"Weiber weiblich"? Frauenleben im Bismarck-Reich und Frauenrollen in ausgewählten Werken Fontanes
Zusammenfassung
Die fünf Frauen und zwei weitere Figuren aus Fontanes Oeuvre sind Thema dieser Arbeit. Sie alle sind sich ähnlich. Die einen teilen ihr Schicksal, die anderen haben ein gemeinsames Ende, wobei alle Nora Helmers Frage nachgehen: Wer hat Recht, sie oder die Gesellschaft?
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 „Ich muß mich davon überzeugen, wer recht hat, die Gesellschaft oder ich“ - Einleitung
2 Die Stellung der Frau im Bismarck-Reich
2.1 Rechtsstellung der Frau im Preußischen Allgemeinen Landrecht
2.2 ‚Weiber weiblich, Männer männlich‘ – Frauen in der Gesellschaft
3 Frauenbilder in Fontanes Werken
3.1 Fontanes Frauenbild
3.2 „[…] die Geschichte der Frauen ist meist viel interessanter“ - Einige Romanfiguren
3.2.1 L’Adultera - Melanie van der Straaten und Effi Briest
3.2.2 Kranke Schönheit - Cécile
3.2.3 Einfache Leben - Lene und Stine
3.2.4 „Nebenfiguren sind immer das Beste“ - Frau Dörr und Pauline Pittelkow
3.3 Zwei, drei oder mehr Frauentypen?
4 Fontane - Realist und Gesellschaftskritiker? Vergleich von Realität und Werken
5 Fazit
6 Literaturverzeichnis
1 „Ich muß mich davon überzeugen, wer recht hat, die Gesellschaft oder ich“ - Einleitung
Flaubert, Tolstoi, Ibsen - große Namen prägen die Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Eines haben die bedeutendsten Werke dieser drei Schriftsteller gemeinsam: Die Helden ihrer Werke sind Frauen. Sie alle - Madame Bovary, Anna Karenina und Nora Helmer - geraten in einen Konflikt mit der Gesellschaft, indem sie versuchen, sich aus einem äußerst beschränkten Lebenskreis und der patriarchalischen Vorherrschaft der Männer zu befreien. Sie alle leiden unter machthungrigen, emotionslosen Ehepartnern und begeben sich auf die Suche nach ihrem individuellen Glück. Nur Nora überlebt ihre unglückliche Ehe, befreit sich und ist in der Lage, die geltenden Moralvorstellungen und Konventionen in Frage zu stellen: „‚Ich muß mich davon überzeugen, wer recht hat, die Gesellschaft oder ich.‘“1
Auch Fontane schließt sich dieser Thematik an. Das bekannteste Beispiel ist Effi Briest: Durch eine Affäre versucht sie, aus ihrer unglücklichen Ehe mit dem deutlich älteren Geert von Innstetten auszubrechen. Als dieser davon erfährt, wird sie von Familie und Gesellschaft verstoßen und stirbt. Ein ähnliches Schicksal widerfährt auch Melanie van der Straaten, die sich die gleiche Frage wie Nora Helmer stellt und es schafft, sich über die gesellschaftlichen Grenzen hinwegzusetzen. Cécile, eine wunderschöne junge Frau, hat keinen Ehebruch begangen, sondern war in der Vergangenheit die Mätresse eines Fürsten. Wie Effi stirbt auch sie, da sie aufgrund der fragwürdigen Moralvorstellungen nicht in der Lage ist, ihre Geschichte hinter sich zu lassen. Lene und Stine, zwei Arbeiterinnen, müssen ebenfalls ihre Erfahrungen mit Konventionen und Gesellschaft machen: Zugunsten dieser geben sie ihre Liebe auf. Während sich Lene im gleichen Stand verheiratet, stirbt Stine ebenso wie viele ihrer Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen.
Die genannten fünf Frauen sowie zwei weitere weibliche Figuren aus Fontanes Oeuvre werden Thema dieser Arbeit sein. Sie alle sind sich in einer bestimmten Art und Weise ähnlich. Die einen teilen ihr Schicksal (Melanie und Effi; Lene und Stine), die anderen haben ein gemeinsames Ende (Effi, Cécile und Stine; Melanie und Lene), wobei alle Nora Helmers Frage nachgehen: Wer hat Recht, sie oder die Gesellschaft?
Warum ähneln sie sich so? Hat Fontane hier idealisierte Frauenbilder geschaffen, um bestimmte Zwecke mit seinen Werken zu erzielen? Welche Zwecke könnten dies sein - eine historisch korrekte Wiedergabe der Zustände seiner Zeit oder Kritik an der Gesellschaft, deren Mitglied auch er selbst war?
Um diese Fragen zu beantworten, steht die möglichst textimmanente Analyse und Inter- pretation der oben angeführten Protagonistinnen im Vordergrund, welche allerdings nicht nur untereinander verglichen, sondern auch in einen Zusammenhang mit der tatsächlichen Lebenssituation von Frauen im Bismarck-Reich gebracht werden sollen. Aus diesem Grund besteht die Arbeit aus zwei Komplexen: Der erste Teil soll die rechtliche und gesellschaftliche Stellung der Frau genauer betrachten. Was bedeutet ‚weiblich‘ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Hierfür sind neben dem Allgemeinen Preußischen Landrecht auch zeitgenössische Andachtsbücher heranzuziehen. Auf diese Weise wird es möglich sein, einen Bezug zum realhistorischen Kontext der Werke herzustellen.
Im zweiten Teil geht es um Fontanes Werke. Nachdem sein persönliches Umfeld betrachtet wurde, um später mögliche Parallelen zu den Romanfiguren ziehen zu können, werden insgesamt sieben Frauenbilder in vier Kapiteln analysiert. Eine Charakterisierung erfolgt vor allem hinsichtlich ihres Wesens sowie der Stellung in der Ehe und gegenüber der Gesellschaft. Die Frage, ob diese Frauenbilder möglicherweise sich wiederholende Muster aufweisen und in verschiedene Kategorien einzuteilen sind, soll im Anschluss beantwortet werden.
Zuletzt bringt ein Vergleich von Fontanes Werken und der realen Stellung der Frau beide Teile zusammen. Hier soll sich klären, ob er mit seinen Frauenbildern realistisch verfahren ist und sich damit als Gesellschaftskritiker erweist oder ob er persönliche Idealbilder geschaffen hat, in die er sich verlieben konnte.
2 Die Stellung der Frau im Bismarck-Reich
Schon der Anblick der weiblichen Gestalt lehrt, daß das Weib weder zu großen geistigen, noch körperlichen Arbeiten bestimmt ist. Es trägt die Schuld des Lebens […] durch die Wehen der Geburt, die Sorgfalt für das Kind, die Unterwürfigkeit unter den Mann, dem es eine geduldige und aufheiternde Gefährtin seyn soll.2
Sie sind sexus sequior [das geringere Geschlecht, N.R.], das in jedem Betracht zurückstehende, zweite Geschlecht […].3
Die Frau als das minderwertige Geschlecht, geist- und willenlos dem Mann unterworfen, unästhetisch, ungerecht und unterwürfig. So stellt Schopenhauer - wie in den einführenden Zitaten ansatzweise zu erkennen ist - das weibliche Geschlecht in seinem 1851 verfassten Werk Parerga und Paralipomena - Vereinzelte, jedoch schematisch geordnete, Gedanken über vielerlei Gegenstände dar. Von der Frau gehe eine erhebliche Gefahr für das männliche Geschlecht aus, schreibt er und reiht sich damit in jenes Frauenbild ein, dass seinerzeit propagiert wurde. Auch Otto Weininger ist diesem verfallen. Besonders deutlich kommt dies in seinem 1902 erschienenen Werk Geschlecht und Charakter zum Ausdruck. Weininger jedoch geht noch wesentlich rigoroser gegen die Frau vor. Er sagt: „Die Frau ist nur sexuell, der Mann ist auch sexuell.“4 Damit setzt er sie auf das rein Sexuelle herab. Weininger wirft ihr Seelenlosigkeit vor und spricht ihr Persönlichkeit, Individualität oder einen eigenen Willen vollkommen ab. Er degradiert sie zu einem dem Geschlechtstrieb verfallenen Nichts und geht sogar so weit, dass er dem Mann zu Enthaltsamkeit und Verteidigung gegen sie rät. Auch in weiteren wissenschaftlichen Werken, beispielsweise Sigmund Freuds oder dem Eintrag ‚Frauen‘ in der Allgemeinen Real-Encyklopädie der gebildeten Stände, wird deutlich, wie sehr die Gesellschaft von einem solchen Frauenbild geprägt ist.
Unterstützt wird dies nicht nur durch die (männliche) Masse der Gesellschaft, sondern vor allem auch durch das Gesetz. Das Ziel dieses Kapitels ist es, die rechtliche Grundlage der Diskriminierung zu untersuchen, im Besonderen die Stellung der Frau in der Ehe. Ihre Rolle in der Gesellschaft soll anschließend genauer dargestellt werden. Außerdem wird behandelt, auf welche Weise die Entwicklung der Frau bereits in ihrer Kindheit geprägt wird und worum es in den ersten Frauenbewegungen ging.
2.1 Rechtsstellung der Frau im Preußischen Allgemeinen Landrecht
Das 1794 in Kraft getretene Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten regelt vor allem das Vermögensrecht, unter anderem Erbschafts-, Gemeinde- und Lehnsrecht, sowie das Personenrecht. 5 Die rechtliche Stellung der Frau wird hierin zwar nicht explizit erörtert, jedoch in vielen Aspekten wie dem ersten Titel „Von der Ehe“ oder dem zweiten „Von den wechselseitigen Rechten und Pflichten der Aeltern und Kinder“ deutlich zum Ausdruck gebracht. Welche Rolle der Frau - dem Gesetz nach - in der Gesellschaft zugedacht ist, wird vor allem in dem ersten Titel deutlich: Sie steht ihr gesamtes Leben lang unter der Vormund- schaft eines Mannes, welcher sie nur in absoluten Ausnahmefällen entkommen kann. Als Kind liegt die Vormundschaft vorerst beim Vater. Mit der Eheschließung übergibt dieser seine Machtstellung über die Frau an den Ehemann. Zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens ist sie dazu befugt, selbstständig Entscheidungen über sich zu treffen.
Man findet im ALP keine klare Definition des Begriffs ‚Ehe‘. Nach Weber-Will ist die „Ehe als zivilrechtlicher Vertrag, den zwei Menschen verschiedenen Geschlechts zur Erreichung eines bestimmten Zwecks eingehen und der jeweils bestimmte Rechte und Pflichten begründet“ zu verstehen.6 Diese Interpretation basiert auf den ersten zwei Paragraphen, die als Grundlage der darauffolgenden Ausführungen zum Familienrecht dienen: Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung der Kinder. (ALP II 1 § 1) Auch zur wechselseitigen Unterstützung allein kann eine gültige Ehe geschlossen werden. (ALP II 1 § 2)
Hieran wird zunächst deutlich, dass die Ehe tatsächlich als Vertrag verstanden wird, dem nicht primär der Wunsch des Zusammenlebens, gegenseitigen Beistands, etc. zugrunde liegt, sondern dessen Ziel das Erzeugen von Kindern ist. Andererseits wirkt der zweite Paragraph fast wie eine Entschärfung des ersten, da er auch das Bestehen einer kinderlosen Ehe zulässt.
Das ALP unterscheidet in den folgenden Ausführungen zwischen gemeinschaftlichen Rechten und Pflichten der Eheleute sowie Rechten und Pflichten des Ehemannes bzw. der Ehefrau. Prinzipiell sind Frau und Mann einander gleich, solange dies nicht durch weitere Gesetze oder andere Ausnahmen widerlegt wird, wie im ALP I 1 § 24 zu lesen ist. Der vierte Abschnitt regelt, dass Eheleute einander „wechselseitigen Beystand“ (ALP II 1 § 174) zu leisten und miteinander zu leben haben. Sie dürfen „einander die eheliche Pflicht anhaltend nicht versagen“ und sind zu Treue verpflichtet (ALP II 1 § 178, 181). Die Artikel II 1 § 181 - 183 geben an dieser Stelle einen ersten Hinweis auf die Unterlegenheit der Frau dem Mann gegenüber: Im Falle eines beiderseitigen Ehebruchs ist es nur dem Mann erlaubt, die Scheidung einzufordern.
Besonders deutlich wird die minderwertige Stellung im anschließenden Teil, der die Rechte und Pflichten des Mannes beschreibt. Wörtlich heißt es hier:
Der Mann ist das Haupt der ehelichen Gesellschaft; und sein Entschluß giebt in gemeinschaftlichen Angelegenheiten den Ausschlag. (ALP II 1 § 184)
Dem Ehemann kommt die dominierende Rolle zu. Wie Esser berichtet, ging die (männliche) Gesellschaft sogar davon aus, dass es der Frauen eigener, durch ihre Moralität bedingter, Wunsch war, unterworfen zu sein.7 In diesem Sinne regeln auch die folgenden Paragraphen die Unterhaltspflicht des Mannes gegenüber der Frau sowie die Verteidigungspflicht ihrer Person, ihrer Ehre und ihres Vermögens in und außerhalb des Gerichts. Ihr wird also die Möglichkeit versagt, sich selbst zu verteidigen und selbstständig Prozesse zu führen.
ALP II 1 § 194 bringt zum Ausdruck, welche Aufgaben der Frau in einer Ehe zugedacht werden: „Sie ist schuldig, dem Hauswesen des Mannes nach dessen Stande und Range vorzustehn.“ Ihr Wirkungsfeld wird also völlig auf den internen, häuslichen Bereich beschränkt. Ohne Einverständnis des Mannes darf sie kein eigenes Gewerbe betreiben oder Rechtsbeziehungen, z.B. ein Arbeitsverhältnis zu Dritten, eingehen. Da sie jedoch nicht vertragsgebundenen Geschäften nachgehen darf, sei hier auch zu erwähnen, dass sie ihre Erwerbnisse in der Regel an den Mann abzugeben hat (ALP II 1 § 211). Weiterhin ist sie verpflichtet, dem Mann an einen vom ihm gewählten Wohnsitz zu folgen, da dieser andern- falls die Scheidung einreichen dürfte. Recht liberal ist der Abschnitt, in dem die Vermögens- fragen geregelt werden: 8 Über Verträge könne geregelt werden, dass von ihr in die Ehe eingebrachtes Vermögen nicht allein unter der Hand des Mannes steht. Zudem verfügt sie über ein Notverwaltungsrecht, dass sie dazu befähigt, in Abwesenheit oder Verhinderung des Mannes über das Vermögen zu walten.
Der in ALP I 1 § 24 festgelegte Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter erscheint somit fragwürdig, da anhand der Ausführungen deutlich geworden ist, dass die Unterlegenheit der Frau sowie die patriarchalische Vorherrschaft des Mannes rechtlich gestützt sind. 9 Das Gesetz gibt die Rollenverteilung ganz klar vor: Während die Frau für den innerhäuslichen Bereich zuständig ist, obliegen dem Mann die Leitung des Hauswesens und die Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten. Zwar setzt die Rechtslage stets eine gemeinschaftliche Beratung voraus, weswegen man dem ALP unterstellen könnte, die Ehe als partnerschaftliches Verhältnis zu verstehen, jedoch liegt das Recht der endgültigen Entscheidung beim Mann.10 Weiterhin darf die Frau weder ein eigenes Gewerbe führen noch eigene Prozesse bestreiten und der Mann wird rechtlich verpflichtet, die Frau standesgemäß zu versorgen. Das ALP weist zwar einige Bestrebungen auf, die Bestimmungen bezüglich der Ehe möglichst gering zu halten, jedoch wird ganz deutlich, welche Rolle der Frau zugedacht wird: unselbstständig, unterworfen und häuslich.
Nun stellt sich die Frage, inwiefern diese Gesetzesregelungen Einfluss auf die Stellung der Frau in der Gesellschaft haben.
2.2 ‚Weiber weiblich, Männer männlich‘ – Frauen in der Gesellschaft
Die im Titel dieses Kapitels zitierten Worte des von Briest sind bezeichnend für die soziale Stellung der Frau.11 Wie aus dem vorhergegangenen Kapitel ersichtlich wurde, besteht schon allein aufgrund der Rechtssituation eine Ungleichheit zwischen beiden Geschlechtern. Besonders deutlich wird dies in dem bereits erwähnten Artikel ‚Frauen‘ in der Allgemeinen deutschen Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Frauen seien […] die Repräsentanten der Sitte, der Liebe, der Scham, des unmittelbaren Gefühls, wie die Männer die Repräsentanten des Gesetzes, der Pflicht, der Ehre und des Gedankens; jene vertreten vorzugsweise das Familienleben, diese vorzugsweise das öffentliche und Geschäftsleben. […] das Weib strebt nach Zierlichkeit, Anständigkeit und Schönheit, der Mann nach Fülle, Kraft und praktischer Zweckmäßigkeit.12
Es folgt eine Fülle weiterer Dichotomien, die letztendlich zum Ausdruck bringen, dass das Wesen der Frau von Anmut, Gefühl und Instinkt geprägt ist und sich ihre Hauptfunktionen auf Familie und geselliges Leben beziehen. Um die Stellung der Frau im ausgehenden 19. Jahrhundert verständlich darlegen zu können, ist es nötig, kurz die wirtschaftliche Situation des Deutschen Reiches zu darzulegen.
Die Industrialisierung führte zu einem starken wirtschaftlichen Aufschwung, der vor allem in Kreisen des Bürgertums eine immense Kapitalanhäufung nach sich zog. Die Entwicklung zu einem Industriestaat veränderte nicht nur die ökonomischen Strukturen sondern vor allem auch die Gesellschaft selbst. Bürgertum und Mittelstand differenzierten sich immer deutlicher vom Proletariat, was unter anderem im Lebenswandel und der Selbstinszenierung deutlich wurde. Ein bedeutsames Mittel dieser Selbstdarstellung waren Töchter und Ehefrauen.
Um zu gewährleisten, dass Mädchen von Geburt an mit den von ihnen geforderten Tugenden und Sittlichkeiten vertraut waren, haben Anstandsbücher, Lebenshilfen, etc. Hochkonjunktur. Die Erziehung war zwar offiziell Aufgabe der Ehefrau, jedoch war das Verhältnis zu Kinderfrauen oder Gouvernanten oft weitaus intimer als zur eigenen Mutter. Für gewöhnlich hatten die Hausangestellten das Kind auf seine Rolle in der Gesellschaft vorzubereiten. Fähigkeit zur Selbsterziehung und Selbstbeherrschung sowie die Tugend der Häuslichkeit galten als die Grundpfeiler der Erziehung, denn eine Frau hatte immer gut, rein, maßvoll und liebenswürdig zu erscheinen, alles Unschöne zu vermeiden und sich der Harmonie jedes Wortes und jeder Bewegung bewußt zu sein.[…] Sie braucht nicht schön zu sein, aber soigniert.13
Sie musste verstehen, durch ihr „frommes und zartes Gemüt Liebe, Wohlsein und Lebens- wärme“ zu verbreiten und „milde, ruhig, freundlich, gehorsam sein [sowie] lieber scheu aus dem Leben zurück-, als wild in das Leben hineindringen[…]“ zu wollen.14 Umfangreiche Bildung war nicht notwendig, sondern konnte durch Besonnenheit und Schweigsamkeit beglichen werden. Angesehen waren jedoch Talente in Fremdsprachen und der Kunst des Musizierens und Zeichnens, die der Unterhaltung von Gästen und Ehemann sowie dem eigenständigen Zeitvertreib dienen können. Zusammenfassend schreibt Stefan Zweig:
[…] so wollte die Gesellschaft von damals das junge Mädchen, töricht und unbelehrt, wohlerzogen und ahnungslos, neugierig und schamhaft, unsicher und unpraktisch, und durch diese lebensfremde Erziehung von vornherein bestimmt, in der Ehe dann willenlos vom Mann geformt und geführt zu werden.15
Die Eheschließung erfolgte in der Regel direkt aus der Obhut des Vaters heraus, so dass die junge Frau nicht die Möglichkeit bekam, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Liebe war eher die Ausnahme als Motiv zur Heirat, meist geschah es aus Gehorsam den Eltern gegenüber (Effi Briest) oder um finanzielle Sicherheit und gesellschaftliches Ansehen zu garantieren (Melanie van der Straaten, Cécile). Spätestens nach der Hochzeit zog sich die Frau in den häuslichen Wirkungskreis zurück. Aufgaben waren vor allem die Organisation des Hauswesens und der Dienstboten sowie die Erziehung der Kinder, wenn diese nicht von Dritten übernommen wurde. Allerdings durfte sie sich nicht vollkommen dem Haushalt hingeben, sondern musste immer auch bereit sein, dem Mann in der Gesellschaft zur Seite zu stehen und sich zu repräsentieren. So stellt Louise Otto-Peters berechtigt die Frage „Ist sie [die Frau] nicht ein Luxusartikel für den Mann?“, denn „[...] was hat sie da weiter zu thun als ein wenig zu musiziren oder zu lesen, zu sticken – und all dies zweck- und ziellos, nur – um sich die Zeit zu vertreiben!“16
Sowohl in der bürgerlichen als auch in der proletarischen Gesellschaft lehnten sich Frauen gegen diese ihnen auferlegte Stellung und Diskriminierung auf. Als Beginn der organisierten Frauenbewegung in Deutschland ist vor allem der 1865 von der oben zitierten Louise Otto- Peters gegründete Allgemeine Deutsche Frauenverein nennenswert. Hier forderten bürgerliche Frauen vor allem das Recht auf Bildung und Erwerbsarbeit (bisher waren nur wenige Berufe wie der der Lehrerin, Harfenistin, u.ä. anerkannt) sowie ein gewisses Maß an Gleichberechtigung den Männern gegenüber ein. Davon unabhängig entwickelte sich die proletarische Frauenbewegung unter Führung Clara Zetkins aus der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung heraus. Die Ziele waren anders als die der weiblichen Oberschicht, da die Arbeiterinnen unter katastrophalen Zuständen zu leiden hatten. Sie forderten nicht nur die Gleichstellung der Frau, sondern vielmehr die Emanzipation beider Geschlechter (in einer sozialistischen Gesellschaft) sowie verbesserte Arbeitsbedingungen.
Darunter fielen neben angemessenem Lohn auch der Mutterschutz und das Frauenwahlrecht.17
Letztendlich blieben Frauen jedoch bis in die späten 1920er Jahre hinein eine Ausnahme in den wissenschaftlichen Einrichtungen der Universitäten. Völlig ausgeschlossen waren sie aber nicht, denn wo sie selbst nicht studieren durften, waren sie doch zumindest ein beliebtes Thema in der Forschung sowie den Künsten.
3 Frauenbilder in Fontanes Werken
Wie viele seiner Zeitgenossen stellt auch Fontane in seinem Spätwerk fast ausschließlich Frauen in den Mittelpunkt des Geschehens. Sie sind die Hauptfiguren. Um sie herum entwickelt sich alles und meist sind sie die Sympathieträger, die Mitleid bzw. Verständnis erregen. Oftmals ist ihr Handeln ausschlaggebend für die Kritik, die an Fontanes Werken ausgeübt wurde. Es treten Frauen aus dem Adel, der Bourgeoisie und dem Proletariat auf.
Obwohl sie alle auf ihre Art und Weise einzigartig sind, meint man doch immer wieder Ähnlichkeiten zu erkennen. Aber woran liegt das? Schuf Fontane idealisierte Frauenbilder, die ihm gefielen und für die er schwärmte, möglicherweise um ihr Handeln rechtfertigen zu können? Gab es in seinem persönlichen Umfeld reale Vorbilder für die Figuren? In einigen Fällen, wie bei Effi oder Melanie, griff er auf wahre Vorkommnisse zurück, aber auch ohne solche Vorlagen erscheinen die Werke realistisch.18
Im folgenden Kapitel sollen die Frauenbilder Fontanes analysiert und charakterisiert werden. Welche Stellung kommt ihnen in der Ehe zu und wie stehen sie der Gesellschaft mit ihren Werten und Normen gegenüber? Bauer behauptet, Fontane ergreife unbeabsichtigt Partei für die Frauen und stelle die herrschenden Strukturen dadurch in Frage. Er selbst sei eher konser- vativ und stünde der Emanzipationsfrage skeptisch gegenüber.19 Sind seine Frauenfiguren ein Mittel, sich der Gesellschaft gegenüber kritisch zu äußern oder entstehen die Schicksale vielmehr aus Gerechtigkeit und Mitgefühl? Um einen Überblick über Fontanes Frauenideal zu gewinnen, werden zunächst für ihn biografisch bedeutsame Frauen betrachtet und an- schließend insgesamt sieben ausgewählte Figuren aus fünf Werken genauer untersucht.
3.1 Fontanes Frauenbild
Fast die Hälfte seiner abgeschlossenen Romane tragen im Titel Frauennamen oder verweisen zumindest auf diese.20 So entwickeln sich die Geschichten um verschiedene Frauengestalten herum und nehmen deren Schicksale in den Fokus. In allen hier betrachteten Romanen geht es um die Ehe und daraus resultierende Probleme, um Standesunterschiede oder tatsächlich um die Liebe, die jedoch häufig in Palmengärten, Hotelzimmern oder auf Landpartien versteckt wird. Während die männlichen Protagonisten überwiegend als Repräsentanten von Ehre und Konventionen dienen, lässt Fontane die Frauen durch und durch menschlich erscheinen. Die Protagonistinnen werden jede auf ihre eigene Art und Weise Opfer der Gesellschaft. Sie leiden, sündigen, handeln unmoralisch in Anbetracht der Konventionen und werden gerade deswegen von Fontane geliebt.21
Dank vieler Briefe lässt sich dieser bestimmte Frauentypus charakterisieren, dem der Schriftsteller verfallen ist. Hier sei zunächst der vielzitierte Brief an das Ehepaar Schlenther erwähnt, in dem er sich als Frauenliebhaber bekennt, sich zu „ihren Schwächen und Verirrungen, dem ganzen Zauber des Evatums, bis zum infernal Angeflogenen hin“ hingezogen fühlt und „die echten, ehrlichen Magdalenen unwiderstehlich“ findet.22
Aussagekräftiger noch und außerdem ein Erklärungsansatz für die Gestaltung seiner Figuren ist folgender Ausschnitt aus einem Brief an Grünhagen:
Der natürliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein, lauter Kunstprodukte von einem gewissen, aber immer zweifelhaft bleibenden Wert, weil es an Echtheit und Natürlichkeit fehlt. Dies Natürliche hat es mir seit lange angetan, ich lege nur darauf Gewicht, fühle mich nur dadurch angezogen, und dies ist wohl der Grund, warum meine Frauengestalten alle einen Knax weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb, ich verliebe mich in sie, nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten, d. h. um ihrer Schwächen und Sünden willen. Sehr viel mehr gilt mir auch die Ehrlichkeit, der man bei den Magdalenen mehr begegnet als bei den Genoveven.23
Fontane lässt in seinen weiblichen Hauptpersonen ein Ideal aufleben, für das er in seinem realen Umfeld Vorbilder fand. Neben den Geschichten echter Frauen, die ihn zu einigen Werken anregten (so fand er in dem Schicksal der Elisabeth von Ardenne Inspiration für Effi Briest), sind hier vor allem seine Ehefrau Emilie Rouanet-Kummer sowie Martha Fontane (genannt Mete), die gemeinsame Tochter und seine Muse, zu nennen.
Emilie lernte er als eine junge, starke Persönlichkeit kennen. Die nicht immer einfache Ehe und mehrere Fehlgeburten führten jedoch dazu, dass sie krank wurde und begann, unter den typischen Symptomen der von Freud definierten Hysterie zu leiden. Repräsentierte zunächst sie sein „Sehnsuchtsbild“,24 so übernahm diese Rolle schließlich die gemeinsame Tochter Mete, die sie ihm neben drei Söhnen gebar. Mete war seit ihrer Geburt stets Fontanes Liebling.
[...]
1 Henrik Ibsen: Nora (Ein Puppenheim). Schauspiel in drei Akten. Stuttgart 2007, S. 91.
2 Arthur Schopenhauer: Ueber die Weiber. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2: Parerga und Paralipomena, hrsg. von Arthur Hübscher. Wiesbaden 1947, S. 650 - 663, hier S. 650.
3 Ebd. S. 657.
4 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien/ Leipzig 1908, S.114.
5 Das Allgemeine Preußische Landrecht wird im Folgenden abgekürzt mit ALP. Zitiert wird unter Angabe des Bandes sowie des Titels die Textausgabe Hans Hattenhauer (Hrsg.): Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Frankfurt am Main, Berlin 1970.
6 Susanne Weber-Will: Die rechtliche Stellung der Frau im Privatrecht des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794. Frankfurt am Main 1983, S. 60.
7 Claus Esser: Rechtsstellung und Ansprüche der Ehefrau gegen ihren Mann während der Ehe nach dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten und dem Bürgerlichen Gesetzbuch, phil. Diss. Köln 1998, S. 5.
8 Vgl.: Ute Gerhard: Verhältnisse und Verhinderungen: Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1989, S. 160 sowie Agni Daffa: Frauenbilder in den Romanen Stine und Mathilde Möring. Untersuchungen zu Fontane. Frankfurt am Main 2002, S. 19.
9 Esser 1998, S. 7.
10 Gerhard 1989, S. 60.
11 Theodor Fontane: Effi Briest. In: ders.: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 4, hrsg. von Walter Keitel, Helmuth Nürnberger. München 1974, S. 7 - 296, hier S. 10. Der Roman wird im Folgenden mit der Sigle EB sowie der Seitenangabe zitiert.
12 Zitiert nach Gerhard 1989, S. 390f.
13 Natalie Bruck-Auffenberg: Die Frau comme il faut.(Die vollkommene Frau). Mit Beiträgen des Briefkastenmannes der „Wiener Mode“, Wien 1896. In: Günter Häntzschel: Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850 – 1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weiblichen literarischen Sozialisation. Tübingen 1986, S. 251 - 255, hier S. 253.
14 Christian Wilhelm Spieker: Emiliens Stunden der Andacht und des Nachdenkens. Leipzig 1856. In: Häntzschel, Günter: Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850 – 1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weiblichen literarischen Sozialisation. Tübingen 1986, S. 53 - 63, hier S. 53.
15 Ingeborg Weber-Kellermann: Frauenleben im 19. Jahrhundert. Empire und Romantik, Biedermeier, Gründerzeit. München 1998, S. 115.
16 Louise Otto: Frauenleben im deutschen Reich. Erinnerungen aus der Vergangenheit mit Hinweis auf Gegenwart und Zukunft. (http://www.zeno.org/Literatur/M/Otto,+Louise/Essays/ Frauenleben+im+deutschen +Reich, 01.09.2010).
17 Kai-Britt Albrecht, Levke Harders, Lutz Walther: Die deutsche Frauenbewegung. (http://www.dhm.de/lemo/ html/kaiserreich/innenpolitik/prolfrauen/index.html, 01.09.2010).
18 Für die Geschichten Melanies und Effis hat sich Fontane von wahren Vorkommnissen inspirieren lassen. Für Lene in Irrungen, Wirrungen wurde zwar keine reale Vorlage herangezogen, aber trotzdem fand sich auch in dieser Geschichte eine Dame karikiert. Vgl. hierzu Edda Ziegler, Gotthard Erler: Theodor Fontane. Lebensraum und Phantasiewelt. Eine Biographie. Berlin 1996, S. 212.
19 Karen Bauer: Fontanes Frauenfiguren. Zur literarischen Gestaltung weiblicher Charaktere im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main u.a. 2002, S. 95.
20 Cécile, Effi Briest, Frau Jenny Treibel, Grete Minde, Stine und andeutungsweise auch L’Adultera. Postum veröffentlich wurde Mathilde Möhring.
21 Doris Maurer: Fontane und die Frauen. Von der femme fragile zur tüchtigen Person. Zum 100. Todestag von Theodor Fontane. (http://www.fernuni-hagen.de/imperia/md/content/gleichstellung/ heft23 maurer.pdf, 08.08.2010).
22 An Paul und Paula Schlenther, Berlin, 06.12.1894. In: Fontane, Theodor: Werke, Schriften und Briefe, 5 Bde., hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München 1982, Bd. 4, S. 405f. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle HF sowie Band- und Seitenangabe zitiert.
23 An Colmar Grünhagen, Berlin, 10. 10. 1895 (HF 4, 487f.).
24 Ziegler/ Erler 1996, S. 239.