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Disziplin in der Erziehung oder Erziehung zur Disziplin

Ein Vergleich pädagogischer Konzepte Immanuel Kants und Amy Chua

©2011 Bachelorarbeit 47 Seiten

Zusammenfassung

Hinsichtlich der beiden AutorInnen, welche im Fokus dieser Arbeit stehen, stellt sich an dieser Stelle eine wichtige Frage: Inwieweit lassen sich diese beiden Persönlichkeiten, einerseits Kant und andererseits Chua, und ihr Gedankengut zusammenbringen?
Gerade dieser Aspekt wird Thema der vorliegenden Arbeit sein. Zu Beginn werde ich mich mit Kant und seiner verschriftlichten Vorlesung über die Erziehung aus dem Jahr 1803 befassen. Es wird versucht zu klären, welches Erziehungsziel bzw. ganzes Erziehungskonzept von ihm verfolgt wird und wie seine Vorstellungen von einer Umsetzung aussehen. An dieser Stelle sei, um Konfusion zu vermeiden, angemerkt, dass Kant in seiner Schrift die Begriffe Erziehung und Pädagogik synonym verwendet. Im Anschluss werden Chua sowie Inhaltliches zu ihrem Buch und ihre Erziehungsmethoden vorgestellt.
In einem direkten Vergleich werden daraufhin beide AutorInnen und ihre Konzepte gegenübergestellt.
Auf der einen Seite findet man Kant und die Vorstellung einer Erziehung hin zur Freiheit bzw. Moralität, auf der anderen Seite eine vieldiskutierte Erziehungsmethode, die fast nur aus Disziplin, Zwang und Drill besteht. Doch auch Kant fasst die Disziplin, wie wir später noch sehen werden, als wichtige Stufe in der Erziehung eines Kindes auf.
Doch wie viel Disziplin ist zu viel oder gar kontraproduktiv für eine Erziehung zur moralischen Autonomie? Inwieweit unterscheiden sich die beiden pädagogischen Konzepte voneinander bzw. findet das pädagogische Ziel der Mündigkeit im Erziehungsmodell Chuas überhaupt Raum?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Immanuel Kant und die Pädagogik
2.1 „hber die Erziehung“
2.1.1 Stufenlogik der Erziehung.
2.1.1.1 Disziplinierung
2.1.1.2 Kultivierung
2.1.1.3 Zivilisierung
2.1.1.4 Moralisierung
2.1.2 Widersprüche und Problematiken

3. Amy Chua - „Die Mutter des Erfolgs“
3.1 Die Autorin
3.2 Zusammenfassung der Handlung
3.3 Das Erziehungskonzept
3.4 Das Erziehungskonzept von Chua im Vergleich zu Kant
3.5 Widersprüche und Einflüsse

4. Schlussbetrachtung

5. Literaturverzeichnis

Alle vernünftigen Eltern

wollen das Beste für ihre Kinder -

die Chinesen haben nur völlig andere Vorstellungen

von dem Weg dorthin (Chua, 2011, S.73)

1.Einleitung

Der Begriff der Erziehung weist unbestritten einen Wandel im Laufe der Zeit auf. Was jedoch keiner Veränderung unterliegt, ist die Tatsache, dass diese Thematik sowohl damals als auch aktuell einen öffentlichen Diskurs erzeugt.

Unzählige PhilosophInnen, ErzieherInnen und PolitikerInnen der vergangenen Jahrhunderte zerbrachen sich die Köpfe über die bestmögliche Erziehung, ihre Umsetzung und ihre Folgen. Spätestens seit J.J. Rousseau und I. Kant und der Entdeckung der Kindheit1 als eigenständige Lebensphase orientierte sich die gesellschaftliche Vorstellung von einem Begriff der Erziehung immer mehr an den aufklärerischen Idealen ihrer Zeit.

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, eine Zeit, die nicht nur die Kritik am Wahrheitsanspruch der Religionen und an herrschenden Machtverhältnissen hervorbrachte, sondern den Anspruch erhob, die Menschen aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“2 zu befreien, legte eine Grundlage für die „Idee der steten Vervollkommnung und Verwirklichung eines freiheitlich“ menschenwürdigen und glücklichen „Dasein in einer neuen Gesellschaft, die von einem unaufhörlichen Fortschrittsoptimismus begleitet war“3 und somit auch eine wichtige Grundlage für den heutigen Erziehungsgedanken. Die Aufklärung „forderte eine Hinwendung zu naturgemäßer Pädagogik, die von Vernunft und sittlicher Lebensweise gekennzeichnet war“4. Im Sinne Kants ist die Selbstaufklärung und damit die (moralische) Emanzipation eine Aufgabe der Erziehung.

Genau mit diesem bedeutsamen Vertreter der Aufklärung und Theoretiker der Pädagogik, Immanuel Kant (1724 - 1804), beschäftigt sich ein wesentlicher Teil der folgenden Arbeit. Die zu Beginn erwähnte Aktualität bezüglich der Erziehung wird den zweiten thematischen Schwerpunkt kennzeichnen.

Der Bestseller von Amy Chua „Die Mutter des Erfolgs - wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“, welcher unter dem englischen Titel „Battle Hymn of the Tiger Mother“ in den USA 2011 erstmalig veröffentlicht wurde, erregte sofort großes Aufsehen. Es handelt sich hierbei um eine Mutter mit chinesischem Migrationshintergrund, welche ihre Methoden zur Erziehung ihrer beiden Töchter beschreibt. Es ist eine Erziehung, die Drill, Zwang und Disziplin als höchstes Mittel vorsieht.

Auch heute noch ist die Kultur und somit auch die Erziehung in China durch den bekannten Philosophen Konfuzius5 und seine Lehre geprägt6. Bereits der erste Satz der konfuzianischen Lehre, dem „Lunyu“, verdeutlicht einen pädagogischen Grundsatz: „Ist Lernen und das Gelernte immer wieder zu wiederholen nicht wunderbar!?“7. Und tatsächlich war zur damaligen Zeit im kaiserlichen China ein Aufstieg in der Gesellschaft nur infolge von Lern- und Prüfungserfolgen zu erreichen. Es herrscht eine Mentalität des lebenslangen Lernens vor, nicht zuletzt, da die Vorstellung dominiert, eine Verweigerung dessen führe zu einem Verlust des angeborenen Guten im Menschen.

„Die Tradition der Unaufhörlichkeit des Lernens und Erziehens ist als solche bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. Weltweit gibt es kaum eine Gesellschaft, die erzieherischer angelegt wäre als die metakonfuzianische. Der pädagogische Zeigefinger ist gleichsam ihr Symbol. Nach ihren Prämissen ist der Mensch nicht nur erziehbar, sondern […] auch perfektionierbar.“8

Der Anspruch von zunehmender Perfektion, vor allem im pädagogischen Kontext des Lernens, erfordert nicht nur Fleiß und Disziplin, sondern auch strikten Gehorsam der zu Erziehenden. AutorInnen wie beispielsweise Dr. Chen formulieren etwas zugespitzt den praktischen Einfluss der konfuzianischen Lehre:

„In der Praxis setzte sich eine extreme Variante des Gehorsams durch: Kinder geben keine Widerrede, sie denken sie nicht einmal. Kritische Auseinandersetzungen mit den Aussagen von Lehrern und Eltern sind nicht erwünscht […] Pädagogik, die Anpassung belohnt und kritische Geister abstraft.“9

Hinsichtlich der beiden AutorInnen, welche im Fokus dieser Arbeit stehen, stellt sich an dieser Stelle eine wichtige Frage: Inwieweit lassen sich diese beiden Persönlichkeiten, einerseits Kant und andererseits Chua, und ihr Gedankengut zusammenbringen?

Gerade dieser Aspekt wird Thema der vorliegenden Arbeit sein. Zu Beginn werde ich mich mit Kant und seiner verschriftlichten Vorlesung über die Erziehung aus dem Jahr 180310 befassen. Es wird versucht zu klären, welches Erziehungsziel bzw. ganzes Erziehungskonzept von ihm verfolgt wird und wie seine Vorstellungen von einer Umsetzung aussehen. An dieser Stelle sei, um Konfusion zu vermeiden, angemerkt, dass Kant in seiner Schrift die Begriffe Erziehung und Pädagogik synonym verwendet. Im Anschluss werden Chua sowie Inhaltliches zu ihrem Buch und ihre Erziehungsmethoden vorgestellt.

In einem direkten Vergleich werden daraufhin beide AutorInnen und ihre Konzepte gegenübergestellt.

Auf der einen Seite findet man Kant und die Vorstellung einer Erziehung hin zur Freiheit bzw. Moralität, auf der anderen Seite eine vieldiskutierte Erziehungsmethode, die fast nur aus Disziplin, Zwang und Drill besteht. Doch auch Kant fasst die Disziplin, wie wir später noch sehen werden, als wichtige Stufe in der Erziehung eines Kindes auf.

Doch wie viel Disziplin ist zu viel oder gar kontraproduktiv für eine Erziehung zur moralischen Autonomie? Inwieweit unterscheiden sich die beiden pädagogischen Konzepte voneinander bzw. findet das pädagogische Ziel der Mündigkeit im Erziehungsmodell Chuas überhaupt Raum?

Die unzähligen Schlagzeilen und Medienberichte erweckten meine Neugier; nicht zuletzt deshalb, weil plötzlich Erziehung ganz anders ins Zentrum der öffentlichen Diskussion rückte. Eine Thematik, die nicht nur in meinem eigenen Studium eine wichtige Rolle spielt, sondern auch genug Anlass für Debatten jeglicher Art bietet. Auf der einen Hand ist immer öfter die Rede von verweichlichten Erziehungsmethoden, die den Kindern jeglichen Respekt vor LehrerInnen als auch Eltern rauben. Doch auf der anderen Hand gehört das Ideal einer autoritären Erziehung in unserer Gesellschaft längst der Vergangenheit an.

Das Buch Chuas ist keineswegs eine wissenschaftliche Lektüre, und doch möchte ich - oder gerade deswegen - eine Brücke zwischen Aktualität und einem Klassiker in der Pädagogik schlagen. Das Erziehungsmodell von Kant erscheint mir in diesem Zusammenhang sehr passend, da zwar beide AutorInnen die Disziplin als etwas Wichtiges in der Entwicklung eines Kindes anerkennen, jedoch unklar bleibt, inwieweit, und ob überhaupt, sich die gemeinsamen Vorstellungen hinsichtlich Kindeserziehung im Laufe der Analyse voneinander entfernen.

Bezüglich der Auseinandersetzung mit Kant ist an dieser Stelle anzuführen, dass diese Arbeit sich auf die Abhandlung über die Pädagogik beschränkt. Eine ausführlichere Darstellung seiner gesamten Moralphilosophie, welche beispielsweise die Kritik der reinen Vernunft, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft, miteinschließt, ist zwar von großer Bedeutung für das Verständnis seines Erziehungsmodells, jedoch aufgrund des einzuhaltenden Rahmens dieser Arbeit nicht möglich.

2. Kant und die Pädagogik

Wird zwar die Originalität der Schrift „hber die Erziehung“ teilweise angezweifelt11, sind die in dem Werk entwickelten Ideen zur Pädagogik jedoch unbestritten bereits in den früheren Werken Kants wiederzufinden. Der Gedanke, die Erziehung als die Entwicklung der Naturanlagen und Bildung der Persönlichkeit zu betrachten, ist durchaus keine neuartige Perspektive Kants, der erst durch die Abhandlung „hber die Erziehung“ auftaucht. Bereits innerhalb der ethischen Schriften, so beispielsweise in der „Tugendlehre“, einem Teil der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“12 und in der „Kritik der praktischen Vernunft“13, lassen sich Fragen bezüglich der Erziehung festhalten14. Kants Antwort auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen lautet Freiheit, und zwar als Ausdruck von moralischer Autonomie15. Im Zentrum der Vorstellung einer Erziehung zur Moralität steht nicht nur die Moral als Prinzip, sondern auch die Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung. Demzufolge weist die Moral „nicht nur pädagogischen Anspruch“, sondern „auch Konsequenzen“ für die Erziehung auf. „Daher lassen sich Erziehung und Pädagogik als unerlässliche Mittel zur Verwirklichung der Moral denken“16. Im Sinne Kants steht der Mensch unter zwei Kausalitäten, nämlich einerseits unter der der Natur und andererseits unter der Kausalität der Freiheit. Infolgedessen ist er „sowohl Erscheinung (Phänomen) als auch Ding an sich (Noumenon). Somit hat er einen empirisch-sinnlichen und zugleich einen übersinnlichen (intelligiblen) Charakter“17. Für den Menschen bedeutet dies, dass er zwar frei ist, was seine Entscheidungsfähigkeit anbelangt, allerdings unfrei hinsichtlich des empirisch-natürlichen Teils in ihm. Um beides nun in Einklang zu bringen, benötigt der Mensch Erziehung, denn die Erziehung, die zur Moralität führt, lässt den Menschen erst zum Menschen werden. Moralität und Vernunft, Begrifflichkeiten, die nicht durch die Natur bedingt und somit frei sind, müssen im Menschen entwickelt werden, um die vollkommene Freiheit zu erreichen. Von genau dieser Aufgabe, welche durch die Pädagogik bewältigt werden soll, handeln die folgenden Kapitel dieser Arbeit.

2.1 „Über die Erziehung“

Betrachtet man die Natur im Sinne Kants, so wird schnell klar: der Mensch ist das einzige Geschöpf, welches auf Erziehung angewiesen ist. Doch was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Für Kant impliziert die Erziehung sowohl die Wartung, mit welcher die Verpflegung bzw. Unterhaltung gemeint ist, die Zucht und Unterweisung, sowie die Bildung eines Menschen18. Zur Welt gelangt der Mensch in einem rohen Zustand, ohne Instinkte, wie es beispielsweise bei den Tieren der Fall ist. Dennoch gleicht der Mensch in gewisser Weise einem Tier und so ist das menschliche Geschöpf darauf angewiesen, durch Disziplin bzw. Zucht seine „tierischen Antriebe“19 zu überwinden und zum Gebrauch seiner eigenen Vernunft zu gelangen20. Aufgrund der „Rohigkeit“, die jeder einzelne zu Beginn seines Lebens aufweist, und somit dem noch nicht ausgebildeten Bewusstsein der Vernunft, braucht er/sie andere Menschen, die „den Plan seines Verhaltens“21 für ihn/sie machen.

Kant betrachtet die Menschen seiner Zeit primär als gesellschaftliche Wesen, welche sich in Distanz zur moralischen Autonomie befinden, da dieser Zustand noch nicht erfolgt ist. Der Mensch als abhängiges Wesen, welches die gesellschaftlichen Regeln ohne einen kritischen Blick akzeptiert, schadet zwar nicht dem Funktionieren einer Gesellschaft, ist allerdings auch nicht mit moralischer Freiheit ausgestattet; ihm fehlt die nötige Loslösung von der Gesellschaft. Von genau dieser Wandlung, von einem „bloßen Bürger, dem bloß funktionierenden Mitglied einer Gesellschaft, zum Menschen […] als freies, von jeder gesellschaftlichen Bevormundung […] befreites, und selbstbestimmtes Wesen“22 handelt seine pädagogische Vorstellung.

Jeder Mensch wird durch andere Menschen erzogen und so erzieht eine Generation die nächste. Deshalb ist die Erziehung nur so gut wie ihre ErzieherInnen23. Diese wiederum sind gesellschaftliche Akteure ihrer Zeit. Kant sieht die Lösung, anders als beispielsweise Rousseau, nicht jenseits der realen Gesellschaft, sondern inmitten dieser24. Aufgrund der Erziehung wird das Menschengeschlecht immer näher an einen glücklicheren und besseren Zustand seiner Selbst gelangen25. „[…] hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur“26. Infolge dessen handelt es sich bei der Erziehung um eine Aufgabe, die nicht (nur) von einzelnen Individuen zu erbringen ist, sondern die ganze Menschheit muss daran arbeiten, die eigene Gattung voranzubringen27. „Jede Generation, versehen mit den Kenntnissen der vorhergehenden, kann immer mehr eine Erziehung zu Stande bringen […] und so die ganze Menschengattung zu ihrer Bestimmung“28 führen. Erneut wird deutlich, dass das Ideal der Erziehung nicht von heute auf morgen zu verwirklich ist; denn es ist die Idee der sittlichen Vollkommenheit, welche nicht verworfen und als herrliche Fantasie abgetan werden sollte, nur weil Hürden diesen Weg markieren29. Kant ist der Auffassung, dass die Erziehung bis zum 18. Jahrhundert nur in Ansätzen stattgefunden hat und nun bereit ist in eine „richtige Form“ gebracht zu werden. Bis dahin sind die Menschen hauptsächlich als gesellschaftliche Wesen zu begreifen, welche zwar ihre natürlichen Neigungen im Zaum halten können, ihre kulturellen Fähigkeiten ausgebildet und eine allgemein akzeptierte gesellschaftliche Wertvorstellung erlangt haben, allerdings beim „moralischen Sein“ noch nicht angekommen sind. Eben dies sollte das „Anliegen […] der aufgeklärtesten Geister der Epoche sein.“30

Damit allerdings die Erziehung besser werden kann, indem nicht schlecht erzogene Menschen ihre Kinder ebenso schlecht erziehen, muss die Pädagogik zu einer Wissenschaft, zu einem Studium werden31. Aufgrund eines Studiums würde die Erziehungswissenschaft die Möglichkeit zur (selbst)kritischen Denkungsweise und Reflexion gewinnen. Es ist nicht verwunderlich, dass eine gute Erziehung nach Kant im kritischen Denken verwurzelt ist, zumal das Bewusstsein und die Erziehung in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen, da jeweils eines von dem anderen abhängt und umgekehrt32. Um aber überhaupt die eben genannte Arbeit leisten zu können und den nötigen Willen aufzuweisen, zu seiner Bestimmung zu gelangen, muss der Mensch sich vorerst einen Begriff von seiner Bestimmung machen.

Die Natur hat den Menschen so ausgestattet, dass dieser Anlagen zum Guten in sich trägt. Da es sich hierbei nur um Anlagen handelt, also nicht etwas bereits fertig Geformtes in ihm vorliegt, gilt es, diese Naturanlagen des Menschen erst zu entwickeln33. Nicht zuletzt aufgrund dieser Entwicklungsaufgabe, die sich nicht einfach von selbst vollzieht, da die Natur hierfür dem Menschen keinen Instinkt gegeben hat, bezeichnet Kant die Erziehung als eine Kunst34. Ein wichtiger Teil dieser Kunst liegt für Kant nicht nur in einer Erziehung, angepasst an die aktuelle Welt und ihren Zustand, sondern vielmehr in einer Erziehung, die ausgerichtet ist auf die Zukunft und deren Besserung35.

Denn der Mensch kann nach Kant nur „Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“36

2.1.1 Stufenlogik der Erziehung

Kant präsentiert in seiner Abhandlung über die Erziehung eine Stufenlogik bestehend aus vier aufeinander folgenden und aufbauenden Entwicklungsetappen. Diese setzen sich aus der Disziplinierung, der Kultivierung, der Zivilisierung und der Moralisierung zusammen. Das Modell kann man, in Anlehnung an Schäfer, als Stufen in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, also zugleich auch geschichtsphilosophisch verstehen37.

Da der Mensch zu Beginn allerdings gekennzeichnet ist von Hilfsbedürftigkeit, ist die Vorstufe der Erziehung die Wartung. Zudem signalisiert die Bedürftigkeit an dieser Stelle das Angewiesensein des Menschen auf das Lernen bzw. Lernprozesse. Im Zentrum der Vorstufe liegt die Verpflegung, Betreuung und die Abwehr von äußerlichen Gefahren durch die Eltern. Kant verpflichtet die Eltern dazu, sich nicht nur um das Materielle, sondern auch um das geistige Sein des Kindes bzw. Neugeborenen zu kümmern38.

2.1.1.1 Disziplinierung

Während der ersten Stufe, der Disziplinierung, versucht der Erzieher/die Erzieherin das Kind vor Schäden, bedingt durch das Tierische in ihm, zu bewahren. „Disziplinieren heißt suchen zu verhüten, daß die Tierheit nicht der Menschheit, in dem einzelnen sowohl, als gesellschaftlichen Menschen, zum Schaden gereiche. Disziplin ist also bloß Bezähmung der Wildheit“39. Es geht hierbei also um das bloße Abwenden von Fehlern, wodurch sich diese Stufe als negativer Teil der physischen Erziehung auszeichnet. Das zu erziehende Wesen muss an dieser Stelle die „Unterwürfigkeit und einen passiven Gehorsam beweisen“40. Die Disziplin soll den Menschen davor behüten von seiner eigentlichen Bestimmung, nämlich der der Menschheit, abzukommen. Für das Gelingen sind sowohl Einschränkungen als auch Unterwürfigkeit unabdingbar. Die eben genannte Unterwürfigkeit soll hinsichtlich den „Gesetzen der Menschheit“41 bereits im frühen Alter erfolgen. Früh die Zwänge der Gesetze zu spüren, ist von großer Bedeutung, da der Mensch „von Natur“ aus „einen so großen Hang zur Freiheit“ hat, „daß, wenn er erst eine Zeitlang an sie gewöhnt ist […] ihr alles aufopfert“42. Versucht man erst zu einer späteren Zeit dem Menschen die Wildheit mithilfe von Disziplin und gezieltem Widerstand zu nehmen, wird dies laut Kant nur bedingt gelingen. In solch einem Falle bleibt der Mensch teilweise sein ganzes Leben lang roh. „Daher muß der Mensch frühe gewöhnt werden, sich den Vorschriften der Vernunft zu unterwerfen.“43 Demzufolge sollte sich diese Erziehungsstufe nicht erst zur Schulzeit, sondern bereits in familiärer Umgebung vollziehen. Auf die Problematik des Zusammenhangs zwischen der Freiheit und dem Zwang, der sich hier bereits andeutet, wird später näher eingegangen.

Die Disziplin ist stets nur Mittel und niemals Zweck der Erziehung44. Da Disziplin nicht mit Dressur gleichzusetzen ist, darf sie unter keinen Umständen „sklavisch“ sein. Das Kind sollte „immer seine Freiheit fühlen, doch so, daß es nicht die Freiheit anderer hindere, es muß daher Widerstand finden“45. Folglich ist es von großer Bedeutung, dass Eltern stets eine vernünftige Disziplin für die Erziehung gebrauchen. Es dürfen keine Unterdrückung und kein Missbrauch stattfinden, welche anschließend durch Disziplin gerechtfertigt werden. Ist dies nicht der Fall, so wird sich das Kind „mit schlechten Gewohnheiten und abhängig entwickeln“46, anstatt „immer mehr zu einer autonomen und verantwortlichen Persönlichkeit“47 zu werden. Das Ziel nach Kant ist es keineswegs, ein Kind zu unkritischem Gehorsam zu erziehen, sondern seine Potentiale auf Freiheit und Selbstsicherheit hin zu lenken; die Disziplin soll dem Kind nämlich ebenso dazu verhelfen, denken zu lernen. Dennoch existieren für Kant auf der Stufe der Disziplinierung sowohl physische als auch psychische Strafen. Diese spielen hierbei zwar eine Rolle, sind sie jedoch nicht das wichtigste Mittel bzw. auch nur mit Vorsicht zu verrichten. Denn würde man das Kind stets bestrafen, wenn es Schlechtes tut und belohnen, wenn es Gutes tut, so würde aus dem Kind ein egoistisches Wesen werden, welches nur so handle, dass seine Handlung ihm einen Vorteil verschafft48. Und obgleich diese Stufe zur physischen Erziehung gehört, betont auch der Autor R. Santos, dass bereits auf dieser Stufe sich das Gemüt bildet, welches einen wichtigen Teil unseres Charakters darstellt. Lässt man sich den Zeitpunkt zur Disziplinierung entgleiten, so wäre dies für die Erziehung fataler, als jemanden nicht zu kultivieren, denn laut Kant kann die Kultivierung, die nächste Stufe der Erziehung, auch noch nachträglich erfolgen49.

2.1.1.2 Kultivierung

Die Kultivierung beinhaltet ihrerseits sowohl Belehrung und Unterweisung als auch Geschicklichkeit. Sie ist der positive Teil der physischen Erziehung, da es sich dabei um gezielte Anführung des Kindes handelt. Unter der Geschicklichkeit, welche zur Kultur gehört, verbergen sich vielumfassende und bedeutungsvolle Fähigkeiten50. Kultivierung meint hierbei zum einen die Schulung von Sinnen, und zum anderen die Schulung des Geistes in technischer Hinsicht. Zu guten Fähigkeiten zählt Kant beispielsweise das Lesen und Schreiben. Aber auch Fähigkeiten wie die Aufmerksamkeit und das Gedächtnisvermögen zählen zur Stufe der Kultivierung, welche ausgebildet „zu den unterschiedlichsten sozialen Zwecken eingesetzt werden“51 können. Das Gedächtnis wird beispielsweise durch das Merken von Namen und Erlernen von anderen Sprachen trainiert52. Auch ist es sinnvoll, Kinder solche Spiele spielen zu lassen, die ihren Sinn für Akustik und Tastsinn ausprägen. Die jeweiligen Kräfte sollten allerdings nicht nur einzeln für sich, sondern immer in Hinblick aufeinander kultiviert werden53.

Es handelt sich bei dieser Stufe um „einen durch verschiedene komplexe pädagogische Vorgehensweisen bestimmten Prozess von Entwicklung des Kindes, der das Reifen und das Verbessern der Fähigkeiten und Fertigkeiten des Zöglings fördert“54.

Die Kultivierung meint das Lernen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Infolgedessen soll der Erzieher oder die Erzieherin die Anleitung des Kindes langsam aufgeben, um künftige Selbstbestimmung in Gedanken und Taten des Kindes zu erreichen. Mithilfe der Kultur soll der zu Erziehende nicht nur auf die Zivilisierung vorbereitet werden, sondern auch geistige und körperliche „Faulheit und Feigheit“55 ablegen, denn dies sind die Gründe für die Unmündigkeit der Menschen.

Ein weiterer Aspekt, welcher der Bekämpfung der körperlichen Faulheit dient, ist nach Kant die Arbeit. Es ist sehr wichtig, dass Kinder arbeiten lernen. Dies sollte der Mensch aus einer bestimmten Absicht tun, und diese wiederum sollte ihn motivieren diese zu verrichten56. Für eine positive Entwicklung hinsichtlich der geistigen Arbeit sieht Kant auch einen geeigneten Ort vor: „[…] wo anders soll die Neigung zur Arbeit kultiviert werden, als in der Schule?“57

[...]


1 Vgl. Burkard; Weiß, 2008, S.65

2 Benner; Oelkers, 2004, S.691

3 Lausberg, 2009, S.10

4 ebd. S.13

5 551- 479 v. Chr.

6 Vgl. Paul, 2010, S.10

7 Weggel, 2002, S.44

8 Weggel, 2002, S.45

9 Chen, 2003, S.71f.

10 Die Originalausgabe ist aus dem Jahr 1803. In dieser Arbeit wird eine Fassung des Werks benutzt, welche 1997 durch den dtv herausgegeben wurde

11 Es wird teilweise davon ausgegangen, dass das Werk nicht von Kant selbst, sondern von F.T. Rink anhand Kants Vorlesung zur Pädagogik niedergeschrieben wurde. Vgl. Aulke, 2000, S.140

12 Aus dem Jahr 1785

13 Aus dem Jahr 1788

14 Vgl. Santos, 2007, S.19

15 Vgl. ebd. S.20

16 ebd. S.19

17 ebd. S.20

18 Vgl. Kant, 1997, S.3

19 ebd. S.5

20 Vgl. ebd. S.4

21 ebd. S.4

22 Schäfer, 2005, S.113f.

23 Kant spricht zu seiner Zeit lediglich von männlichen Erziehern, jedoch sind in dieser Arbeit stets beide Geschlechter gemeint

24 Vgl. Schäfer, 2005, S.111

25 vgl. Kant, 1997, S.10

26 ebd. S.9

27 Vgl. ebd. S.12 Kant; Vgl. auch Lausberg, 2009, S.119

28 Kant, 1997, S.13

29 Vgl. Böhm, 2007, S.78

30 Schäfer, 2005, S.111

31 Vgl. Kant, 1997, S.16

32 Vgl. Santos, 2007, S.186ff.

33 Vgl. Kant, 1997, S.13f.

34 Vgl. ebd. S.15

35 Vgl. Kant, 1997, S.16f.; Vgl. auch Lausberg, 2009, S.64

36 Kant, 1997, S.8

37 Vgl. S.111 Schäfer

38 Vgl. Santos, 2007, S.200f.

39 Kant, 1997, S.20

40 ebd. S.26

41 ebd. S.6

42 ebd. S.5

43 Kant, 1997, S.6

44 Vgl. Santos, 2007, S.202

45 Kant, 1997, S.50

46 Santos, 2007, S.204

47 ebd. S.204

48 Vgl. Kant, 1997, S.83

49 Vgl. ebd. S.9

50 Vgl. Kant, 1997, S.21

51 Schäfer, 2005, S.96

52 Vgl. Kant, 1997, S.70

53 Vgl. ebd. S.66

54 Santos, 2007, S.209f

55 ebd. S.215

56 Vgl. Kant, 1997, S.64

57 ebd. S.65

Details

Seiten
Jahr
2011
ISBN (eBook)
9783656140221
ISBN (Paperback)
9783656140276
DOI
10.3239/9783656140221
Dateigröße
761 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Darmstadt – Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik
Erscheinungsdatum
2012 (Februar)
Note
1,0
Schlagworte
Kant Pädagogik Mündigkeit Erziehung Disziplin Chua
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Titel: Disziplin in der Erziehung oder Erziehung zur Disziplin