1 Einleitung
1.1 Explikation und Bedeutung des Themas
„Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten“. (Aldous Huxley)
Dieses Zitat verdeutlicht, dass die Fähigkeit Texte zu verstehen, eine Schlüsselqualifikation darstellt; Lesekompetenz ist eine zentrale Voraussetzung für schulischen und beruflichen Erfolg und für die Teilhabe an vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Denn, wenn es Kindern gelingt, kompetent zu lesen, sind sie zum selbstständigen und kontinuierlichen Lernen fähig. Dieser Lernerfolg ist wiederum eine wesentliche Grundlage des Lebenserfolges.
Allerdings sind bei den durchgeführten PISA - und IGLU - Studien sowie den VERA - Vergleichsarbeiten, erhebliche Mängel im Leseverstehen deutscher Schülerinnen und Schüler festgestellt worden.
Seit der erstmaligen Durchführung der PISA-Studie 2000 haben die Ergebnisse zu einer öffentlichen und fachdidaktischen Diskussion zur Verbesserung der Lesekompetenz geführt, die bis heute gegenwärtig ist. Als wesentliche Erkenntnis hat sich dabei folgende Tatsache herausgestellt: „Lesestrategien leisten einen entscheidenden eigenständigen Beitrag zur Erklärung der Unterschiede in der Lesekompetenz.“ Die Bildungspolitik und die Autoren von Pisa haben daher die Vermittlung von Lesestrategien als eine zentrale Konsequenz zur Förderung der Lesekompetenz abgeleitet.
Jedoch wird diese Forderung im schulischen Unterricht kaum umgesetzt: „Nur etwa zwei Prozent der Instruktionszeit des Unterrichts wird auf den strategischen Umgang mit Texten verwendet.“ Die Gründe dafür sind vielfältig: Oft wissen Lehrende nicht, wie sie Lesestrategien entsprechend vermitteln sollen, denn in der Lehrerausbildung gehört die Didaktik und Methodik des Lesens nicht zu den Standardangeboten der Universitäten. Außerdem steht die Förderung der Lesemotivation eher im Mittelpunkt des Interesses. Maßnahmen, wie z.B. das Vorlesen oder die Einrichtung einer Leseecke werden von den Lehrkräften bevorzugt umgesetzt. Dies mag damit zusammenhängen, dass ein strukturiertes strategisches Lesen mit Anstrengung und einer zunächst konkreten Vermittlung verbunden ist, die vielerorts verpönt war und immer noch ist. Darüber hinaus sind die in den letzten Jahren vermehrt auf dem Markt erschienenen Lesestrategietrainingsprogramme oft nur isoliert und nicht fächerübergreifend einzusetzen.
Während meiner bisherigen Ausbildungszeit als Referendarin...
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Explikation und Bedeutung des Themas
1.2 Aufbau der Arbeit
2 Bezug zu relevanten Lehrerfunktionen
3 Theoretischer Hintergrund
3.1 Lesen und Lesekompetenz
3.2.1 Definition
3.2.2 Komponenten der Lesekompetenz
3.2 Lesestrategien
3.2.1 Definition
3.2.2 Klassifikation
3.3 Theorien zum Textverständnis
3.3.1 Kognitionspsychologisches Leseprozessmodell
3.3.2 Hierarchieniedrige und hierarchiehohe Prozesse
3.4 Klassifizierung von Texten
3.5 Gestaltung von Texten
4 Feststellung des Handlungsbedarfs
4.1 Strukturelle Bedingungen
4.1.1 Befragung des Kollegiums
4.2 Lerngruppe und Lernvoraussetzungen
4.2.1 Stolperwörter-Lesetest
4.2.2 Selbsteinschätzungsbogen
5 Darstellung und Begründung des Konzepts
5.1 Einbezug der Richtlinien und Lehrpläne
5.2 Darstellung und Begründung der Konzeptbausteine
5.2.1 Baustein 0: Diagnose
5.2.2 Baustein 1: Aufgaben Detektiv / Textdetektiv vergleichen
5.2.3 Baustein 2: Zieleinschätzung erproben
5.2.4 Baustein 3: Strategien kennen lernen und anwenden
5.2.4.1 Vermittlung der Strategien
5.2.4.2 Auswahl der Strategien
5.2.5 Baustein 4: Strategien üben
5.2.5.1 Materialtheke
5.2.5.2 Lesekonferenz
5.2.5.3 Leseportfolio
5.2.6 Baustein 5: Antolin helfen
5.2.6.1 Lesemotivation und Lesestrategien
5.2.6.2 Bücher und Lesestrategien
6 Evaluation und Reflexion
6.1 Evaluation
6.2 Reflexion und alternative Umsetzungsmöglichkeiten
7 Fazit und Ausblick
8 Literaturverzeichnis
9 Anhang
9.1 Lehrerfragebogen
9.2 Selbsteinschätzungsbogen
9.3 Diagnose und Evaluationsergebnisse der Selbsteinschätzungsbögen
9.4 Beobachtungsbogen
9.5 Textdetektiv-Leselupe
9.6 Textdetektiv-Leseplan
1 Einleitung
1.1 Explikation und Bedeutung des Themas
„Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten“. (Aldous Huxley)[1]
Dieses Zitat verdeutlicht, dass die Fähigkeit Texte zu verstehen, eine Schlüsselqualifikation darstellt; Lesekompetenz ist eine zentrale Voraussetzung für schulischen und beruflichen Erfolg und für die Teilhabe an vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Denn, wenn es Kindern gelingt, kompetent zu lesen, sind sie zum selbstständigen und kontinuierlichen Lernen fähig.[2] Dieser Lernerfolg ist wiederum eine wesentliche Grundlage des Lebenserfolges.
Allerdings sind bei den durchgeführten PISA[3] - und IGLU[4] - Studien sowie den VERA[5] - Vergleichsarbeiten, erhebliche Mängel im Leseverstehen deutscher Schülerinnen und Schüler festgestellt worden.[6]
Seit der erstmaligen Durchführung der PISA-Studie 2000 haben die Ergebnisse zu einer öffentlichen und fachdidaktischen Diskussion zur Verbesserung der Lesekompetenz geführt, die bis heute gegenwärtig ist. Als wesentliche Erkenntnis hat sich dabei folgende Tatsache herausgestellt: „Lesestrategien leisten einen entscheidenden eigenständigen Beitrag zur Erklärung der Unterschiede in der Lesekompetenz.“[7] Die Bildungspolitik und die Autoren von Pisa haben daher die Vermittlung von Lesestrategien als eine zentrale Konsequenz zur Förderung der Lesekompetenz abgeleitet.
Jedoch wird diese Forderung im schulischen Unterricht kaum umgesetzt: „Nur etwa zwei Prozent der Instruktionszeit des Unterrichts wird auf den strategischen Umgang mit Texten verwendet.“[8] Die Gründe dafür sind vielfältig: Oft wissen Lehrende nicht, wie sie Lesestrategien entsprechend vermitteln sollen, denn in der Lehrerausbildung gehört die Didaktik und Methodik des Lesens nicht zu den Standardangeboten der Universitäten.[9] Außerdem steht die Förderung der Lesemotivation eher im Mittelpunkt des Interesses. Maßnahmen, wie z.B. das Vorlesen oder die Einrichtung einer Leseecke werden von den Lehrkräften bevorzugt umgesetzt.[10] Dies mag damit zusammenhängen, dass ein strukturiertes strategisches Lesen mit Anstrengung und einer zunächst konkreten Vermittlung verbunden ist, die vielerorts verpönt war und immer noch ist.[11] Darüber hinaus sind die in den letzten Jahren vermehrt auf dem Markt erschienenen Lesestrategietrainingsprogramme oft nur isoliert und nicht fächerübergreifend einzusetzen.
Während meiner bisherigen Ausbildungszeit als Referendarin habe ich die dargestellte Problematik selbst erfahren. Eine Lesestrategievermittlung konnte ich während mehrerer Praktika oder Hospitationen nicht beobachten, erhebliche Mängel im Verständnis der Kinder beim Lesen von Texten oder Aufgabenstellungen jedoch täglich. Auch die Kolleginnen und Kollegen an meiner Ausbildungsschule finden ihren Eindruck von einer schwachen Lesekompetenz auf Seiten der Schülerinnen und Schüler in den Ergebnissen der durchgeführten Vergleichsarbeiten (VERA) bestätigt, was in pädagogischen Konferenzen zu einer Diskussion über Lösungsansätze führte. Diese offenkundig gewordene Problematik hinsichtlich der defizitären Förderung von Lesestrategien und des Fehlens geeigneter Trainingsprogramme, veranlasste mich zum Thema der vorliegenden Arbeit und somit zur Entwicklung eines Konzepts zur Vermittlung und Erprobung von Lesestrategien.
1.2 Aufbau der Arbeit
Zu Beginn wird ein Bezug zu den schwerpunktmäßig vorherrschenden Lehrerfunktionen hergestellt, die im Laufe der Arbeit an den entsprechenden Stellen kurz aufgezeigt werden (2).
Im darauf folgenden Teil (3) wird der theoretische Rahmen für das Konzept gesetzt. Dabei werden relevante Definitionen geklärt. Anschließend erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Komponenten der Lesekompetenz sowie der Klassifizierung und Bedeutung von Lesestrategien. Ferner wird unter Berücksichtigung von ausgewählten Theorien und Modellen aufgezeigt, wie Lesestrategien das Textverständnis unterstützen können. Anschließend analysiere ich die strukturellen Bedingungen der Schule wie auch der spezifischen Lerngruppe, indem Diagnosen zur Verwendung von Lesestrategien durchgeführt und der Handlungsbedarf festgestellt werden.
Kapitel (5) stellt zunächst einen Bezug zum Lehrplan und den Richtlinien her; anschließend werden die Bausteine des Konzepts erläutert und hinsichtlich didaktisch-methodischer Prinzipien begründet. Im Anschluss erfolgen Evaluation (7) und Reflexion, verbunden mit einer kritischen Betrachtung des Konzepts. Kapitel (8) stellt in einem Fazit die wesentlichen Punkte der Arbeit dar.
2 Bezug zu relevanten Lehrerfunktionen
Die Auseinandersetzung mit der vorliegenden Thematik beinhaltet schwerpunktmäßig die Lehrerfunktionen[12] „Unterrichten“, „Diagnostizieren“, „Innovieren und Kooperieren“ sowie „Evaluieren“, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen.
Weil die Erstellung eines Konzepts zur Vermittlung und Erprobung von Lesestrategien für die katholische offene Grundschule Wilhelm-Schreiber-Straße erstmalig erfolgt und in das Lesekonzept im Schulprogramm aufgenommen werden soll, hat die vorliegende Arbeit innovativen Charakter.
Im Rahmen einer Befragung in Form eines Fragebogens werden sowohl die fachlichen Vorerfahrungen im Bereich der Lesestrategien, als auch die Interessen der Kolleginnen und Kollegen abgefragt und berücksichtigt, so dass die Lehrerfunktionen „Innovieren, Kooperieren“ zum Tragen kommen.
Die Lehrerfunktion „Diagnostizieren“ ist vertreten, wenn unter Einsatz des Stolperwörter-Lesetests[13] und eines Selbsteinschätzungsbogens vor Durchführung des Konzepts in einem dritten Schuljahr die Lesekompetenzstufen sowie der Umgang mit Lesestrategien ermittelt werden.
Nach Durchführung des Konzepts wird der Selbsteinschätzungsbogen wiederholt eingesetzt, um die Effektivität der Vermittlung von Lesestrategien zu überprüfen, was der Lehrerfunktion „Evaluieren“ entspricht.
Bei der Erstellung eines Konzepts für den Unterricht ist die Lehrerfunktion „Unterrichten“ in besonderem Maße gefordert. Es werden die zu vermittelnden Inhalte, Methoden, Sozialformen und Materialien kritisch hinterfragt und didaktisch begründet.
3 Theoretischer Hintergrund
Im Folgenden soll auf die einzelnen Begrifflichkeiten näher eingegangen werden, welche die theoretische Grundlage für dieses Konzept bilden.
3.1 Lesen und Lesekompetenz
3.2.1 Definition
Lesen im Sinne von Lesefertigkeit wird von Lesekompetenz unterschieden.[14]
Lesefertigkeit bedeutet, Schriftzeichen als solche zu erkennen, ihnen Laute zuzuordnen und eine Buchstabenfolge in eine Lautfolge zu bringen (bzw. Grapheme in Phoneme umzusetzen). Die erlesenen Wörter müssen zu einem Satz zusammengefügt werden.[15]
Der Begriff Lesekompetenz (bzw. im anglo-amerikanischen Raum „reading literacy“) bezieht sich dagegen darauf, aus dem Geschriebenem den Sinngehalt zu entnehmen und damit auch auf die Verarbeitung und das Verstehen von ganzen Sätzen und Texten. Lesekompetenz ist somit „mehr als einfach nur lesen zu können.“[16] Es existieren jedoch zwei in der Literatur oft zitierte Definitionen mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen: Nach Pisa ist Lesekompetenz der „auf Verstehen, zielgerichtete Informationsentnahme, Reflektion und Bewerten ausgerichtete Umgang mit lebenspraktisch relevantem Textmaterial.“[17] Emotionale und soziale Prozesse, die bei literarischen Texten eine Rolle spielen, werden hier ausgeklammert. Im Gegensatz dazu definiert die Lesesozialisationsforschung Lesekompetenz als „Fähigkeit zum Textverständnis, zu der es gehört, dass sich emotionale Beteiligung und Anschlusskommunikation ergänzen und durchdringen.“[18] Beiden Definitionen ist gemeinsam, dass das Verstehen von Texten als konstruktiver wissensgesteuerter Prozess aufgefasst wird, in dem der Lesende die Inhalte aktiv mit seinem Vor- und Weltwissen in Verbindung setzt. Der individuelle Grad der Beherrschung dieses Prozesses macht die Lesekompetenz aus, die in fünf Lesekompetenzstufen (siehe Tabelle 1), von der Lesebasis bis zur Lesereflektion, unterteilt wird.[19]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Lesekompetenzstufen.
3.2.2 Komponenten der Lesekompetenz
Es wird in der Literatur diskutiert, welche Faktoren die Lesekompetenz entscheidend beeinflussen und für die Erklärung von individueller Leseleistung herangezogen werden können. Nach Pfaff (2001) setzt sich die Lesekompetenz aus dem Leseverstehen, der Lesefähigkeit und der Lesemotivation zusammen. Konsens herrscht hinsichtlich folgender Komponenten: Arbeitsgedächtnis, Intelligenz, metakognitives Wissen (Synonym: Metagedächtnis), Vorwissen, Dekodierfähigkeit, verbales Selbstkonzept und Lesemotivation.[20] Diese Begrifflichkeiten und ihre Bedeutung bezüglich der Lesekompetenz werden nun erörtert und im Anschluss mithilfe des INVO-Modells[21] in Beziehung gesetzt.
Das Arbeitsgedächtnis übt zentrale Funktionen der Informationsverarbeitung- und -speicherung aus. Es ist für die in Punkt 3.3.2 dieser Arbeit angesprochenen Prozesse der lokalen und globalen Kohärenzbildung von Texten verantwortlich. Das Leistungsvermögen des Arbeitsgedächtnisses kann jedoch kaum durch Training gesteigert werden. Die Dekodierfähigkeit bezeichnet das Erkennen von Wörtern und ihrer Zuordnung zu Bedeutungen. Defizite in diesem Bereich bedingen eine höhere Belastung des Arbeitsgedächtnisses und somit eine Verlangsamung des Textverstehensprozesses. Bereiche der Intelligenz bzw. der kognitiven Grundfähigkeit spielen eine wichtige Rolle für die Lesekompetenz und sind zum Teil über das inhaltliche Vorwissen sowie das metakognitive Wissen vermittelt.[22] Letzteres ist von großer Bedeutung im Zusammenhang mit Lesestrategien und wird in die Bereiche des Personen-, Aufgaben- und Strategiewissen differenziert; diese Unterteilung kann aus der nachfolgenden Tabelle entnommen werden:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Differenzierung des metakognitiven Wissens.
Das Vorwissen kann Defizite in hierarchieniedrigen Textverarbeitungsprozessen (vgl.3.3.2) kompensieren und weist somit eine hohe Relevanz bezüglich der Lesekompetenz auf.
Lesemotivation wird in intrinsische und extrinsische Komponenten unterschieden. Intrinsische Lesemotivation kann zum einen durch den Gegenstand, das Interesse am Thema geweckt werden; zum anderen kann die Tätigkeit des Lesens an sich – unabhängig vom Thema – positiv erlebt werden. Zudem zählen die eingeschätzte Wichtigkeit der Lesekompetenz, die Neugier sowie soziale Aspekte des Lesens zur intrinsischen Lesemotivation.
Extrinsische Lesemotivation wird durch die Folgen des Lesens bedingt: Dabei werden positive Konsequenzen angestrebt (z.B. Notensteigerung, Streben nach Anerkennung) oder versucht, negative Konsequenzen zu vermeiden (z.B. Notenminderung, Aspekte des sozialen Vergleichs).[24] Die bisherige Forschung zeigt, dass intrinsisch motiviertes Lesen mit einer tieferen Verarbeitung des Gelesenen einhergeht; die Lesemenge wird zudem positiv beeinflusst und eine erhöhte Lesemenge bewirkt ein gesteigertes Leseverständnis.[25] Aus diesen Ergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass neben der Fähigkeit zur Texterschließung mithilfe der Lesestrategien, der Erhaltung der Lesefreude ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. 5.2.6.2). Das verbale Selbstkonzept hat ebenso Einfluss auf die Lesekompetenz.[26] Damit ist gemeint, dass sich negative Leseerfahrungen (z.B. Probleme beim Verstehen von Texten) ungünstig auf das verbale Selbstkonzept auswirken, was die Lesemotivation negativ beeinträchtigt und aufgrund mangelnder Leseerfahrungen zu einer Minderung der Lesekompetenz führen kann.
Das oben erwähnte „INVO-Modell“ (vgl. Abbildung 1) stellt die individuellen Voraussetzungen des Lerners dar und lässt sich nach Gold (2006) ebenso auf die Lesekompetenz und das erfolgreiche Lernen aus Texten übertragen.[27]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Individuelle Voraussetzungen erfolgreichen Lernens (Hasselhorn, 2006, S.68.).
Demnach setzen erfolgreiche Leserinnen und Leser die Kapazitäten ihres Arbeitsgedächtnisses effizienter ein, sie vertrauen auf ihre Lesefähigkeit (vgl. positives Selbstkonzept) und gehen erfolgszuversichtlich und motiviert (vgl. Lesemotivation) an eine Leseaufgabe heran.[28] Zudem kennen und nutzen sie effektive Lesestrategien und wissen, wie, wann und warum sie solche Strategien einsetzen (vgl. Tabelle 2: Strategiewissen).
Zahlreiche empirische Studien haben durch einen Vergleich dieser Komponenten die große Bedeutung der Lesestrategien herausgestellt: „Der beste Prädiktor der Lesekompetenz ist die Intelligenz, welche jedoch direkt vom Lesestrategiewissen der Schüler/innen gefolgt wird.“[29]
Die Unterschiede in den Lesekompetenzen lassen sich also zu einem wesentlichen Teil auf mehr oder weniger stark ausgeprägtes deklaratives, prozedurales und generelles Lesestrategiewissen zurückführen.[30] Wichtig ist die Tatsache, dass die Intelligenz im Vergleich zu Lesestrategien kaum beeinflusst und trainiert werden kann.[31]
3.2 Lesestrategien
Den Lesestrategien, als mannigfaltigem Einflussfaktor auf die Lesekompetenz wird der folgende Abschnitt dieser Arbeit gewidmet.
3.2.1 Definition
Der Begriff Strategie stammt aus dem Griechischen und bedeutet Heeresführung“ (stratos = Heer,
agein =führen).[32] Lesestrategien werden in der Literatur oft im Zusammenhang mit Lernstrategien
genannt, wobei sie als eine Methode von Lernstrategien zu betrachten sind. Durch Lernstrategien kann das eigene Lernen hinsichtlich eines zu erreichenden Ziels bewusst gesteuert, strukturiert, reflektiert und somit positiv beeinflusst werden. Bestimmte Strategien (vgl. 3.2.2) erleichtern dabei unter anderem die Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung neuer Informationen.[33]
Bezüglich der Lesestrategien konkurrieren unterschiedliche Definitionen wie auch Klassifikationen.
Lesestrategien stellen eine konkret trainierbare Technik dar, die das Verstehen und Behalten von Textinhalten erleichtert, indem das Lesen effektiv gesteuert und gestaltet wird. Sie können zielführend und flexibel eingesetzt werden, zunehmend automatisiert ablaufen, aber dennoch bewusstseinsfähig bleiben.[34] Während die Lesemotivation erklärt, „ warum jemand liest, beschreibt die Lesestrategie, was er mit dem Gelesenen macht.“[35] Häufig findet sich in der Literatur fälschlicherweise der Begriff „Arbeitstechnik“ als Synonym zu Lesestrategien: der Unterschied beider Begrifflichkeiten liegt darin, dass eine „Arbeitstechnik“ nicht das Wissen über die grundlegende Funktion und „Warum“ der jeweiligen Vorgehensweise beinhaltet[36] (vgl. Tabelle 2: Strategiewissen).
3.2.2 Klassifikation
Lernstrategien lassen sich nach Weinstein und Mayer (1986) in kognitive und metakognitive Strategien sowie das Ressourcenmanagment unterscheiden. Da sich ressourcenbezogene Strategien (z.B. Zeitmanagement, Arbeitsplatzgestaltung etc.) eher auf die Vorbereitung auf eine Prüfung beziehen, spielen sie für den verstehenden Umgang mit Texten eine untergeordnete Rolle und werden deshalb nicht weitergehend erläutert.[37]
Lesestrategien lassen sich in kognitive und metakognitive Strategien differenzieren. Die kognitiven Strategien werden wiederum in Wiederholungs,- Organisations- und Elaborationsstrategien unterteilt.
Wiederholungsstrategien (Synonym: Memorierstrategien) dienen in erster Linie nicht dem Verstehen von Texten, sondern dem Behalten neuer Informationen, indem Textinhalte wiederholt werden (z.B. mehrmaliges Lesen, Auswendiglernen). Organisationsstrategien (bzw. ordnende Strategien, Reduktionsstrategien) ordnen, organisieren und reduzieren den Text auf die wichtigsten Informationen. Somit wird eine Verdichtung der Textvorlage erreicht und das Verstehen gefördert (z.B. Unterstreichen, Zusammenfassen, Auffinden von Oberbegriffen).[38] Elaborationsstrategien reduzieren den Text nicht, sondern reichern ihn mit Informationen an. Der Text wird mit eigenem Vorwissen verknüpft, was das Verstehen erleichtert (z.B. neue Überschriften finden, bildhaft vorstellen, Zusammenhänge herstellen, Beispiele ausdenken).[39]
Im Unterschied zu metakognitivem Wissen (vgl. Tabelle 2) beziehen sich metakognitive Strategien auf das Planen, Überwachen und Steuern des Leseprozesses. Es wird festgestellt, ob die zuvor angewendeten kognitiven Lesestrategien zum Erfolg geführt haben. Zur Planung gehören z.B. die Bestimmung des Leseziels, Formulierung von Fragen oder Aktivierung des Vorwissens. Überwachungsstrategien, (bzw. Kontroll-, Stützstrategien, monitoring) überwachen die Produktivität des Leseprozesses und Regulationsmechanismen treten ein, wenn ungünstige Leseverläufe durch Überwachung identifiziert und dann optimiert werden. Eine Überwachung des Lesens findet z.B. statt, wenn das Verstehen des Textes hinterfragt wird und bei Verständnisschwierigkeiten aufgrund der Regulation die Lesegeschwindigkeit verändert wird.[40] Diese genannten Strategien erleichtern das Verstehen und Behalten von Texten, (vgl.3.3.2) so dass Gold (2007) zwischen Verstehens- und Behaltensmethoden unterscheidet.[41]
Rosebrock (2011) nimmt eine zeitliche Unterteilung der Lesestrategien vor: Es gibt Strategien vor, während und nach dem Lesen.[42] Eine detaillierte Darstellung der einzelnen Strategien findet sich in Punkt 5.2.4 dieser Arbeit, weil dort die Beschreibung der Strategien sowie die didaktische Begründung der Auswahl integriert erfolgen können. An dieser Stelle werden lediglich die Begrifflichkeiten kurz erläutert.
Die Strategien vor dem Lesen dienen der Aktivierung des Vorwissens, der Formulierung von Erwartungen an einen Text und der Überprüfung der Textsorte. Das Beachten von Überschrift, Bildern, Fragen oder der Gliederung des Textes helfen, Vermutungen und Assoziationen herzustellen. Des Weitern können Fragen an den Text gestellt und ein Leseziel formuliert werden. Dadurch werden die Kinder ermutigt, motiviert am Text zu arbeiten und tiefer in das Thema einzudringen. Während des Lesens überprüfen die Schüler/-innen, wie sich der Inhalt des Textes mit ihrem Vorwissen verknüpft. Strategien dienen dem Verstehen einzelner Wörter, Sätzen und Absätze sowie dem Erkennen zentraler Aussagen eines Textes.
Nach dem Lesen wird geprüft, ob der Text sein „Versprechen“ eingelöst, die Vermutungen bestätigt hat und etwas Neues gelernt wurde. Je nach Leseabsicht können die zentralen Aussagen zusammengefasst, der Text tiefer gehend bearbeitet werden, indem er bewertet, verglichen, oder mit Erfahrungen, Beispielen, Skizzen etc. bereichert wird.[43] Diese Strategien dienen der thematischen Entfaltung eines Themas sowie einer (kritischen) Reflektion bzw. Bewertung des Textes.
Des Weiteren wird in der Leseforschung zwischen Lesestilen differenziert, die bei genauerer Betrachtung verschiedenen Lesestrategien zugeordnet werden können.
Ein überfliegendes Lesen ( bzw. Globalverstehen) findet statt, wenn sich die/der Lesende einen groben Überblick über Textthemen und -inhalte verschafft (vgl. 5.2.4 „Überflieger“). Selektives Lesen (Selektives Leseverstehen) bedeutet die entsprechend der Verstehensabsicht gezielte Suche nach relevanten Informationen oder Aspekten (vgl. 5.2.4 „Wichtiges unterstreichen“). Ein detailliertes Lesen (bzw. Detailverstehen) beinhaltet ein Hinterfragen der Textinformationen bezüglich einzelner Wörter und Sätze (vgl. 5.2.4 „Überwachung“).[44]
3.3 Theorien zum Textverständnis
Weil die Lesestrategien das Verstehen von Texten auf verschiedenen kognitiven Prozessen gezielt unterstützen können, soll im Folgenden auf diese Prozesse der Textverarbeitung eingegangen werden.
3.3.1 Kognitionspsychologisches Leseprozessmodell
Bezüglich der vielfältigen kognitionspsychologischen Ansätze zum Textverstehen herrscht Konsens, dass das Verstehen von Texten als kognitiv-aktive (Re)-konstruktion von Informationen definiert wird und eine Text-Leser-Interaktion stattfindet.[45] Gewählt wird nun das Leseprozessmodell der Kognitionsforschung in der Version von Kintsch (1974), welches das Vorgehen beim Textverstehen als komplexes Zusammenspiel von bottom-up (=aufsteigenden) und top-down (=absteigenden) Prozessen beschreibt.[46] Der top-down Prozess ist lesergesteuert, was bedeutet, dass der Leser den Text mithilfe seines Wissens deutet. Hierbei spielen die Lesestrategien vor dem Lesen (vgl. 5.2.4„Überflieger“, „Fragen stellen“) eine wichtige Rolle, weil das Vorwissen und die Vermutungen einen ersten Zugang zum Text ermöglichen. Zudem können die Strategien nach dem Lesen (vgl. 5.2.4 „Wichtiges Zusammenfassen, „Behalten überprüfen“) eingesetzt werden, weil der Text vom Leser interpretiert und rekonstruiert wird. Das bottom-up Vorgehen ist dagegen textgeleitet, d.h. der Leser entschlüsselt die im Text enthaltenen sprachlichen Informationen und gelangt über die Verarbeitung von Wörtern und Sätzen zur Textbedeutung. Die Lesestrategien während des Lesens (vgl. 5.2.4 „Überwachung, „Wichtiges Unterstreichen“) können hier helfen.[47]
Nach diesem Modell greifen gerade bei tieferem Verstehen beide Vorgehensweisen ineinander. Einen ersten Zugang zum Text eröffnen das Top-down Verfahren und das Vorwissen, die anschließend durch das bottom-up Verfahren ergänzt werden. Das Ziel dieser beiden Prozesse ist die Herstellung der Kohärenz, des inhaltlichen Zusammenhangs. Das Ergebnis der Kohärenz wird auch als Situationsmodell (Synonyme: mentales Modell, mentale Kohärenzbildung) bezeichnet: Jeder Leser versteht den Text individuell und es existiert kein Einheitsverständnis.[48]
3.3.2 Hierarchieniedrige und hierarchiehohe Prozesse
Wie im oberen Abschnitt beschrieben, ist das „Verstehen von Texten ein Prozess der mentalen Kohärenzbildung.“[49] Dabei wird zwischen lokaler und globaler Kohärenzbildung unterschieden.[50] Erstere entsteht, wenn ein semantischer Zusammenhang zwischen den unmittelbar aufeinander folgenden Sätzen hergestellt wird (=hierarchieniedriger Prozess). Die globale Kohärenzbildung hingegen bezeichnet die mentale Bildung semantischer Zusammenhange zwischen größeren Textabschnitten. Zudem ist der Leser in der Lage, den Text auf seine wichtigen Inhalte zu reduzieren und diese in Beziehung zu seinem Vorwissen zu setzen (=hierarchiehoher Prozess bzw. Herstellung von Makro- oder Substrukturen). Dieser Prozess lässt sich durch den Einsatz von Lesestrategien gezielt beeinflussen und optimieren. Übungen zur Lesefertigkeit (vlg.3.1.1) wirken dagegen nur auf die hierarchieniedrigen Prozesse ein.[51]
[...]
[1] Vgl. http://gs-reichertsberg.bildung-rp.de/lesen-schluessel-zu-grossen-Taten.htm.
[2] Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2008), S. 26.
[3] PISA= Programme for International Student Assessment. (http://de.wikipedia.org/wiki/PISA-Studien)
[4] IGLU= Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung. (http://de.wikipedia.org/wiki/IGLU-Studie)
[5] VERA=Vergleichsarbeiten (http://de.wikipedia.org/wiki/VERA_(Vergleichsarbeiten)
[6] Vgl. http://www.bmbf.de/pub/bildungsreform_band_siebzehn.pdf. S.30.
[7] Vgl. ebd. S.30.
[8] Vgl. Sasse et al. (2005), S.33.
[9] Vgl. Menzel (2002), S.22.
[10] Vgl. Pfaff (2011), S.102.
[11] Vgl. Kollenrott (2007), S. 55.
[12] Unter Lehrerfunktionen versteht man berufsbezogene Kompetenzen und Standards der Lehrerausbildung wie „professionelles Wissen, Reflexionsvermögen, Urteilsfähigkeit sowie die Erprobung und Einübung eines breiten Handlungsrepertoires“ (http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Schulrecht/Lehrerausbildung/Rahmenvorgabe_OVP.pdf)
[13] Der Stolperwörter-Lesetest dient zur Überprüfung der Lesegeschwindigkeit und –genauigkeit (Lesefertigkeit) sowie des sinnentnehmenden Lesen (Lesefähigkeit).
[14] Vgl. Groeben (2008), S, 53.
[15] Vgl. Hurrelmann (2002), S.10-21.
[16] Vgl. Schiefele (2004), S.139.
[17] Vgl. Baumert et al. (2001), S.23.
[18] Vgl. Pfaff (2011), S.43.
[19] Vgl. Kollenrott (2007), S.12-13.
[20] Vgl. http://www.bmbf.de/pub/bildungsreform_band_siebzehn.pdf. S.19.
[21] INVO= Individuelle Voraussetzungen erfolgreichen Lernens.
[22] Vgl. Schiefele (2004), S.283-285; Schreoblowski (2004), S.39-41.
[23] In dieser Tabelle wird das Strategiewissen hinsichtlich von Lesestrategien erläutert.
[24] Vgl. Groeben (2008), S.55-56.
[25] Vgl. http://www.bmbf.de/pub/bildungsreform_band_siebzehn.pdf. S.20.
[26] Vgl. Schiefele (2004), S.283.
[27] Vgl. Hasselhorn (2006), S.88; http://www.bmbf.de/pub/bildungsreform_band_siebzehn.pdf. S.30-32.
[28] Vgl. Gold (2007), S. 38.
[29] Vgl. Badel (2003), S.23.
[30] Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Strategie.
[31] Vgl. Hasselhorn (2006), S.91 ff. ; http://www.bmbf.de/pub/bildungsreform_band_siebzehn.pdf. S.19
[32] Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Strategie.
[33] Vgl. Hasselhorn (2006), S.91.
[34] Vgl. Schiefele (2004), S.131.; Bertschi-Kaufmann (2010), S.20.
[35] Vgl. Pfaff (2011), S.39.
[36] Vgl. Schiefele (2004), S.132.
[37] Vgl. ebd.
[38] Vgl. Gold (2006), S. 6.
[39] Vgl. Gold (2006), S.6; Gold (2007), S. 50.
[40] Vgl. http://www.standardsicherung.nrw.de/materialdatenbank/nutzersicht/materialeintrag.php?matId=2052. S.30-32; Gold (2007) S.48.
[40] Vgl. Bertschi-Kaufmann (2010), S.184-185; Bos (2003), S.73.
[41] Vgl. Gold (2007), S. 53.
[42] Vgl. Rosebrock (2011), S.84.
[43] Vgl. Bertschi-Kaufmann (2010), S.184.
[44] Vgl. Rosebrock (2003), S.76.
[45] Vgl. Schiefele (2004), S.286.
[46] Vgl. Gold (2007), S.19.; http://bildungsserver.berlinbrandenburg.de/fileadmin/bbb/unterricht/unterrichtsentwicklung/ Lesecurriculum/Lesestratgien/broschuere_leseNavigator.pdf. S.15.
[47] Vgl. Baurmann (2002), S.52-53
[48] Vgl. Schiefele (2004), S.173.
[49] Vgl. http://www.standardsicherung.nrw.de/materialdatenbank/nutzersicht/materialeintrag.php?matId=2052. S.21.
[50] Vgl. Gold (2007), S. 19.
[51] Vgl. Gold (2007), S.21.; Schiefele (2004), S.283 ff.