Die Anwendung der dokumentarischen Methode am Beispiel der Erforschung individueller Lernorientierungen?
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Teil
2.1 Das narrative Interview
2.2 Die dokumentarische Methode der Interpretation
2.2.1 Formulierende Interpretation
2.2.2 Reflektierende Interpretation
2.2.3 Komparative Analyse und Typenbildung
2.3 Begriffseingrenzung Lernorientierung
3. Anwendung der Methode am Beispiel eines selbstständigen Autoteileverkäufers
3.1 Der Übergang von der Schule in den Beruf
3.2 Learning by doing und Mittel der Fehlervermeidung
3.4 Blick nach links und rechts bei der Suche nach Artikeln
3.5 Vergleich der Wissensaneignung zwischen Schule und Beruf
4. Schluss
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Forderung des amerikanischen Ökonoms Peter Drucker nach der „Transformation relevanten Wissens in angemessene Handlungen“(Drucker, zit. n. Cross, 2006) ist sinnbildlich für den Anspruch, der heutzutage an die Menschen gestellt wird. Mit dem Übergang von der Industriegesellschaft zu einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft gehen neue Anforderungen an die Qualifikationen von Menschen einher. Das angeeignete Wissen muss ständig erweitert bzw. an neue Rahmenbedingungen angepasst werden, um mit der dynamischen Weiter- und Neuentwicklung von Technik und Dienstleistungen Schritt zu halten. Dabei bedienen sich die Menschen unterschiedlicher Wege, wie sie an Wissen gelangen. Die individuellen Zugänge, welche Menschen in Bezug auf das Lernen wählen und die Orientierungen, welche damit in einem Zusammenhang stehen, sind davon differenzierter zu betrachten Das Interesse an der Wissensaneignung bzw. dem Kompetenzerwerb schlägt sich somit in einem zunehmenden Forschungsinteresse an Lernformen und -prozessen nieder. Einen Ansatz bietet dazu die qualitative Schiene der empirischen Sozialforschung, die aufgrund ihres explorativen Vorgehens immer häufiger Anwendung findet (vgl. Nohl 2009, S. 7). Eine Möglichkeit der Erhebung ist das narrative biografische Interview, woran sich die dokumentarische Methode der Auswertung bzw. Interpretation anschließen lässt. Die dokumentarische Methode kann dabei helfen praktische Erfahrungen von Menschen zu rekonstruieren und somit Erkenntnisse über ihre Handlungsorientierungen zu sammeln (vgl. ebd.). Mit der dokumentarischen Methode wird das Ziel verfolgt, einen Zusammenhang zwischen den gemachten Erfahrungen und Orientierungen von Individuen herzustellen.
In dieser Hausarbeit soll die dokumentarische Methode zur Auswertung und Interpretation eines narrativen Interviews Anwendung finden. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob und wenn ja welcher Lernform bzw. welchem Lernmodus sich der Interviewte aufgrund seiner Handlungsorientierungen bedient. In einem theoretischen Teil werden das narrative Interview, die dokumentarische Methode und der Begrif der Lernorientierung abgehandelt. Danach wird die dokumentarische Methode an dem Transkript eines selbstdurchgeführten narrativen Interviews mit einem selbstständigen Autoteileverkäufer eingesetzt. Abschließend sollen die Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefasst und einer Bewertung unterzogen werden. Dabei wird geprüft, ob die eingangs formulierte These bestätigt wurde.
2. Theoretischer Teil
2.1 Das narrative Interview
Das narrative Interview wurde Ende der 1970er Jahre von dem Soziologen Fritz Schütze auf der Grundlage von Einflüssen der soziologischen Gebiete der Phänomenologie, des Symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie oder der Grounded Theory entwickelt. Diese Ansätze haben gemein, dass soziale Wirklichkeit nicht als außerhalb des Handelns der Akteure existierend, sondern jeweils im Rahmen kommunikativer Interaktionen stattfindend wahrgenommen wird. Die soziale Wirklichkeit wird dabei als Prozess verstanden, der dynamisch in jeder Interaktionssituation neu aktualisiert und ausgehandelt wird. Möchte man die soziale Wirklichkeit untersuchen, so müssen die Interaktionen auf der kommunikativen Basis sinnverstehend analysiert werden. Die sich daraus ergebende Frage will folglich den Zusammenhang zwischen den Äußerungen eines Befragten und den tatsächlichen Handlungen ergründen. (Vgl. Küsters 2009, S. 18) Mit der Erfassung subjektiver Sichtweisen, der Erforschung der interaktiven Herstellung sozialer Wirklichkeiten und der Identifikation der kulturellen Rahmungen sozialer Wirklichkeiten sollen mit dem narrativen Interview die drei Hauptziele qualitativer Sozialforschung abgedeckt werden (vgl. Flick 1996, S. 28 ff.; Küsters 2009, S. 19). Die Hauptintension ist dabei Lebenswelten von „innen heraus zu beschreiben […] also die […] soziale Wirklichkeit in der Perspektive der Individuen zu rekonstruieren.“ (Küsters 2009, S. 19).
Das narrative Interview als Form des offenen Interviews und somit Element der rekonstruktiven Sozialforschung soll einen Zugang zu den Erfahrungen und Erlebnissen der Individuen verschaffen, die konstitutiv für deren Alltagswirklichkeit sind (vgl. Nagel 2001, S. 111; Buchmann 2009, S. 136). Offene Interviewformen lassen sich in ihrer Differenziertheit nicht immer eindeutig trennen, jedoch haben sie alle die Gemeinsamkeit, dass sie „keinerlei Vorgaben für die Antworten der befragten Person machen“ und sich dadurch von den „standardisierten Interviews der Hypothesen überprüfenden, statistisch orientierten Sozialforschung“ (Nohl 2009, S. 19) unterscheiden. Das Interesse liegt insbesondere auf Erlebnissen „mit sozialwissenschaftlich interessierenden lebensgeschichtlichen, alltäglichen, situativen und/oder kollektiv-historischen Ereignisabläufen“ (Glinka 1998, S. 9), in die eine Person persönlich verwickelt war. Dabei wird die Annahme zugrunde gelegt, dass die Individuen ihre Erlebnisse in Form von Geschichten und Erzählungen nachvollziehbar wiedergeben können.
Implizite Elemente wie Grundannahmen, Werte, Alltagstheorien, Denkmuster und Verhaltensnormen sollen zum Ausdruck kommen. Die interviewte erzählende Person gibt ihre Lebensgeschichte so wieder, wie sie von ihr erlebt wurde und wie sie somit für die Person auch handlungsrelevant ist. (Vgl. Buchmann 2009, S. 136) Dies soll in Form einer Stehgreiferzählung geschehen. Diese setzt voraus, dass der Interviewpartner vor dem Interview „keine systematische Vorbereitung auf die beabsichtigte Erzählthematik vornehmen“ und „seine Formulierungen weder kalkulieren noch schriftlich abfassen und sie dann für die Präsentation einüben“ konnte (Glinka 1998, S. 9).
Das narrative Interview zählt zwar zu den offenen Interviewformen, jedoch kann man auch hier eine Strukturierung festmachen. Strukturgebend ist die Interaktion zwischen Forschendem und Erforschtem. Grundsätzlich kann der Ablauf des narrativen Interviews in drei Phasen unterteilt werden. In der Wissenschaft gibt es verschiedene Bezeichnung für die einzelnen Phasen. Glinka nennt sie Aushandlungsphase, Haupterzählung und Nachfrageteil (vgl. Glinka 1998, S. 10 ff.). Bei Nohl folgen auf die Eingangserzählung ein narrativer Nachfrageteil und ein argumentativ-beschreibender Frageteil (vgl. Nohl 2009, S. 24 ff.). Dieser Einteilung folgend wird das Interview durch eine „autobiographisch orientierte Erzählaufforderung“ (Schütze 1983, S. 285 zit. n. Nohl 2009, S. 24) eingeleitet. Dabei können sowohl die gesamte Biografie als auch bestimmte Lebensabschnitte, wie beispielsweise die Schulzeit, spezifische Aspekte, wie innerfamiliale Beziehungen oder Kombinationen, wie die Berufsbiografie thematisiert werden. Die sich daran anschließende „autobiographische Anfangserzählung“ (ebd.) sollte daraufhin nicht mehr durch den Interviewer unterbrochen werden, sofern dieser ihr folgen kann und die Lebensgeschichte des Interviewten auch den Erzählgegenstand darstellt.
Im zweiten Abschnitt, dem narrativen Nachfrageteil sollen bereits angesprochene Themen nachgefragt und vertieft werden. Der Interviewer soll hier „das tangentielle Erzählpotenzial“ ausschöpfen, welches „in der Anfangserzählung an Stellen der Abschneidung weiterer, thematisch querliegender Erzählfäden, an Stellen der Raffung des Erzählduktus wegen vermeintlicher Unwichtigkeit, an Stellen mangelnder Plausibilisierung und abstrahierender Vagheit, weil die zu berichtenden Gegenstände für den Erzähler schmerzhaft, stigmatisierend oder legitimationsproblematisch sind, sowie an Stellen der für den Informanten selbst bestehenden Undurchsichtigkeit des Ereignisgangs“ (ebd.) angedeutet sein kann. Bei den Nachfragen sollte berücksichtigt werden, dass die Immanenz dadurch betont wird, indem der Interviewer die Passage, auf die er sich bezieht aus der Erinnerung heraus rezitiert und den Interviewten an dieser Stelle weitererzählen lässt.
Im abschließenden argumentativ-beschreibenden Frageteil soll dafür gesorgt werden, dass „detailierte Beschreibungen von für die Biographie wichtigen Orten, sich wiederholenden Handlungsabläufen (etwa auf der Arbeit) und Zuständen zu erhalten.“ (Nohl 2009, S. 26) Außerdem soll der Interviewte am Ende des Interviews „nach den Gründen und Motiven für sein Handeln gefragt“ (ebd.) werden.
Nach Beendigung des Interviews bedarf es für die weitere Forschung einer Transkription der Tonbandaufnahme nach bestimmten Transkriptionsregeln, woraufhin sich die Auswertung gemäß verschiedener Methoden anschließt. Als eine Möglichkeit der Auswertung soll im folgenden Abschnitt die dokumentarische Methode vorgestellt werden.
2.2 Die dokumentarische Methode der Interpretation
Ehe eine Begriffsannäherung an den Terminus Lernorientierung versucht wird und die dokumentarische Methode an einem ausgewählten Beispiel angewendet wird, soll diese Auswertemethode der rekonstruktiven Sozialforschung vorgestellt werden. Dabei stehen die formulierende sowie die reflektierende Interpretation unter Vernachlässigung der Typenbildung und der komparativen Analyse im Mittelpunkt der Betrachtung.
Mit Hilfe der dokumentarischen Methode soll der Zusammenhang von Orientierungen und Erfahrungen rekonstruiert werden, die in einem Interview artikuliert werden. Die dokumentarische Methode der Interpretation wurde von Ralf Bohnsack „zu einem forschungspraktisch und methodologisch fundierten Auswertungsverfahren der qualitativen Sozialforschung entwickelt“ (Nohl 2009, S. 7). Um die dokumentarische Methode genauer zu erfassen, soll unter Rückgriff auf Mannheim in dem immanenten Sinngehalt und dem Dokumentsinn zwischen verschiedenen Sinnebenen unterschieden werden. Bei Erfahrungsaussagen von interviewten Personen können diese auf ihren wörtlichen, expliziten Sinngehalt hin untersucht werden, was mit dem Adjektiv immanent beschrieben wird. Der immanente Sinngehalt ist wiederum in zwei Sinnebenen unterteilt. Der „intentionale Ausdruckssinn“ (Mannheim 1964 zit. n. Nohl 2009, S. 8) umschließt die Absichten und Motive des Interviewten und wird eher subjektiv aufgefasst. Bei dem „Objektsinn“ (ebd.) handelt es sich dagegen mehr um die allgemeine Bedeutung eines Textinhalts bzw. einer Handlung.
Der dokumentarische Sinngehalt einer Schilderung bildet die Struktur für die geschilderte Erfahrung und kann als die Rekonstruktion dieser Erfahrung, „als Dokument einer Orientierung“ (Nohl 2009, S. 7) verstanden werden. Nach Bohnsack deutet der Dokumentsinn auf die „Herstellungsweise, auf den modus operandi [im Original hervorgehoben]“ (Bohnsack 2007, S. 256 zit. n. Nohl 2009, S. 9) einer Schilderung hin.
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