Kinder mit AD(H)S - Interdisziplinäre Zusammenarbeit aus pädagogischer und biophysischer Perspektive
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINFÜHRUNG: Ist die Zusammenarbeit ausreichend?
2. AD(H)S - Theoretische Annahmen und deren Bedeutung für die interdisziplinäre Zusammenarbeit
2.1 Definition und Bedeutung des Begriffs Interdisziplinarität für diese Bachelorarbeit
2.2 Klassifikation und Diagnosekriterien
2.2.1 Kategorisierung und Diagnosekriterien nach DSM-IV-TR
2.2.2 ICD-10 im Vergleich mit dem DSM-IV-TR
2.2.3 Epidemiologie und Prävalenz
2.2.4 Begründung der gewählten Abkürzung AD(H)S
2.2.5 Zusammenfassende und kritische Betrachtung der Klassifikationssysteme
2.3 Ätiologie
2.3.1 Ursachen aus biophysischer Sicht
2.3.2 Ursachen aus pädagogischer Sicht
2.3.3 Psychosoziale Einflussfaktoren
2.3.4 Zusammenfassende Betrachtung der Ätiologie unter Hinzunahme des biopsychosozialen Modells
2.4 Zusammenfassende Betrachtung und mögliche Auswirkungen der beschriebenen Klassifikation und Ätiologie von AD(H)S
3. Diagnostik
3.1 Konsequenzen für die interdisziplinäre Zusammenarbeit aus der medizinisch psychiatrischen Diagnostik
3.2 Konsequenzen aus weiteren diagnostischen Verfahren
4. Interventionen
4.1 Medikamentöse Intervention
4.2 Psychoedukation der Eltern, Elterntraining, Elternberatung
4.3 Verhaltenstherapeutische Trainingsprogramme
4.4 Zusammenfassende Betrachtung der Interventionsansätze
5. Resümee
Quellenverzeichnis
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
1. EINFÜHRUNG: Ist die Zusammenarbeit ausreichend?
In der vorliegenden Bachelorarbeit mit dem Thema „Möglichkeiten und Grenzen der inter- disziplinären Zusammenarbeit bei Kindern mit diagnostiziertem AD(H)S im Grundschulal- ter“ steht die Betrachtung des Erscheinungsbildes Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit und ohne Hyperaktivität (AD(H)S) aus unterschiedlichen Perspektiven im Mittelpunkt. Die zentrale Fragestellung dabei ist, wie die Beteiligten und die einzelnen Disziplinen zusam- menarbeiten können und müssen, um eine bestmögliche Behandlung zu gewährleisten.
Ausschlaggebend und Hintergrund für die Auswahl dieser Thematik sind meine Erfahrungen, die ich während meiner Ausbildung zum Ergotherapeuten und während der vorangegangenen fünf Semester im Studium des Polyvalenten Bachelors Lehramt mit dem Kernfach Rehabilitations- und Integrationspädagogik an der Universität Leipzig gesammelt habe. Dadurch und durch mehrere Praktika konnte ich mir aus der therapeutischen sowie aus der pädagogischen Perspektive theoretisches und praktisches Wissen über die Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit und ohne Hyperaktivität aneignen.
Gerade das Spannungsverhältnis der unterschiedlichen Sichtweisen interessiert mich und brachte mich dazu, in der Fachliteratur unter diesem Gesichtspunkt zu recherchieren und der Frage nachzugehen, in welchen Bereichen Schnittmengen, aber auch Kontroversen auftreten. Zudem ist eine enge Zusammenarbeit mehrerer Professionen bei der Behandlung bzw. bei Interventionen unabdingbar. Leider ist mir jedoch aufgefallen, dass die meisten Kooperationen in der alltäglichen Praxis sich auf das Nötigste beschränken; beispielswiese auf die Einhaltung der Verabreichungszeit von Medikamenten, oder dass nur dann zwi- schen Lehrkräften, Eltern und therapeutischem Personal kommuniziert wird, wenn es zu Schwierigkeiten kommt, die durch eine bessere Vernetzung und präzisere Absprachen hät- ten vermieden werden können.
Schwierigkeiten und Grenzen entstehen allerdings nicht nur während der direkten Arbeit mit dem Kind und seinem Umfeld durch das Auftreten von Kommunikationsproblemen, ungenügenden Absprachen und auf Grund von interpersonellen Konflikten oder struktur- bedingten Hürden. Vielmehr kann es schon entscheidend sein, wer welcher wissenschaftli- chen Fachrichtung angehört bzw. wer welche Konzeption, welches Modell bei der Diagno- se oder bei der Erstellung eines Förderplans verfolgt. Oder andererseits, wie offen jemand anderen bzw. reflektiert seinen favorisierten Konzepten gegenüber steht, wie gut und um- fassend jemand über die AD(H)S informiert ist oder wie dieses Wissen in handlungsorien- tierte und -anweisende Programme (Maßnahmen, Trainings, Interventionen, Therapien etc.) transferiert wird.
Beispielsweise existieren zurzeit mehrere Bezeichnungen für das Störungsbild, die einer- seits historisch begründet, andererseits aus verschiedenen Grundannahmen entstanden sind. Zudem herrscht keine umfassende Einigkeit darüber, wie AD(H)S entsteht und daher auch nicht darüber, welche Maßnahmen am geeignetsten sind, um einer AD(H)S zu begegnen. Ein zentraler Grund dafür sind die einzelnen Wissenschaften, die zum einen an der Be- schreibung und zum anderen an Interventionen beteiligt sind. HILLENBRAND stellt dazu treffend fest, dass eine Verhaltensstörung ein Konstrukt ist und sich mit dieser Problematik verschiedene Wissenschaften beschäftigen (vgl. HILLENBRAND 2006, S. 42). Ferner erfor- dert eine sachgemäße Kompetenz die Kenntnis und Zusammenarbeit mit den benachbarten Wissenschaften. Die Pädagogik bei Verhaltensstörungen besitzt einerseits eine klare Verortung innerhalb der Pädagogik. Sie ist keine Anwendungswissenschaft der Kinderund Jugendpsychiatrie oder Psychologie. […] andererseits [ist sie] für ihre Tätigkeit auf eine intensive interdisziplinäre Kooperation angewiesen.
(HILLENBRAND 2006, S. 42f.)
Daraus formuliert sich das Ziel, einen Überblick darüber zu geben, wie, d.h. nach welchen Vorgaben und unter welchen Bedingungen - zumindest theoretisch - mit Kindern im Grundschulalter, interdisziplinär gearbeitet werden kann und an welchen Stellen Grenzen und Probleme auftreten können.
Die Struktur der Bachelorarbeit ist an dem mehr oder weniger idealtypischen Versor- gungsweg eines Grundschulkindes mit AD(H)S angelehnt. Zunächst wird der Terminus, die Klassifikation, die Prävalenz sowie die mögliche Ätiologie von AD(H)S diskutiert. Nachfolgend werden einige sich daraus abgeleiteten diagnostische Zugänge und einige Interventionsmaßnahmen/ -möglichkeiten unter dem Aspekt der Interdisziplinarität be- schrieben und problematisiert.
2. AD(H)S - Theoretische Annahmen und deren Bedeutung für die interdisziplinäre Zusammenarbeit
„Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen können die Entwicklung eines Kindes, seine Erziehung, seine Ausbildung, sein schulisches Lernen und sein Sozialverhalten nachdrücklich beeinträchtigen“ (LAUTH/NAUMANN 2008, S.212) und gelten als eine der am häufigsten diagnostizierten Störungen des Kindes- und Jugendalters.
Deshalb werden in diesem Kapitel Schlaglichter auf die einer Diagnose zugrundeliegenden Klassifikationssysteme, auf die Symptome von AD(H)S, die Prävalenz und mögliche Ursachen geworfen. Anschließend werden auf Grundlage dessen einige diagnostische Zugänge und Interventionsmaßnahmen thematisiert.
Infolge der Darstellung der Grundlagen soll deutlich werden, welche unterschiedlichen Fachbereiche an einer Diagnose sowie an einer Behandlung beteiligt sind und mit Ausblick auf das folgende Kapitel, welche Divergenzen eventuell eine Zusammenarbeit erschweren.
2.1 Definition und Bedeutung des Begriffs Interdisziplinarität für diese Bachelorarbeit
Wie wird in dieser Arbeit Interdisziplinarität verstanden und welche Form der interdisziplinären Zusammenarbeit wird untersucht?
Während der Recherche zu diesem Thema zeigte sich, dass sich mehrere wissenschaftliche Fachgebiete oder auch Disziplinen und Berufsgruppen mit dem Thema AD(H)S beschäfti- gen. Vor allem lassen sich zwei Ebenen in diesem Zusammenhang feststellen, die aller- dings nicht losgelöst voneinander existieren. Die Theoriebildung bzw. die Bildung von Annahmen in Bezug auf AD(H)S ist die eine. Hierbei lassen sich unterschiedliche Ansätze ausmachen, denen unterschiedliche Sichtweisen - insbesondere die biophysische und die pädagogische - zu Grunde liegen. Aus ihnen heraus werden Interventionen und Förder- maßnahmen abgeleitet, die bei einem Kind, das unter dem Verdacht einer AD(H)S steht oder bei dem eine AD(H)S diagnostiziert wurde, zum Tragen kommen. Die Untersuchung und die daraus resultierenden Ergebnisse, ob die theoriegestützten Interventions- und Maßnahmenprogramme einen positiven Einfluss auf den Verlauf oder die Prävention von AD(H)S haben, fließt wiederum in die Bildung von Theorien und in die Entwicklung von Programmen ein.
Auf der zweiten Ebene, die die konkrete Diagnostik und die konkreten Interventionsmaß- nahmen umfasst, können sich die Sichtweisen und Ansätze ergänzen, so dass sich eine bestmögliche Behandlung und Förderung des betroffenen Kindes ergibt. Allerdings kann es auch zu Konflikten oder Kollisionen kommen. Inwieweit im Einzelfall einzelne Berufs- gruppen zusammenarbeiten und vor allem wie erfolgreich, kann im vorliegenden Rahmen nicht beschrieben werden bzw. ist auch nicht das primäre Anliegen. Vielmehr richtet sich der Fokus auf die existierenden Annahmen und Sichtweisen und darauf, welche Möglich- keiten und Grenzen sich auf dieser Ebene zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen ausmachen lassen und/oder welchen Einfluss diese in Form von Diagnostik und Interventi- on auf den Einzelfall haben können.
Die vorliegend Arbeit verfolgt somit das Ziel, Schnittmengen und Abgrenzungen vor allem innerhalb der Theoriebildung, die sich aus unterschiedlichen Disziplinen ergeben, zu unter- suchen. Sie lässt sich aus HILLENBRANDS Forderung ableiten: „Als Hilfe für die betroffe- nen Kinder und Jugendlichen erfordert die Erziehung bei Verhaltensstörungen die Fähig- keit zu mehrperspektivischem Denken und mehrdimensionalem Handeln“ (HILLENBRAND 2006, S. 75).
2.2 Klassifikation und Diagnosekriterien
Im folgenden Abschnitt werden die beiden der Diagnose und Epidemiologie am häufigsten zugrundeliegenden Klassifikationssysteme dargestellt. Dabei wird zudem geklärt, in welcher Art und Weise diese das Störungsbild AD(H)S kategorisieren und welche Diagnosekriterien vorhanden sind, an denen sich Diagnostiker und Diagnostikerinnen bei einer festzustellenden AD(H)S orientieren. Mit Hilfe dieser Betrachtung wird geklärt, warum in der vorliegenden Arbeit vornehmlich die Abkürzung AD(H)S benutzt wird. Des Weiteren werden Annahmen sowie Unterschiede verdeutlicht, die bei der Konstruktion und Darstellung des Krankheits- bzw. Erscheinungsbildes vorzufinden sind.
2.2.1 Kategorisierung und Diagnosekriterien nach DSM-IV-TR
Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition, Text Revision (DSM-IV-TR) der American Psychiatric Association ist […] ein Kriterienkatalog, der die Leitlinien zur Feststellung psychischer Auffälligkeiten und Erkrankungen enthält. Zu diesen Auffälligkeiten und Erkrankungen gehört auch die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Die Leitlinien des DSM-IV geben dem Kinder- und Jugendpsychiater oder Psychologen die entsprechenden Hinweise, wie er feststellen kann, ob ADS vorliegt.
(KROWATSCHEK 2009, S. 20)
Das multiaxiale DSM-IV-TR zählt Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität zu den drei Kernsymptomen. Unter dem Kernsymptom Unaufmerksamkeit werden neun mög- liche Symptome aufgezählt, von denen mindestens sechs „aufgetreten sein müssen, um Unaufmerksamkeit im Zusammenhang mit einer ADHS zu diagnostizieren“ (Gawrilow 2009, S. 10). Der Hyperaktivität und der Impulsivität werden weitere Verhaltenssymptome untergeordnet, von denen insgesamt sechs beobachtbar sein müssen, um die beiden Kern- symptome als Bestandteil einer möglichen Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung an- zusehen (siehe Tabelle 1: Auflistung der Symptomkriterien nach DSM-IV-TR).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Auflistung der Symptomkriterien nach DSM-IV-TR (vgl. Altherr 2006/ Lauth & Schlottke 2002, S.13/Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. 2007, S.6f, online im Internet)
Weiterhin müssen die Verhaltensauffälligkeiten mehrere Merkmale aufweisen. Sie müssen mindestens seit sechs Monaten auftreten bzw. regelmäßig beobachtet worden sein und „in einem dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorliegen“ (DÖPFNER et al. 2008, S. 258). Zudem müssen sie in verschiedenen Lebensbereichen aufgetreten sein, beispielsweise in der Schule und im Elternhaus. Einige Symptome müssen des Weiteren schon vor dem siebten Lebensjahr aufgetreten sein und „es müssen deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigung in sozialen, schulischen […] Funktionsbereichen vorhanden sein“ (APA 2003, S. 127). Allerdings ist eine AD(H)S auszuschließen, wenn die aufgeführten Symptome durch eine andere psychi- sche Erkrankung bzw. Störung besser erklärt werden kann. Sie ist abzugrenzen von einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung im Bereich der Kommunikation, von affektiven Stö- rungen, von Angststörungen, von dissoziativen Störungen oder von Persönlichkeitsstörun- gen (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2002, S. 14).
Ferner unterteilt das DSM-IV-TR das Störungsbild in drei Subtypen, die „nach Kriterien zur Definition von Aufmerksamkeitsstörung und Kriterien zur Definition von Impulsivität/Hyperaktivität“ (APA 2003, S. 61) unterteilt sind. Demnach ergeben sich der Vorwiegend Unaufmerksame Typus, bei dem nicht hinreichend Symptome im Bereich der Impulsivität/Hyperaktivität beobachtet werden, der Vorwiegend Hyperaktiv-Impulsive Typus, bei dem keine klinisch relevante Unaufmerksamkeit festgestellt werden kann, und der Mischtypus, der sowohl Merkmale der Unaufmerksamkeit als auch der Hyperaktivität und Impulsivität aufweist (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2002, S. 16).
Hierbei ist zu bemerken, dass der Vorwiegend Hyperaktiv-Impulsive Typus nach KRO- WATSCHEK eher eine untergeordnete Rolle spielt, da es sich um Kinder handelt, „die im Alter von vier bis sieben Jahren sehr lebhaft, unruhig, schwer zu steuern und ungeduldig sind“ (KROWATSCHEK 2009, S. 24), deren Konzentrationsfähigkeit allerdings altersgerecht ist. Erst zum Ende der Grundschulzeit zeigten sie auch Probleme in der Konzentrationsfä- higkeit, weshalb die Kinder dann dem Mischtypus zugeordnet werden können.
Neben den drei Subtypen existieren noch weitere Kategorisierungsmöglichkeiten, die zum Beispiel die betroffenen Personen umfassen, die zwar den Diagnosekriterien einer AD(H)S entsprechen, bei denen aber die Störung erst nach dem siebten Lebensjahr auftrat und somit unter eine Nicht Näher Bezeichnete Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung fiel (vgl. APA 2003, S. 127).
Ein weiterer hier zu nennender Aspekt ist das Auftreten von Komorbiditäten. „Das Vorlie- gen einer koexistierenden Störung bei ADHS ist in der Klinik eher die Regel als die Aus- nahme“ (STEINHAUSEN 2010, S. 35). Häufige Störungen sind beispielsweise solche mit oppositionell-trotzigem Verhalten, Störungen des Sozialverhaltens oder auch Angst- und Affektstörungen (vgl. STEINHAUSEN 2010, S. 35; APA 2003, S. 122). Allerdings ist dabei zu beachten, dass „die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung […] nicht diagnos- tiziert [wird], wenn die Symptome durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden können“ (APA 2003, S. 125).
Die entsprechenden Komorbiditätsraten sowie die Bedeutung von Differentialdiagnosen bei der Erhebung einer möglichen AD(H)S werden in den Abschnitten 2.2.3 Epidemiologie und Prävalenz und 3 Diagnostik eingehender behandelt.
2.2.2 ICD-10 im Vergleich mit dem DSM-IV-TR
Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, kurz ICD-10, führt AD(H)S unter dem Begriff Hyperkinetische Störungen auf. Das international gültige und von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) publizierte Diagnoseklassifikationssystem ICD-10 listet die hyperkinetische Störung im Kapitel V „Internationale Klassifikation psychischer Störungen“ unter der Gruppe der „Verhaltensund emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ im Abschnitt F90 auf (vgl. WHO 2010, S. 317-320). Allerdings unterscheidet das ICD-10 nicht wie im DSM-IV- TR drei Subtypen, sondern zwischen einer
1. einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (vorwiegend unaufmerksam, hyperaktiv und impulsiv) (Kodierung F90.0) und einer
2. hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (vorwiegend unaufmerksam, hyperaktiv und impulsiv sowie Störung des Sozialverhaltens, wenn die unter F91 aufgeführten Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens erfüllt sind) (Kodierung F90.1) (vgl. KROWATSCHEK 2009, S. 25; WHO 2010, S. 321).
Des Weiteren werden unter F90.8 „sonstige hyperkinetische Störungen“ und unter F90.9 „nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störungen“ als mögliche Störungsbilder erwähnt (WHO 2010, S. 321), wobei die Zweitgenannte dann zutrifft, wenn eine Differenzierung zwischen F90.0 und F90.1 nicht möglich ist (vgl. WHO 2010, S. 321). Im ICD-10 werden die gleichen Kernsymptome, Störung der Aufmerksamkeit, Impulsivi- tät und Hyperaktivität, wie im DSM-IV-TR genannt. Zudem werden weitestgehend ähnli- che mögliche andauernde Verhaltensweisen aufgezählt, die für die Feststellung der Kern- symptome beobachtbar sein müssen. Lediglich unter Hyperaktivität wird die Verhaltens- weise die „Kinder […] zeigen ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivitäten, die auch durch den sozialen Kontext oder Verbote nicht durchgreifend beeinflussbar sind“ (BUNDESÄRZTEKAMMER 2007, S. 7) aufgeführt. Diese ist anstelle des nach DSM-IV-TR genannten Aspektes „ist häufig "auf Achse" oder handelt oftmals, als wäre er/sie "getrie- ben" (siehe Tabelle 1: Auflistung der Symptomkriterien nach DSM-IV-TR) vorzufinden. Des Weiteren wird unter dem Kernsymptom Impulsivität die Verhaltensweise „reden häu- fig exzessiv ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren“ (BUNDESÄRZTE- KAMMER 2007, S. 8) als ein weiteres mögliches Symptom aufgelistet. LAUTH und NAUMANN fassen zusammen, dass die beiden vorliegenden Diagnoseschemata AD(H)S durch ein System von Zuweisungs- und Ausschlusskriterien erfassen, deren Kons- tellation weitgehend übereinstimmend ist (vgl. LAUTH/NAUMANN 2009, S. 11). Ferner ge- ben sie eine Übersicht über die Zuweisungs- und Ausschlusskriterien, die hier tabellarisch gegenübergestellt werden (siehe Tabelle 2: Zuweisungs- und Ausschlusskriterien).
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Tabelle 2: Zuweisungs- und Ausschlusskriterien (vgl. LAUTH/NAUMANN 2009, S. 11)
Zusammenfassend wird deutlich, dass die ICD-10 und das DSM-IV-TR das Störungsbild weitestgehend ähnlich beschreiben. Das heißt, dass sie sowohl bei der Auflistung und De- finitionen der Symptomkriterien als auch beispielsweise bei der Dauer und beim Aus- schluss anderer Störungen quasi identisch sind. Differenzen zeigen „sich wohl aber in der Bestimmung der Anzahl und der Kombination dieser Kriterien, die für die Diagnose einer hyperkinetischen Störung vorliegen müssen“ (DÖPFNER et al. 2000, S. 1).Vor allem auf dieses distinktive Merkmal wird von LAUTH und NAUMANN explizit Bezug genommen:
Die bedeutendsten Unterschiede zwischen den Diagnosekriterien des ICD-10 und des DSM-IV-TR bestehen darin, dass im DSM-IV-TR Untergruppen (Subtypen) der Störung bestimmt werden. Das DSM-IV unterscheidet einen Mischtypus, einen vorherrschend unaufmerksamen und einen vorherrschend hyperativ-impulsiven Typus der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts- störung.
(LAUTH/NAUMANN 2009, S. 11)
2.2.3 Epidemiologie und Prävalenz
AD(H)S gilt als eine der am häufigsten diagnostizierten Störungen des Kindes- und Ju- gendalters. Die Prävalenz liegt weltweit, je nach zugrunde liegender Diagnosekriterien, zwischen 6 - 10% (vgl. GAWRILOW 2009, S. 17). Hierbei kann und muss zudem zwischen unterschiedlichen Altersgruppen und Geschlecht differenziert werden. In der für diese Ar- beit relevanten Altersgruppe der sechs- bis zehnjährigen Grundschüler und Grundschüle- rinnen lassen sich unter anderem folgende publizierte Ergebnisse feststellen, die sich auf Diagnosen von Ärzten bzw. Ärztinnen und Psychologinnen bzw. Psychologen beziehen. Dem bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS), einer Studie, die vom Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegeben und vom Robert-Koch-Institut von 2003 bis 2006 durchgeführt wurde, ist zu entnehmen, dass 5,3% der 7 - 10 Jährigen Kinder positiv von Ärzten und Psychologinnen auf eine AD(H)S diagnostiziert wurden. Wobei 8,7% der Jungen und 1,9% der Mädchen betroffen sind (vgl. SCHLACK et al. 2007, S. 831).
Die BUNDESÄRZTEKAMMER beruft sich unter anderem auch auf diese Daten des Kinderund Jugendgesundheitssurveys.
Auf ihrer Homepage (vgl. http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/ADHSLang.pdf [Stand 22.06.2011]) wird zudem dargestellt, welche Faktoren die Ergebnisse von Prä- valenzuntersuchungen beeinflussen. Als ein entscheidender Einflussfaktor für Erhebungen lässt sich hiernach vor allem die divergierende Kombination der Kriterien des DSM-IV und der ICD-10 bestimmen. Demnach gelten die Kriterien der ICD-10 als strenger, wodurch sich eine Prävalenz von 1 - 2% ergibt (vgl. BUNDESÄRZTEKAMMER 2005, S. 11f). DÖPFNER erwähnt ebenfalls die „wesentlich strengen Diagnosekriterien von ICD-10“, wo- nach „die Prävalenz in Deutschland zwischen 1 und 3,4%“ (DÖPFNER 2008, S. 260) liege. Als Begründung der unterschiedlichen Ergebnisse wird angeführt, dass „bei Zugrundle- gung des ICD-10-GM, […] die Gruppe der nur aufmerksamkeitsgestörten Patienten“ (GAWRILOW 2009, S. 17) nicht der AD(H)S zugeordnet werden.
Schlussendlich lässt sich festhalten, dass - auch wenn es diagnostische Unterschiede gibt - ein erheblicher Anteil von Kindern eine AD(H)S aufweist bzw. Kernsymptome von einer AD(H)S zeigt. LAUTH und NAUMANN fassen es folgendermaßen zusammen: „Als Faustregel kann man demnach davon ausgehen, dass 1-2 Kinder pro Klasse betroffen sind“ (LAUTH/NAUMANN 2008, S. 212).
Auf Grund der Tatsache, dass nach Schätzungen bei ungefähr 2/3 aller AD(H)S-Diagnosen zusätzlich komorbide Störungen festgestellt werden, ist eine kurze Darstellung der Häufigkeit notwendig. Beispielsweise können Lernstörungen und Teilleistungsschwächen mitauftreten, wodurch ein breiteres Angebote an Förderungsmaßnahmen erforderlich wird, die von zuvor nicht zwangsläufig direkt beteiligten Fachbereichen, wie etwa der Logopädie oder Ergotherapie, gewährleistet werden können.
Im Folgenden werden die Angaben von GAWRILOW übernommen, da sie weitestgehend mit in anderen Fachbüchern dargestellten Erhebungen übereinstimmen. Die Häufigkeit komorbider Störungen bei Kindern mit AD(H)S verteilt sich wie folgt:
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Aus diesen Daten wird ersichtlich, dass nach einem AD(H)S-Befund und der anschließen- den (interdisziplinären) Erstellung des Förderplans und den abgeleiteten Interventionsmög- lichkeiten eventuelle mitdiagnostizierte komorbide Störungen beachtet werden müssen. Ebenfalls ist das Wissen darüber notwendig, um unter Umständen primär präventive Maß- nahmen zu initiieren.
2.2.4 Begründung der gewählten Abkürzung AD(H)S
Eine einheitliche Bezeichnung, die von allen Beteiligten gleichermaßen verwendet wird, um die zuvor beschriebene Verhaltensstörung zu benennen, existiert zurzeit noch nicht (vgl. z.B. die Bezeichnungsvarianten im DSM-IV-TR und in der ICD-10). Eine Begründung für diesen Zustand liefert unter anderem CLEMENS HILLENBRAND:
Es besteht bis heute keine Einigkeit unter den Wissenschaftlern, was genau diese Stö- rung ausmacht, daher liegt auch keine eindeutige Begriffsbestimmung vor. Einigkeit be- steht jedoch in der Bestimmung von drei Kernsymptomen, die ADHD kennzeichnen.
(HILLENBRAND 2006, S. 180)
HILLENBRAND benutzt an dieser Stelle die aus dem Englischen stammende Abkürzung ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder).
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS; im Englischen ADHD) hatte früher einige andere Bezeichnungen. So war von der ,Minimalen Cerebralen Dys- funktion' (MCD), von der ,Hyperaktivität' bzw. dem ,Hyperkinetischen Syndrom' (HKS) und von dem ,Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom' (ADS) die Rede. Die aktuelle und hoffentlich endgültige Bezeichnung lautet ,Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung' (ADHS).
(WENDER 2002, S. 11)
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