"Wenn sich Diagnostik individueller Biografien bedient“ - Rehistorisierung als verstehende Diagnostik bei Menschen mit geistiger Behinderung
Zusammenfassung
pädagogischen Praxis geistig Behinderten Menschen verstehend
gegenüber treten zu können. Um entwicklungsbezogen, würdevoll und
verantwortungsförderlich mit dem Menschen umzugehen, bedarf es ein
hohes Maß an emphatischer, pädagogischer Kompetenz. Diese Menschen
nicht zu verstehen und in der Alltagspraxis zu überfordern trägt die
Konsequenz, dass diese Menschen darauf mit affektlogischem Verhalten
reagieren. Diese Auswirkung ist bestimmt nicht in meinem und im
allgemeinen, heilpädagogischen berufsethischen Interesse. Diese nicht
verstehenden Alltagssituationen treten jedoch häufig auf. Die
Pädagoginnen haben oftmals ein mangelhaftes explizites Wissen und zu
wenig reflexives Verständnis über innere sowie äußere isolierende
Bedingungen des Betroffenen. Sie können sich die genaue Schwierigkeit
im Austausch mit der Umwelt und die Entwicklungslogik der Persönlichkeit
nicht vollständig vorstellen, erklären und verstehen. Mit dieser Arbeit
versuche ich, dem „Verstehen“ einen Schritt näher zu kommen, ohne den
Anspruch zu haben, die absolute Realität des Menschen mit einer geistigen
Behinderung erfassen zu können.
Das Seminar „Biografiearbeit“ bietet mir die Chance, individuelle
Lebensgeschichten und Methoden zum biografischen Arbeiten zu erfahren
und diese in meine heilpädagogische Arbeit einzubetten. Die biografische
Arbeit machte mich auf das Thema der Rehistorisierung aufmerksam.
Die Methode der Rehistorisierung bietet die Möglichkeit,
Entwicklungslogiken von Menschen zu erkennen und professionell darauf
zu reagieren. Ich werde mich jedoch in der folgenden Arbeit nur auf die
Menschen beziehen die von einer geistigen Beeinträchtigung betroffen
sind.
Die Frage ob Rehistorisierung eine wirkliche Methode ist, wird im Laufe
des Prozesses zu klären sein.
Im allgemeinen werde ich die Bezeichnung „Pädagogin“ nutzen um mich
auf alle Berufsgruppen zu beziehen, die mit Menschen mit geistiger
Behinderung arbeiten.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Themeneinstieg
2. Zur Begrifflichkeit: Diagnostik und Behinderung
2.1. Kritik an der wissenschaftlichen, konventionellen Diagnostik
2.2. Zum Begriff der „Behinderung“
3. ...auf dem Weg zur Rehistorisierung
3.1. Prägende Vorannahmen
3.2. Syndromanalyse durch dialektische Entschlüsselung
3.3. Paradigmawechsel
4. Konzept und Intention der Rehistorisierung
4.1. Rehistorisierung als Möglichkeit verstehender Diagnostik
4.2. Ziele der Rehistorisierung
4.3. Vorgehensweise
5. Fallbeispiel der Fachberatung nach Jantzen
5.1. Fachberatung mit Herrn P
5.2. Fachberatung mit Elke G
6. Theorie vs. Praxis
6.1. Chancen und Grenzen der Rehistorisierung
6.2. Möglichkeiten und Konsequenzen für die heilpädagogische Arbeit
7. Fazit
7.1. Kritische Auseinandersetzung mit rehistorisierenden Ansichten
7.2. Persönliches Fazit bezüglich dieser Arbeit
1. Einleitung
Diese Arbeit basiert auf der Problematik, in der alltäglich erlebten pädagogischen Praxis geistig Behinderten Menschen verstehend gegenüber treten zu können. Um entwicklungsbezogen, würdevoll und verantwortungsförderlich mit dem Menschen umzugehen, bedarf es ein hohes Maß an emphatischer, pädagogischer Kompetenz. Diese Menschen nicht zu verstehen und in der Alltagspraxis zu überfordern trägt die Konsequenz, dass diese Menschen darauf mit affektlogischem Verhalten reagieren. Diese Auswirkung ist bestimmt nicht in meinem und im allgemeinen, heilpädagogischen berufsethischen Interesse. Diese nicht verstehenden Alltagssituationen treten jedoch häufig auf. Die Pädagoginnen haben oftmals ein mangelhaftes explizites Wissen und zu wenig reflexives Verständnis über innere sowie äußere isolierende Bedingungen des Betroffenen. Sie können sich die genaue Schwierigkeit im Austausch mit der Umwelt und die Entwicklungslogik der Persönlichkeit nicht vollständig vorstellen, erklären und verstehen. Mit dieser Arbeit versuche ich, dem „Verstehen“ einen Schritt näher zu kommen, ohne den Anspruch zu haben, die absolute Realität des Menschen mit einer geistigen Behinderung erfassen zu können.
Das Seminar „Biografiearbeit“ bietet mir die Chance, individuelle Lebensgeschichten und Methoden zum biografischen Arbeiten zu erfahren und diese in meine heilpädagogische Arbeit einzubetten. Die biografische Arbeit machte mich auf das Thema der Rehistorisierung aufmerksam.
Die Methode der Rehistorisierung bietet die Möglichkeit, Entwicklungslogiken von Menschen zu erkennen und professionell darauf zu reagieren. Ich werde mich jedoch in der folgenden Arbeit nur auf die Menschen beziehen die von einer geistigen Beeinträchtigung betroffen sind.
Die Frage ob Rehistorisierung eine wirkliche Methode ist, wird im Laufe des Prozesses zu klären sein.
Im allgemeinen werde ich die Bezeichnung „Pädagogin“ nutzen um mich auf alle Berufsgruppen zu beziehen, die mit Menschen mit geistiger Behinderung arbeiten.
1.1. Themeneinstieg
Beeinträchtigtes Leben gibt sich für den äußeren Beobachter meist nur in Form von Auffälligkeiten zu erkennen. Woher diese Auffälligkeiten kommen, d.h. welcher Weg hinter ihnen liegt, bleibt allerdings im Verborgenen. Was soll man tun, wenn in einer Wohngruppe oder Arbeitsgruppe trotz sorgfältiger Hilfeplanung immer wieder Problemverdichtungen oder Ratlosigkeit um einen bestimmten Menschen herum auftreten? Das Verhalten wirkt nicht nachvollziehbar, die krisenhafte Situation kann nicht ohne weiteres beruhigt werden und entsprechende Situationen treten wiederholt und intensiver auf. Sollen Förderung und Therapie nicht zufällig wirksam werden, gilt es, diesen Entstehungszusammenhang zu rekonstruieren. Dies ist das Anliegen der rehistorisierenden Diagnostik.
Der Ansatz der Rehistorisierung nach W. Jantzen bietet einen Zugang, um Krisen oder Symptome aus ihrer Entstehung und der persönlichen Geschichte heraus neu lesen zu können. Eine Rehistorisierung strebt zum einen das Aufdecken "versteckter“ innerer und äußerer Bedingungsfaktoren bei der Entwicklung einer geistigen Behinderung an. Zum Anderen beabsichtigt die Rehistorisierung, den Mitarbeiterinnen hilfreiche Neuorientierungen für das Hilfehandeln in Krisen, für die alltägliche Hilfe und Unterstützung sowie für das Hilfeplanen anzubieten.
Im Verlauf dieser Arbeit ist es mein Anliegen über die Methode/ Sichtweise der Rehistorisierung aufzuklären sowie Chancen und Grenzen für das Heilpädagogische Handeln zu erläutern.
2. Zur Begrifflichkeit: Diagnostik und Behinderung
„Die Tendenz zur ´one- word- Diagnosis` ist heute freilich sehr groß und wer ihr verfällt, kann auf den Halbgebildeten Eindruck machen“ (Hanselmann)
2.1. Kritik an der wissenschaftlichen, konventioneller Diagnostik
Psychologische, behindertenpädagogische und neurologisch-psychiatrische Diagnostik sind in einer Krise. Sie ordnen Menschen bestimmten Gruppen zu und etikettieren auf diese Weise. Dort wo sie sich (wie in der Verhaltensanalyse, Familienanalyse, Förderdiagnostik u.a.m.) um den Einzelfall bemühen, tragen sie zwar wichtige Daten zusammen, setzen diese oftmals nicht in den Kontext der persönlichen Lebenswelt der betroffenen Person. Lebensgeschichten von Personen, wie sie Oliver Sacks in seinen verschiedenen Büchern erzählt, bleiben die absolute Ausnahme (vgl. Jantzen 2005, S. 54).
Die Diagnostik wird als hohe Professionalität in der Körpermedizin, Psychiatrie und Psychologie verstanden und findet seinen Platz in der Praxis sowie in der Lehre. Es heißt, die richtige Diagnose ist Grundlage für eine sinnvolle und erfolgreiche Behandlung oder Therapie. Krankheiten, Störungen und Verhaltensweisen sollen erkannt, abgegrenzt und differenziert werden. Ohne Berücksichtigung auf eventuelle Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt, werden Symptome und Menschen in gewisse Gruppen kategorisiert und eingeordnet.
Diese Vorgehensweise unterstützt es, die eigene Verantwortung zu umgehen indem man sich auf Fakten und Kategorien bezieht.
Diagnostisches Vorgehen versteht sich in der heilpädagogischen Arbeit anders. Es geht um den Menschen in seinem Bezugssystem und um die Erfassung der störenden Faktoren, die den Menschen in seiner Entwicklung bzw. in seinem Leben beeinträchtigen (vgl. Jantzen 2005, S. 66).
In der heutigen Psychodiagnostik besteht oftmals die Zielvorstellung, die Gesamtpersönlichkeit des Menschen zu erfassen um eine objektive Wesensbeschreibung zu ermöglichen. Zunächst scheint dieser Anspruch sehr professionell, dennoch denke ich, dass aufgrund der mangelnden Objektivität und zu hoher Interpretationsmöglichkeiten dies oftmals von der Wissenschaft entkräftet wird. Somit ist es wissenschaftlich nicht haltbar, eine ganzheitliche Diagnostik nach den üblichen Gütekriterien zu bekräftigen.
Es stellt sich die Frage, ob die streng induktive und standardisierte Diagnose nicht auch aus objektiven Einzelfakten abgeleitet und als folgerichtig erkannt wird und somit ebenfalls einer Interpretation unterliegen.
Der Anspruch der Diagnostik, den Menschen als Gesamtpersönlichkeit zu erfassen, stellt sich für mich als zunächst maßloser Anspruch dar. Welchen Horizont, welches Wissen und welche Empathie können wir als Heilpädagoginnen aufwenden, um den Mensche in seiner vollständigen Situation zu erfassen? Die jeweilige Wirklichkeit des Menschen in seiner Situation kann die Pädagogin lediglich erahnen bzw. darüber Hypothesen entwickeln. Somit erscheint die Gefahr der Interpretation als gerechtfertigt, unabhängig von den genutzten Testverfahren.
Das Verhältnis zwischen sonderpädagogischer Praxis und Psychodiagnostik steht in der Heilpädagogik seit langem zur Diskussion. Die psychodynamischen Gutachten gelten häufig in der Praxis als „unbrauchbarer Kram“, da sich damit nichts anfangen lasse (vgl. Kobi 1999, S. 155).
Diese Problematik spiegelt sich zum Teil auch im heutigen Theorie- Praxis Verhältnis wieder. Wie es zu solchen Sichtweisen kommt, werde ich in diesem Teil meiner Arbeit nicht beantworten können. Die Gefahr dabei ist zwangsläufig, dass Entwicklungsperspektiven und Fördermöglichkeiten dabei in den Hintergrund geraten.
Zu vermuten wäre, dass sich viele Pädagogen vor ihre Verantwortung verstecken und nicht das schweigen zu einer individuellen Geschichte brechen um sich bei Erkenntniserweiterung vor Kompetenzverlust zu schützen. Die Konsequenz daraus ist, dass das evtl. traumatisierende Ereignis des geistig behinderten Menschen nicht als Erzählung auftaucht, sondern als Symptom oder Fehlverhalten.
2.2. Zum Begriff der „Behinderung“
Diagnostik orientiert sich immer an dem jeweiligen Bild von geistiger Behinderung. Vorannahmen durch wissenschaftliche Theorien und neurologischer Forschung bestimmen und erklären das Phänomen der geistigen Behinderung. Diagnostik knüpft an dieses Wissen an und Orientiert sich an aktuellen Forschungsergebnissen. Im Zusammenhang theoretischer und praktischer Zugänge hat sich das Bild von geistiger Behinderung in den 60er Jahren sehr verändert. Neuropsychologische Theorien von Lurijas, das Normalisierungsprinzip, lerntheoretische und verhaltenstherapeutische Modelle haben dazu beigetragen, eine entwicklungsbezogene Sichtweise zu erreichen die den Menschen nicht mehr in einen ´moralisch Schwachsinnigen` verwandeln.
Großen Einfluss hatte hierbei die Intelligenztheorie Piaget, der die Sichtweise vertrat, dass geistig beeinträchtigte Menschen verlangsamt die gleichen Entwicklungsschritte in der gleichen Reihenfolge durchlaufen wie Menschen die sich ohne Beeinträchtigung entwickeln (vgl. Jantzen 2000, S. 23).
Einen weiteren Beitrag bot Lurijas ´Syndromanalyse´, die ich im weiteren meiner Arbeit ausführlich darstellen möchte.
Festzuhalten ist, dass die verantwortungsvolle Aufgabe von Pädagoginnen darin besteht, sich in aktueller Forschung und bezüglich neuer Erkenntnisse gegenüber der geistigen Behinderung zu informieren und diese in ihre Arbeit einzubinden.
3. ... auf dem Weg zur Rehistorisierung
„Einen geistig Zurückgebliebenen sollte man nicht wie eine Uhr ansehen, deren Werk nicht mehr in Ordnung ist. Statt dessen sollten wir fragen, welche Sprachspiele kann er spielen?“
(Ludwig Wittgenstein: Vorlesung über die Philosophie der Psychologie. Frankfurt/M. 1991)
3.1.Prägende Vorannahmen
Basaglias äußerte mehrfach den Grundgedanken, der doppelten Realität. Damit meinte er zum einen die psychopathologische Problematik, die dialektisch und ideologisch entschlüsselt werden muss und zum anderen die gesellschaftliche Realität, die den Menschen zu einem geächteten Opfer und Ausgeschlossenen unserer Gesellschaft macht (vgl. Jantzen 1994, S. 125).
Diesbezüglich greift Lurija Gedankengut von Karl Marx auf und beschreibt anhand dieser Annahmen den Zusammenhang zwischen den zwei Seiten der Realität. Das ` Aufsteigen im Abstrakten` dient der Gewinnung einer klaren Abstraktion. Diesen Prozess nennt Lurija Syndromanalyse. Diese Abstraktion bildet den Ausgangspunkt um ein Wesen in seinem folgenden Prozess begreifen zu können. Zum zweiten nennt Lurija das Aufsteigen vom `Abstrakten zum Konkreten` in der nun die gewonnene Information (Abstraktion) in den Kontext der historischen Situation gesetzt wird, in der sie wirkt. Der dritte und letzte Schritt fügt das Konstrukt zu einem Ganzen zusammen und wird von Lurija als das `Aufsteigen zum Konkreten ` benannt. Dieser Schritt soll es ermöglichen, die Geschichte des behinderten Menschen unter den Bedingungen der Beeinträchtigung als Geschichte seiner Persönlichkeit zu rekonstruieren (vgl. Jantzen, 1994, S. 129).
Diese vorrausgesetzten Annahmen und die Rekonstruktion der Einflüsse auf die Persönlichkeitsgeschichte nach Auftreten der Beeinträchtigung betitelt Lurija selbst als romantische Wissenschaft.
3.2. Syndromanalyse durch dialektische Entschlüsselung
Der Begriff der Syndromanalyse geht auf den russischen Neuropsychologen Alexander R. Lurija zurück. Sie stellt eine Methode zum Verständnis der Ursache und Wirkung neuropsychologischer Syndrome dar. Die Syndromanalyse wird von Lurija als methodische Grundlage seiner neuropsychologischen Forschung entwickelt. Sie beginnt mit der systemischen Beschreibung eines umfassenden Syndromkomplexes, um darauf aufbauend, unter Berücksichtigung anatomischer, physiologischer und biografischer Daten, zu einem Verständnis der Funktionalität der Symptome hinsichtlich bestimmter neurobiologischer, psychologischer oder sozio- kultureller Bedingungen zu gelangen, unter denen das Syndrom hervortritt (vgl. Jantzen 1998 (c), S. 354).
Der klassischen, defizitären Sichtweise von Syndromen als Ausfall, Fehler oder anderem pathologischen Geschehen stellt Lurija eine neuropsychologische Theorie komplexer funktioneller Systeme gegenüber, in der nicht das Fehlen von Hirnfunktionen als Ursache für das Auftreten eines bestimmten Symptomkomplexes gesehen wird (vgl. Jantzen 1999 (b), S. 32).
Wie bereits erwähnt, ist die Weiterentwicklung der Diagnostik und dem dazugehörigen Bild von Behinderung abhängig von aktuellen Forschungen und Erkenntnissen. Somit hat auch die von Lurija geprägte Syndromanalyse einen wichtigen Beitrag getan, einen Paradigmawechsel einzuleiten.
Was meint der Begriff der Syndromanalyse und welche Rolle spielt die dialektische Entschlüsselung? Die dialektische Entschlüsselung der Symptome soll die Pädagogin dazu befähigen, das ursprüngliche Syndrom zu erkennen und weitere Faktoren, die auf die Entwicklung des geistig Behinderten Menschen einwirken in Bezug zueinander zusetzten. Dialektische Entschlüsslung meint somit, dass nicht der physische „Defekt“ im Vordergrund steht, sondern die daraus resultierenden Symptome, die gravierenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung haben. Die Syndromanalyse bestimmt den Kern der Retardierung und verdeutlicht die veränderte Ausgangssituation im Verhältnis zu dem individuellen Bezugssystemen und zu dem Menschen in seiner (Um-) Welt, in der er lebt (vgl. Jantzen 1999 (b), S. 34).
[...]