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Thomas Manns „Der Zauberberg“ – zwischen Idealismus und triebhaftem Rausch

©2007 Hausarbeit 23 Seiten

Zusammenfassung

Bereits in Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ zeichnet sich beim Protagonisten Gustav Aschenbach der Konflikt zwischen strengem Idealismus und rauschhafter Hingabe an die niederen Triebe ab. In seinem Roman „Der Zauberberg“ kontrastiert Thomas Mann diese Gegensätze nicht nur explizit durch bestimmte Begriffe und Personen, sondern spielt mit ihren auf den ersten Blick eindeutig erscheinenden Grenzen. Im Folgenden soll zunächst, anhand der Untersuchung der Stimmung auf dem Zauberberg insgesamt, der Analyse polarisierender Persönlichkeiten sowie der Betrachtung der Darstellung der Krankheit, herausgearbeitet werden, auf welche Weise Thomas Mann die zwei verschiedenen Positionen darstellt und welcher Mittel er sich dabei bedient. Anschließend soll, unter anderem in Bezugnahme auf die Schneeszene und den Schluss des Buches, Lotti Sandts Aussage diskutiert werden, der Schluss des Zauberbergs sei versöhnlich und lebensfreundlich. Findet Castorp den Weg aus der Platonischen Höhle zu wahrer Erkenntnis oder gibt er sich letztlich doch der sinnlichen Macht der animalischen Instinkte des Menschen hin? Welcher Ort ist hier die Höhle, der Zauberberg selbst oder das Flachland? Wie kann die von Thomas Mann beschriebene „Steigerung“ des Hans Castorp verstanden werden?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zauberberg- Atmosphäre
2.1. Veränderung des Zeitbegriffs
2.2. Umgang und Bedeutung des Todes
2.3. Stimmung und Verhalten der Patienten

3. Personalisierung des geistigen Konflikts und die Verkörperung des Schwebezustandes zwischen den konkurrierenden Polen
3.1. Settembrini und Joachim -Vertreter der idealistischen Strenge Naphta
3.2. Naphta und Clawdia Chauchat - Vertreter des Rausches und der Sinnlichkeit
3.3. Peeperkorn -die Vereinigung der Gegensätze

4. Thomas Manns Verhältnis zur Psychoanalyse
4.1. Bewunderung und Misstrauen
4.2. Krokowski
4.3. Krankheit als Erhöhung des Geistes?

5. Deutung der Schneeszene, Bedeutung der Ironie im Zauberberg und Diskussion des Schlusses
5.1. Deutung der Schneeszene
5.2. Bedeutung der Ironie im Zauberberg
5.3. Diskussion des Schlusses

6. Fazit

1. Einleitung

Bereits in Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ zeichnet sich beim Protagonisten Gustav Aschenbach der Konflikt zwischen strengem Idealismus und rauschhafter Hingabe an die niederen Triebe ab. In seinem Roman „Der Zauberberg“ kontrastiert Thomas Mann diese Gegensätze nicht nur explizit durch bestimmte Begriffe und Personen1, sondern spielt mit ihren auf den ersten Blick eindeutig erscheinenden Grenzen. Im Folgenden soll zunächst, anhand der Untersuchung der Stimmung auf dem Zauberberg insgesamt, der Analyse polarisierender Persönlichkeiten sowie der Betrachtung der Darstellung der Krankheit, herausgearbeitet werden, auf welche Weise Thomas Mann die zwei verschiedenen Positionen darstellt und welcher Mittel er sich dabei bedient. Anschließend soll, unter anderem in Bezugnahme auf die Schneeszene und den Schluss des Buches, Lotti Sandts Aussage diskutiert werden, der Schluss des Zauberbergs sei versöhnlich und lebensfreundlich. Findet Castorp den Weg aus der Platonischen Höhle zu wahrer Erkenntnis oder gibt er sich letztlich doch der sinnlichen Macht der animalischen Instinkte des Menschen hin? Welcher Ort ist hier die Höhle, der Zauberberg selbst oder das Flachland? Wie kann die von Thomas Mann beschriebene „Steigerung“ des Hans Castorp verstanden werden?

2. Zauberberg-Atmosphäre

Schon allein der Titel „Der Zauberberg“ weist durch den Begriff ‚Berg’ auf etwas Isoliertes, Enthobenes hin. Das Wort ‚Zauber’ unterstreicht das Geheimnisvolle und Unbestimmte dieses Ortes. So deutet bereits der Name des Buches eine Art von Schwebezustand in einer unwirklichen Realität an2, wie er für diesen Roman insgesamt bestimmend ist. Die Tatsache, dass es sich bei Castorps Reise zum Sanatorium um einen Aufstieg handelt und er während seiner Zeit auf dem Zauberberg eine beachtenswerte geistige Entwicklung durchmacht, wecken Assoziationen mit Platons Höhlengleichnis3. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den starken Kontrast zwischen dem Flachland, aus welchem Castorp wie aus der Platonischen Höhle aufgestiegen zu sein scheint, und der Hochebene, auf der sich das Sanatorium befindet. Verschiedene Aspekte könnten die These unterstützen, dass die Welt des Sanatoriums der Platonischen Ideenwelt entspricht. Anhand des Zeitbegriffs, der Rolle des Todes sowie der Stimmung und des Verhaltens der Patienten soll diese Deutung in den folgenden drei Abschnitten untersucht werden.

2.1. Veränderung des Zeitbegriffs

„Unsere kleinste Zeiteinheit ist der Monat“4, erklärt Settembrini Hans Castorp gleich bei ihrem ersten Treffen, kurz nach der Ankunft Castorps auf dem Zauberberg, und hat damit einen bedeutenden Unterschied zum Flachland erfasst: das von der gewohnten Vorstellung abweichende Zeitgefühl auf dem Zauberberg. Während Castorp so anfangs noch davon überzeugt ist, das Sanatorium nach drei Wochen zu verlassen5, zeigt sich in seinem Exkurs über den Zeitsinn 6 die Veränderung seines Zeitgefühls:

„[ … ] kommt es mir vor, als ob ich schon wer weiß wie lange hier oben wäre [ … ] das scheint mir eine ganze Ewigkeit “ 7

Der Begriff der Ewigkeit könnte auf die Ewigkeit der Platonischen Ideenwelt bezogen werden, wenn Castorp nicht in der gleichen Ausführung betonen würde, dass dies mit dem Verstand nichts zu tun habe, sondern eine reine Gefühlssache sei.8 Die Betonung der Gefühle entspricht nicht dem diskursiven Denken, welches für die Platonische Ideenlehre bezeichnend ist. Die scheinbare Ewigkeit ist nicht Ausdruck des Erkenntnisaktes Castorps, sondern vielmehr verliert er sich in dem verwirrenden Zeitbegriff9, was sich in seinem ursprünglich als dreiwöchig geplanten, aber letztlich sieben Jahre dauernden Aufenthalt auf dem Zauberberg zeigt. Neben dem Exkurs über den Zeitsinn verdeutlichen auch Castorps philosophische Ausführungen im Abschnitt Strandspaziergang 10 die Entwicklung des Zeitbegriffs. Im Verlauf des Romans löst sich Castorp immer mehr von den Zeitkategorien des Flachlandes, welche mit denen einer mitteleuropäischen Gesellschaft gleichgesetzt werden können, und versumpft in der Ewigkeitssuppe 11 des Zauberbergs. Hinsichtlich der These ist hervorzuheben, dass die Veränderung des Castorpschen Zeitbegriffes zwar auf die Ewigkeit der Ideenwelt hindeutet, daraus aber keinesfalls auf eine Identifizierung des Zauberbergs mit der Platonischen Ideenwelt geschlossen werden kann. Ausschlaggebend dafür ist die Sinnlichkeit, welcher im Zauberberg ein schwerwiegendes Gewicht eingeräumt wird. Insofern kann das Platonische Höhlengleichnis lediglich als grobe Orientierung bei der Interpretation des Zauberbergs dienen, da Thomas Mann die Grenzen zwischen Höhle und Außenwelt verschwimmen lässt und Castorp ebenso wie den Leser im Unklaren darüber lässt, wo sich die wahre Erkenntnis befindet oder ob diese überhaupt erstrebenswerter ist als die wilde Ekstase der Sinnlichkeit. Dabei ausschließlich auf den Vergleich mit dem Platonischen Höhlengleichnis zurück zu greifen, würde der Komplexität des Werkes nicht gerecht werden, weswegen auf weitere Aspekte mit Relevanz für die These in den Punkten drei bis vier eingegangen wird. Davor wird jedoch in den folgenden Abschnitten die Rolle des Todes sowie das Verhalten der Patienten auf dem Zauberberg untersucht werden, um ein umfassendes Bild von der Abgrenzung des Hochlandes gegenüber dem Flachland zu erhalten.

2.2. Umgang und Bedeutung des Todes

Castorp hat zunächst eine vom Flachland geprägte traditionelle Vorstellung vom Tod: der Tod ist für ihn etwas Ehrfurchtsvolles und Feierliches, eine Vergeistigung der sterbenden Person, wie es am Anfang des zweiten Kapitels bei der Rückblende auf den Tod seines Großvaters deutlich wird.12 Der Umgang mit den Leichen auf dem Berghof, die mit Bobschlitten ins Tal befördert werden, hat entsprechend eine verstörende Wirkung auf ihn, die sich in seinem nervösen Lachen äußert.13 Auf dem Zauberberg ist der Tod gegenwärtig und vielleicht wird ihm gerade deshalb, außer von Castorp, keine sonderliche Beachtung geschenkt. Als Castorp die Sterbenden auf dem Berghof besuchen möchte, weist ihn Joachim darauf hin, dass dies gegen die Hausordnung verstoße,14 was eine forcierte Verdrängung des Themas vermuten lässt. Während seines Besuches bei den Sterbenden im Abschnitt Totentanz 15 zeigt sich eine Entwicklung Castorps, die von seinem ursprünglichen ehrfurchtsvollen Respekt vor dem Tod abweicht. So postuliert er zu Beginn des Todestanz - Abschnittes zwar noch das „Bed ürfnis seines Geistes, Leiden und Tod ernst zu nehmen und achten zu d ürfen “ 16 .

Im Verlauf seiner Sterbebesuche zeigt sich jedoch mehr und mehr eine entemotionalisierte Neugierde, wenn nicht gar Sensationslust an den Todesprozessen der Sterbenden. Thomas Mann betont im Gegensatz zu ehrlicher Anteilnahme und Betroffenheit am Schicksal der Sterbenden eher den „Unternehmungsgeist“17 Hans Castorps. Entweder haben die Begegnungen mit den Sterbenskranken eine amüsierende Wirkung auf den Leser, wie zum Beispiel der Besuch bei Frau Zimmermann, welche nicht aufhören kann zu lachen18, oder sie wirken aufgrund ihrer plastischen, geradezu sensationsheischenden Darstellung abstoßend, wie beispielsweise der Besuch der Vetter bei Lauro19. Als die Vettern schließlich mit Karen Karstedt den Friedhof besuchen, auf dem sie selbst bald liegen wird, betrachten die Cousins sie nicht mit Mitleid, sondern verstohlener Neugier20.

In Anbetracht dessen findet die Behauptung Sandts, bei den Krankenbesuchen Castorps handele es sich um „Liebesdienste am Nächsten“21 keine Bestätigung. In Hinblick auf die Schneeszene scheint es Castorp durch den nahen Kontakt mit dem Tod vielmehr um Grenzerfahrungen zu gehen. Dies unterstützt auch die These Kurzkes22, der auf Schopenhauer zurückgreift und das Leben als die plastische Verkörperung einer Idee auffasst. Durch den Tod befreit sich diese Idee von der Begrenzung durch Raum und Zeit. Demnach können Castorps Krankenbesuche eher als Äußerung einer Todesfaszination verstanden werden und weniger als Ausdruck von Nächstenliebe. Castorp beginnt sich nach den wahren, existierenden Ideen zu sehnen, die erst im Tod zu schauen sind. Auch wenn der Begriff der Nächstenliebe einen sehr ideellen Wert hat, handelt es sich bei Castorps Sterbebesuch kaum um einen Akt von idealistischer Menschenliebe, sondern um eine Etappe auf seinem Weg der Erkenntnissuche, welche in der Schneeszene ihren Höhepunkt findet.

2.3. Stimmung und Verhalten der Patienten

Entsprechend des verlangsamten Zeitgefühls und der Todesnähe weichen auch das Verhalten und die Stimmung auf dem Berghof von denen des Flachlandes ab. Schon Castorps erste Begegnungen mit den Bewohnern des Sanatoriums sind skurril: jeder Patient hat eine kleine oder größere Macke (wie zum Beispiel die summende, lesende Frau, die mit ihrem linken Mittelfinger auf den Tisch klopft23, Frau Stöhr mit ihrem Sprachfehler24 etc.). Auch herrscht auf dem Zauberberg eine gegenüber dem Flachland konträre Hierarchie zwischen den Patienten: je kranker die Gäste des Berghofs sind, desto größer ist ihr Ansehen und umgekehrt. Erst als Castorp von Hofrat Behrens für krank erklärt wird, erfährt er Anerkennung auf dem Berghof.25 Sandt beschreibt die Zauberberg- Gesellschaft als eine zeitlose Hadesgemeinschaft und durch ihre Abgrenzung gegenüber dem Flachland als das Platonische Reich des reinen Seins.26 In Verbindung damit hat auch die Horizontale, in der sich die Insassen des Berghofs einen großen Teil der Zeit befinden, eine Bedeutung: sie ist wie das Meer für Aschenbach der Inbegriff der Sehnsucht nach der Unendlichkeit. Ebenso ist die Welt des Zauberbergs in ihrer Horizontalen ein richtungsloser Zustand27, durch die Krankheiten der Patienten schwebend zwischen Leben und Tod, der in letzter Konsequenz auf Auflösung zusteuert. Die Aussage, die Welt des Zauberbergs stelle bereits die Platonische Ideenwelt dar, überzeugt insofern nicht, als dass sich die Bewohner des Zauberbergs zu sehr mit der fleischlichen, vergänglichen Lust des Lebens beschäftigen, wie die große Beliebtheit der Vorträge Krokowskis28 oder die Anekdote von Hofrat Behrens über Ammy Nölting29 zeigen. Die Welt des Zauberbergs ist losgelöst von der Etikette und strengen Form des Flachlandes. Dies führt jedoch nicht zu einer Vergeistigung der Patienten im platonischen Sinn, sondern, im Gegenteil, zu einem Frönen der Sinnlichkeit. Genau das schafft den Reiz des Berghofes für die meisten Bewohner des Zauberbergs, die ihn bis zu ihrem Tod oftmals gar nicht verlassen wollen: eine Welt zwischen Sein und Nichtsein, in der gerade soviel ist, um die Fleischlichkeit genießen und seine Persönlichkeit mit allen Macken ausleben zu können sowie gleichzeitig durch seine Krankheit eine geistige Erhöhung zu beanspruchen, wodurch sich eine implizite Rechtfertigung für die Absage an das Flachland ergibt. Auf die Vergeistigung der Krankheit wird im 4.3. Punkt eingegangen werden.

Festzuhalten ist jedoch, dass sich die wenigsten Bewohner des Zauberbergs in einem Konflikt befinden. Dieser entsteht erst für Castorp, der während seiner Suche nach Erkenntnis, auf gegensätzliche Pole trifft und diese versucht in sich auszuloten. Die meisten anderen Bewohner hingegen geben sich mit selbstzufriedener Genügsamkeit dem zeit- und verantwortungslosen Stumpfsinn des Zauberbergs hin.

[...]


1 Vgl. Dierks, 2003: 122.

2 Vgl. Sandt, 1979: 23.

3 Vgl. Sandt, 1979: 23.

4 Mann, Thomas: Der Zauberberg, 17. Auflage, Frankfurt am Main 2004, S. 84.

5 Vgl. Mann, 2004: 84.

6 Vgl. Mann, 2004: 143 ff.

7 Mann, Thomas: Der Zauberberg, 17. Auflage, Frankfurt am Main 2004, S. 148.

8 Vgl. Mann, 2004: 148.

9 Wimmer, 1997: 254.

10 Vgl. Mann, 2004: 741 ff.

11 Vgl. Mann, 2004: 255.

12 Vgl. Mann, 2004: 43.

13 Vgl. Mann, 2004: 19.

14 Vgl. Mann, 2004: 408.

15 Vgl. Mann, 2004: 395 ff.

16 Mann, Thomas: Der Zauberberg, 17. Auflage, Frankfurt am Main 2004, S. 409. 5

17 Mann, Thomas: Der Zauberberg, 17. Auflage, Frankfurt am Main 2004, S. 424.

18 Vgl. Mann, 2004: 422 ff.

19 Vgl. Mann, 2004: 426-427.

20 Vgl. Mann, 2004: 444.

21 Sandt, Lotti: Mythos und Symbolik im Zauberberg von Thomas Mann, Sprache und Dichtung Bd. 30, Bern / Stuttgart 1979, S. 50.

22 Kurzke, Hermann: Auf dem Weg zum Zauberberg, in: Sprecher, Thomas (Hrsg.): Auf dem Weg zum „Zauberberg“ -Die Davoser Literaturtage 1996, 16. Bd. Der Thomas Mann Studien, Frankfurt a. M. 1997, S. 78- 94, hier: S. 85.

23 Vgl. Mann, 2004: 24 f.

24 Vgl. Mann, 2004: 27.

25 Vgl. Mann, 2004: 253 f.

26 Vgl. Sandt, 1979: 71.

27 Vgl. Sandt, 1979: 27.

28 Vgl. Mann, 2004: 174 f.

29 Vgl. Mann, 2004: 570 ff.

Details

Seiten
23
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783656182832
ISBN (Paperback)
9783656184706
DOI
10.3239/9783656182832
Dateigröße
495 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg – Germanistisches Seminar
Erscheinungsdatum
2012 (Mai)
Note
1,0
Schlagworte
Thomas Mann Zauberberg Psychoanalyse Ironie Krankheit
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Titel: Thomas Manns „Der Zauberberg“ – zwischen Idealismus und triebhaftem Rausch