein Interesse daran, die Hierarchie im Staat zu hinterfragen, da sie im vorhandenen System gut wirtschaften und Gewinne einfahren konnten (Solnick 1996: 231). Die chinesische Partei zieht einen Großteil ihrer Legitmität aus dem wirtschaftlichen Erfolg.
Aus Sicht des Neorealismus lässt sich sagen, dass beide Staaten materiell erfolgreich waren - allerdings geriet die SU zum Zeitpunkt der Reformen an ihre Grenzen. 1988 stellte der damalige Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, fest, dass die SU mehr als doppelt so viel für Militär ausgab als die USA (Wohlforth 1995: 114). Für Gorbatschow ließen sich diese massiven Militärausgaben nicht mit den geplanten Reformen vereinbaren. Das führte schließlich zum Abzug der SU aus Afghanistan, was finanzielle Mittel für andere Bereiche übrig ließ, aber auch zum Machtverlust der Sowjetunion beitrug (Marsh 2003: 267). So lässt sich aus neorealistischer Sicht argumentieren, dass die zu schwache sowjetische Wirtschaft den Machtverlust der SU mitbedingte.
Chinas Wirtschaft hingegen ist ein Traum für Realisten: Stetig wachsende Wirtschaft, deren Produkte auch in Militärressourcen umgewandelt werden: So stiegen die Militärausgaben Chinas im Jahr 2011 um 12,7 Prozent (Spiegel Online 2011). Das allein kann jedoch keine Erklärung dafür sein, dass das chinesische System noch heute Bestand hat - dafür ist eine Innenperspektive nötig.
Hannah Arendts Machtkonzept legt in diesem Kontext nahe, dass in der Sowjetunion vor und auch während der wirtschaftlichen Reformen die Unterstützung der Bevölkerung für das wirtschaftliche System einbrach. Die Reformen kamen zu spät und gingen der wirtschaftlichen Elite nicht weit genug. Bürger konnten vom System kaum profitieren, Produktivitätssteigerung hat sich nicht gelohnt, die öffentliche Meinung kippte.
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