War der sozialdemokratische Machtverlust im Jahr 1982 das Resultat einer "falschen" - und zwar mit Blick auf das klassisch sozialdemokratische Wählerklientel falschen - Wirtschaftspolitik? Mit dieser Frage setzt sich diese Arbeit auseinander. Den theoretischen Rahmen bilden spieltheoretische Überlegungen Fritz W. Scharpfs.
Inhalt
1.Einleitung
1.1. Hintergrund: Ökonomische Krisen nach 1973
1.2. Zielsetzung und Aufbau der Arbeit
2. Theoretischer Rahmen
2.1. Ökonomische Handlungsbedingungen und -Optionen nach 1973
2.2. Politische Überlebenschancen von Regierungen unter den Krisenbedingungen
3. Sozialdemokratische Krisenpolitik 1974-76 und 1980-82
3.1. Sozialdemokratische Krisenpolitik 1980-82
3.2. Sozialdemokratische Krisenpolitik 1974-76
4. Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik 1974-1982 im Überblick
5. Schluss
Anhang
I. Untersuchungsansatz und Definitionen wichtiger Begriffe
II. Hypothesenprüfung
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Koordination staatlicher und gewerkschaftlicher Politik
1. Einleitung
1.1. Hintergrund: Ökonomische Krisen nach 1973
Aus wirtschaftlicher Sicht sind die fünfziger und sechziger Jahre der bundesrepublikanischen Geschichte vor allem vom „deutschen Wirtschaftswunder" geprägt worden, das seine Bezeichnung wegen des hohen Beschäftigungsstandes und des beinahe ununterbrochenen Wirtschaftsaufschwungs während dieser Jahrzehnte erhielt. Mit einer kurzen Ausnahme - der Rezession 1966/67 - kann die Bundesrepublik bis 1973 im Wesentlichen Vollbeschäftigung vorweisen. Zu dieser wirtschaftlich ausgesprochen positiven Stimmung gesellt sich mit Amtsantritt der ersten sozialdemokratisch geführten Bundesregierung 1969 eine regelrechte Reformeuphorie, personifiziert in Bundeskanzler Willy Brandt. Nach dem Ausbruch der ersten Ölkrise im Jahr 1973 wandelt sich dieses Bild jedoch. Hohe Inflationsraten, drastische Beschäftigungsverluste am Arbeitsmarkt sowie sinkendes Wirtschaftswachstum stürzen die Bundesrepublik 1975 in die bis dato schwerste Rezession der Nachkriegsgeschichte. Das Jahr markiert rückblickend gleichsam einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte. Die Phase der Vollbeschäftigung endet, die der Massenarbeitslosigkeit beginnt. Mit Beginn der Kanzlerschaft Helmut Schmidts 1974 wird die politische Tagesordnung nicht mehr von Reformpolitik, sondern vielmehr vom so genannten Krisenmanagement bestimmt. Zwar stabilisiert sich die Wirtschaftslage in den folgenden Jahren wieder, doch bereits Anfang der achtziger Jahre kommt es infolge des zweiten Ölpreisschocks 1979 zu einer neuerlichen, noch schwereren Rezession, die erneut zu einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik führt.
Diese wirtschaftlich äußerst schwierigen Bedingungen machten das Regieren für die von der SPD geführten „sozialliberalen Koalition" zu einem wahren Drahtseilakt. Um an der Macht zu bleiben, musste die Regierung zu einer Politik finden, welche in der Lage war, die ökonomischen Krisenherde Inflation, Arbeitslosigkeit und Konjunkturschwäche gleichermaßen einzudämmen. Als dies offensichtlich nicht mehr gelang, mussten die Sozialdemokraten nach dreizehn Jahren an der Spitze der Regierung im Jahr 1982 die Macht wieder an die Union abgeben, nachdem sich der liberale Koalitionspartner FDP zugunsten einer Regierungskoalition mit CDU und CSU entschlossen hatte. Aufgrund der ökonomischen Krisen stand die Wirtschaftpolitik während der sozialliberalen Regie rungsära zwischen 1974 und 1982 im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung. Kern der Debatte war ein Streit, mit welcher Wirtschaftspolitik den Krisen am besten beizukommen sei.
1.2. Zielsetzung und Aufbau der Arbeit
Für die politologische Teildisziplin „Wirtschaft und Gesellschaft", die an Zusammenhängen zwischen ökonomischen und politischen Variablen interessiert ist, bietet der Zeitraum von 1974 bis 1982 - die Kanzlerschaft Helmut Schmidts - ein umfangreiches Forschungsfeld. Anlässlich der Vielzahl ökonomischer Einflussvariablen, bedingt durch die wirtschaftlichen Krisen, kann eine ganze Reihe möglicher Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik analysiert werden. Die folgende Untersuchung möchte feststellen, ob zwischen der Wirtschaftpolitik der sozialdemokratischen bzw. sozialliberalen Regierung und dem Machtwechsel 1982 ein Zusammenhang besteht. Konkret lautet die Fragestellung: War der sozialdemokratische Machtverlust 1982 das Resultat einer falschen Wirtschaftspolitik? Dabei zielt die Forschungsfrage nicht darauf ab, ob die Wirtschaftpolitik der SPD-Regierung bezüglich ihrer Wirkung auf ökonomische Ergebnisse (wie die Höhe der Arbeitslosenzahlen oder der Inflationsrate) als falsch einzustufen ist. Die Arbeit möchte nicht, dies sei ausdrücklich erwähnt, die Leistungsbilanz der sozialliberalen Koalition auf dem Feld der Wirtschaftspolitik bewerten. Vielmehr wird untersucht, ob die Wirtschaftpolitik der Regierung Schmidt mit Blick auf das sozialdemokratische Wählerklientel und den Erhalt der politischen Macht als falsch einzustufen ist. Die Forschungsfrage bezieht sich darauf, ob eine unter diesen Gesichtspunkten „falsche" Wirtschaftspolitik in Zusammenhang mit dem sozialdemokratischen Machtverlust 1982 steht.
Hierzu wird in Kapitel 2 (in Anlehnung an SCHARPF 2000, bzw. 1988) zunächst ein theoretisches Modell entwickelt, das die ökonomischen Handlungsbedingungen und -optionen sowie die politischen Überlebenschancen von Regierungen unter den wirtschaftlichen Krisenbedingungen nach 1973 integriert. Auf dieser Grundlage wird in den folgenden zwei Kapiteln untersucht, ob zwischen der Wirtschaftpolitik der SPD-Regierung und ihrem Machtverlust 1982 ein Zusammenhang besteht. Hierfür werden theoretische Annahmen, die aus Kapitel 2 gewonnen werden konnten, und die tatsächlich von der Regierung Schmidt verfolgte Wirtschaftspolitik zueinander in Beziehung gesetzt. Um Miss- Verständnisse zu vermeiden, befindet sich im ersten Abschnitt des Anhangs der Arbeit eine Übersicht, in der grundlegende Begriffe definiert werden.
2. Theoretischer Rahmen
2.1. Ökonomische Handlungsbedingungen und -Optionen nach 1973
Das dominierende ökonomische Problem, dem sich die Industriestaaten in den siebziger Jahren gegenübersahen, war die Stagflation’ (vgl. SCHARPF 2000: 362), „(d)as Phänomen simultan existierender Arbeitslosigkeit und Inflation" (GOßNER 1985: 3). Die makroökonomische Wirtschaftspolitik und ihre beiden wichtigsten Instrumente, die Geld- und Fiskalpolitik, war auf die Stagflationskonstellation nach der Ölkrise 1973 nicht eingestellt (vgl. ebd.: 363). Unter Stagflationsbedingungen bedeutete dies für Regierungen, dass sie entweder mit einer expansiven Geld- und Fiskalpolitik die Arbeitslosigkeit, oder aber mit einer restriktiven Geld- und Fiskalpolitik die steigenden Inflationsraten bekämpfen konnte (vgl. ebd.). Sie konnte allerdings nicht gegen beide Probleme gleichzeitig vorgehen (vgl. ebd.). Half eine expansive Geld- und Fiskalpolitik beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, so schadete sie bei der Inflationsbekämpfung (vgl. ebd.). Umgekehrt war eine restriktive Geld- und Fiskalpolitik ein nützliches Instrument zur Sicherung der Preisstabilität, schadete aber wiederum beim Kampf gegen Arbeitslosigkeit (vgl. ebd.). Versuchte eine Regierung eines der Probleme zu bekämpfen, verschlimmerte sie das jeweils andere sogar noch (vgl. ebd.). Dieses Grundproblem ließ sich nur dann in den Griff bekommen, wenn die Wirtschaftspolitik Einfluss auf die Kostenentwicklung der Unternehmen ausüben konnte (vgl. ebd.: 364). Das wichtigste Mittel hierfür war die Beeinflussung der Lohntarife (vgl. ebd.). Die Wirtschaftspolitik des Staates musste, um die Unternehmen von Kostendruck zu entlasten und um die steigenden Inflationsraten zu bremsen, auf gemäßigte Lohnsteigerungen drängen (vgl. ebd.: 364f.). Praktisch im Gegenzug hierfür konnte eine Regierung, die durch eine moderate Lohnpolitik vom Kampf gegen die Inflation befreit war, eine expansive Geld- und Fiskalpolitik für den Kampf gegen Arbeitslosigkeit bzw. für den Kampf um Vollbeschäftigung einsetzen (vgl. ebd.: 365). Für SCHARPF (2000: 365) war diese „optimale ,Konzertierung’" zwischen staatlicher und gewerkschaftlicher Politik der einzige Weg, um unter den Stagflationsbedingungen der siebziger Jahre sowohl eine Explosion der Arbeitslosigkeit, als auch ein Eskalieren der Inflationsraten zu verhindern. Setzten die Gewerkschaften allerdings auf eine offensi- ve Lohnpolitik, so musste die Inflation steigen, während es umgekehrt zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit kam, wenn Regierungen nicht willens waren, eine expansive Geld- und Fiskalpolitik zu verfolgen (vgl. ebd.). Diese Sachlage lässt sich in einer Vierfeldriegen „wirtschaftspolitischen Problemmatrix“ darstellen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Koordination staatlicher und gewerkschaftlicher Politik
Nun kann vermutet werden, dass eine sozialdemokratische (Arbeiter-) Regierung, deren wirtschaftspolitisches Primärziel die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit darstellt (vgl. Anhang I), unter diesen Bedingungen in erster Linie eine expansive Geld- und Fiskalpolitik zur Herstellung von Vollbeschäftigung präferier- te. Aus sozialdemokratischer Perspektive war unter den Krisenbedingungen nach 1973 eine expansive (hier definiert als „keynesianische“) Wirtschaftspolitik daher als „richtig“ einzustufen, da sie dem wirtschaftspolitischen Primärziel einer Arbeiter-Regierung - Vollbeschäftigung - entsprach. Ein restriktiver wirtschaftspolitischer Kurs war unter denselben Gesichtspunkten aus sozialdemokratischer Sicht hingegen als „falsch“ zu begreifen, da er dem Kampf um Vollbeschäftigung zuwiderlief. Da Regierungen in modernen Konkurrenzdemokratien jedoch sowohl für Arbeitslosigkeit, als auch für Inflation verantwortlich gemacht werden (vgl. SCHARPF 2000: 371), musste eine Eindämmung der Inflation ebenso im Interesse einer Regierung sein. Von diesem Standpunkt aus betrachtet war Feld 1 der wirtschaftspolitischen Problemmatrix (die „optimale ,Konzertierung’“, expansive Finanzpolitik seitens der Regierung und moderate Lohnforderungen seitens der Gewerkschaften) die wirtschaftspolitisch beste Position einer Regierung.
2.2. Politische Überlebenschancen von Regierungen unter den Krisenbedingungen
Um das wirtschaftspolitische Handeln einer Regierung erklären zu können, reichen die bisherigen Annahmen allerdings nicht aus. Neben den ökonomischen Rahmenbedingungen, muss auch die Rolle der Wählerschaft berücksichtigt werden. Da unterstellt werden darf, dass Regierungen mit ihrer Wirtschaftspolitik eine möglichst breite Wählerschaft ansprechen wollen, um Wahlen zu gewinnen, muss das theoretische Modell um die Präferenzen und Reaktionen der Wählerschaft bezüglich einer bestimmten Wirtschaftspolitik erweitert werden (vgl. hierzu auch SCHARPF 2000: 378). Des Weiteren wird in Anlehnung an SCHARPF (2000: 378-382) unterstellt, dass verschiedene sozioökonomische Wählerschichten von einer bestimmten Wirtschaftspolitik unterschiedlich „getroffen werden". Die Unterschicht, deren Angehörige von relativ unsicheren Arbeitsplätzen oder staatlichen Sozialleistungen abhängig sind, profitieren am stärksten von einer „keynesianischen" Wirtschaftspolitik (vgl. ebd.: 378f.), die durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik die Sicherung von Arbeitsplätzen zu gewährleisten sucht und den Sozialhaushalt unberührt lässt (vgl. Anhang I). Umgekehrt wird die Unterschicht von einer monetaristischen Wirtschaftspolitik, die ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit sowie Kürzungen der Sozialleistungen zur Folge hat, am schlimmsten getroffen (vgl. ebd.: 379). Die Angehörigen der Oberschicht, welche große Teile ihres Einkommens aus Unternehmertätigkeiten und Vermögensbeständen beziehen, bevorzugen hingegen einen monetaristi- sche Wirtschaftspolitik (vgl. ebd.) und fürchten eine keynesianische Politik, da diese „die inflationäre Entwertung von Geldvermögen in Kauf nimmt" (ebd.). Weiterhin kann angenommen werden, dass politische Parteien - je nach Richtung - unterschiedliche Wählerschichten ansprechen bzw. auf verschiedenen Klassenbasen aufbauen (vgl. ebd.: 380; Anhang I). Während eine Arbeiterpartei’ in erster Linie von der Unterschicht unterstützt wird, spricht eine bürgerliche Partei’ vor allem die obere sozioökonomische Schicht an (vgl. ebd.). Regierungen gleich welcher politischen Richtung (Arbeiter- oder Bürgerliche Regierung) identifizieren sich mit den Präferenzen ihrer Stammwählerschaft und favorisieren deswegen eine Wirtschaftspolitik, die diesen gerecht wird (vgl. ebd.). Um den Interessen ihrer Stammwählerschaft zu entsprechen, hätte sich eine Arbeiter-Regierung unter den ökonomischen Bedingungen der siebziger Jahre daher stets für eine keynesianische Wirtschaftspolitik aussprechen müssen (vgl. ebd.).
Um Wahlen zu gewinnen, ist eine Regierung aber auch auf die Unterstützung der Mittelschicht angewiesen (vgl. ebd.: 381). Da die Mittelschicht von Inflation und Arbeitslosigkeit gleichermaßen getroffen werden kann, wird ihr keine grundsätzliche Präferenz für eine bestimmte Wirtschaftspolitik unterstellt (vgl. ebd.). Ihre Reaktion auf den wirtschaftspolitischen Kurs einer Regierung ist vielmehr von der Lage, in der sich die Wirtschaft befindet, abhängig (vgl. ebd.). In Anlehnung an SCHARPF (2000: 381) wird unterstellt, dass die Mittelschicht positiv auf eine Situation reagiert, in der Arbeitslosigkeit und Inflation niedrig sind (vgl. Feld 1 der Problemmatrix) während ihre Reaktion negativ ausfällt auf eine Situation, in der hohe Arbeitslosigkeit und hohe Inflation vorliegen.
Die politischen Überlebenschancen einer Regierung unter den Krisenbedingungen nach 1973 lassen sich aufzeigen, wenn das theoretische Modell die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und die Annahmen über die Präferenzen der Wählerschichten verknüpft (vgl. hierzu auch SCHARPF 2000: 382386). Hierzu wird die Vierfeldriege wirtschaftspolitische Problemmatrix, welche die ökonomischen Bedingungen und Handlungsoptionen festlegt und die erwarteten Reaktionen der Wählerschichten kombiniert. So kann aufgezeigt werden, dass die politischen Überlebenschancen einer Arbeiter-Regierung von Feld zu Feld unterschiedlich groß ausfallen.
Feld 1 des Modells (niedrige Arbeitslosigkeit, mäßige Inflation, bei moderater Lohnpolitik seitens der Gewerkschaften) bietet einer Arbeiter-Regierung die optimalen ökonomischen Bedingungen, um politisch zu überleben (vgl. ebd.: 382), d.h. an der Macht zu bleiben. Die Interessen der Stammwählerschaft sowie die eigenen wirtschaftspolitischen Präferenzen werden zufrieden gestellt (vgl. ebd.). Überdies hat auch die Mittelschicht keinen Anlass, die Regierung abzuwählen. Verfolgen die Gewerkschaften aber eine offensive Lohnpolitik, bei gleichzeitig expansiver Politik seitens der Regierung (Feld 2 des Modells), verschlechtern sich die politischen Überlebenschancen einer Arbeiter-Regierung (vgl. ebd.: 384). Zwar kann die Regierung den Interessen ihrer Stammwähler genügen, doch ist mit einer negativen Reaktion der Mittelschicht auf die steigenden Inflationsraten zu rechnen (vgl. ebd.). Für die Mittelschicht bietet sich die bürgerliche Opposition in dieser Situation als brauchbare Alternative an (vgl. ebd.). Feld 3 des Modells (hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Inflation) hat einen doppelköpfigen Charakter (vgl. ebd.: 385). Das politische Überleben einer ArbeiterRegierung ist hier äußerst unsicher.
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