Der Utilitarismus nach Mill angewendet auf die Yasuni-ITT-Initiative der ecuadorianischen Regierung
Zusammenfassung
Doch wie kann in dieser Debatte eine Entscheidung getroffen werden? Klar scheint zu sein, dass es sich hierbei um zwei moralische Probleme handelt. Soll das Öl auf Kosten der Pflanzen- und Tierwelt sowie der indigenen Völker gefördert werden oder nicht? Und auf der anderen Seiten: Soll so ein Projekt von der internationalen Gemeinschaft finanziell unterstützt werden oder nicht?
Warum sollte nicht versucht werden, mit Hilfe einer bekannten Moralphilosophie eine Antwort auf diese Fragen zu finden, um im Anschluss eine Entscheidung treffen zu können?
Diese Arbeit soll daher Mills Grundsatz des Nützlichkeitsprinzip auf das praktische Problem der Yasuni-Debatte anwenden, um eine Entscheidung treffen zu können, ob das Öl im Nationalpark gefördert werden soll und ob die Industrieländer in den Fond des ITT-Projekts einzahlen sollen oder nicht. Dazu wird zunächst der Yasuni-Nationalpark und die ITT-Initiative der ecuadorianischen Regierung vorgestellt (2.), um alle Seiten des Yasuni-Nationalparks, die bei der Entscheidung berücksichtigt werden müssen, vorzustellen, und auch, um die Beweggründe der ecuadorianischen Regierung, die ITT-Initiative ins Leben zu rufen, zu erläutern. Darauf, folgt eine Zusammenfassung des Nützlichkeitsprinzip nach Mill (3.), welches daraufhin auf die Yasuni-Debatte angewendet werden soll (4.). Hierbei wird vor allem nach der Qualität einer Handlung durch die competent judges entschieden, ob diese einer Anderen vorzuziehen ist. Abschließend soll diese Arbeit eine Empfehlung geben können, ob die internationale Gemeinschaft in der Fond der ITT-Initiative einzahlen sollte (5.). Dabei werden vor allem die Argumente des deutschen Entwicklungsministers Dirk Niebel, der sich gegen die Unterstützung der Initiative ausdrückt, mit Hilfe des Nützlichkeitsprinzips nach Mill untersucht.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Yasuni Nationalpark und die ITT-Initiative
3. Nützlichkeitsprinzip
4. Der Utilitarismus nach Mill angewendet auf die Yasuni-Debatte
5. Eine Empfehlung für die internationale Gemeinschaft
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im Yasuni-Nationalpark in Ecuador, der zu den artenreichsten Gebieten der Erde gehört, wurden nach Probebohrungen die drei Ölfelder Ishpingo, Tambococha und Tiputini (ITT)1 entdeckt. Mit den Einnahmen aus der Ölförderung könnten verschiedene Projekte finanziert werden, die der Wirtschaft und dem Sozialwesen des Entwicklungslandes zugute kommen würden. Jedoch würde dadurch die Tier- und Pflanzenwelt sowie die im Yasuni-Nationalpark lebenden indigenen Völker gefährdet werden. Die Frage, die sich die Politiker in Ecuador stellen müssen, ist daher folgende: Soll das Öl gefördert werden oder nicht?
Eine Entscheidung zu treffen, fällt der ecuadorianischen Regierung aufgrund dieser Situation schwer. Deshalb schlugen die lateinamerikanischen Politiker im Jahr 2007 vor, das Öl nicht zu fördern, wenn als Gegenleistung von der internationalen Gemeinschaft ein Kompensationsbetrag von mindestens 50% des entgangenen Umsatzes gezahlt wird.2
Die von der ecuadorianischen Regierung vorgeschlagene ITT-Initiative, die nach den drei gefundenen Ölfelder benannt wurde, findet im eigenen Land viele Anhänger. Umfragen zufolge unterstützen 80% der Bevölkerung das Projekt zur Erhaltung der Artenvielfalt und des Lebensraums der indigenen Völker.3 Schließlich würden damit die finanziellen Schulden der südlichen Entwicklungsländer mit den ökologischen Schulden der nördlichen Industrieländer ausgeglichen werden. Die Idee, die dahinter steht, wurde von lateinamerikanischen Umweltaktivisten in den 1980er-Jahren entwickelt und unter dem Namen 'Ökoschulden' zusammengefasst. In der Theorie haben alle Menschen ein Recht an der Atmosphäre und an der Umwelt. Aber in der Praxis nehmen die Industrieländer einen überproportionalen Anteil dieses Rechts in Anspruch, weshalb von den Entwicklungsländern Ausgleichszahlungen für das entgangene Recht an der Atmosphäre und der Umwelt gefordert werden können.4
In Europa hingegen stößt der Vorschlag nicht nur auf Befürworter, sondern auch auf erheblichen Widerstand. Schließlich wird mit dem Unterstützen der ITT-Initiative „die Unterlassung der Ölförderung“5 belohnt. Der deutsche Entwicklungsministers Dirk Niebel fragt sich daher zurecht, ob man wollen kann, dass die Unterlassung einer Handlung finanzielle Unterstützung erfahren soll. Er wehrt sich daher strikt gegen die Initiative der ecuadorianischen Regierung, um keinen Präzedenzfall für andere Länder zu schaffen.6
Doch wie kann in dieser Debatte eine Entscheidung getroffen werden? Klar scheint zu sein, dass es sich hierbei um zwei moralische Probleme handelt. Soll das Öl auf Kosten der Pflanzen- und Tierwelt sowie der indigenen Völker gefördert werden oder nicht? Und auf der anderen Seiten: Soll so ein Projekt von der internationalen Gemeinschaft finanziell unterstützt werden oder nicht?
Warum sollte nicht versucht werden, mit Hilfe einer bekannten Moralphilosophie eine Antwort auf diese Fragen zu finden, um im Anschluss eine Entscheidung treffen zu können?
Der Utilitarismus besagt, dass Handlungen moralisch richtig sind, wenn sie die Tendenz haben, Glück zu fördern, und moralisch falsch, wenn sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück, also Unglück, zu bewirken.7 John Stuart Mill führt eine Ergänzung an, in der er sich von seinen Vordenkern unterscheidet. Er bringt an, dass zwischen zwei Handlungen nicht nur danach entschieden werden soll, welche die höhere Quantität von Lust, sondern auch, welche die höhere Qualität aufweist.
Diese Arbeit soll daher Mills Grundsatz des Nützlichkeitsprinzip auf das praktische Problem der Yasuni-Debatte anwenden, um eine Entscheidung treffen zu können, ob das Öl im Nationalpark gefördert werden soll und ob die Industrieländer in den Fond des ITT-Projekts einzahlen sollen oder nicht. Dazu wird zunächst der Yasuni-Nationalpark und die ITT-Initiative der ecuadorianischen Regierung vorgestellt (2.), um alle Seiten des Yasuni-Nationalparks, die bei der Entscheidung berücksichtigt werden müssen, vorzustellen, und auch, um die Beweggründe der ecuadorianischen Regierung, die ITT-Initiative ins Leben zu rufen, zu erläutern. Darauf, folgt eine Zusammenfassung des Nützlichkeitsprinzip nach Mill (3.), welches daraufhinaufdie Yasuni-Debatte angewendet werden soll (4.). Hierbei wird vor allem nach der Qualität einer Handlung durch die competent judges entschieden, ob diese einer Anderen vorzuziehen ist. Abschließend soll diese Arbeit eine Empfehlung geben können, ob die internationale Gemeinschaft in der Fond der ITT-Initiative einzahlen sollte (5.). Dabei werden vor allem die Argumente des deutschen Entwicklungsministers Dirk Niebel, der sich gegen die Unterstützung der Initiative ausdrückt, mit Hilfe des Nützlichkeitsprinzips nach Mill untersucht.
2. Yasuni Nationalpark und die ITT-Initiative
Der Yasuni Nationalpark in Ecuador liegt zwischen den beiden Flüssen Napo und Curaray und wurde nach dem gleichnamige Fluss Yasuni, der ein Nebenfluss des Napo ist und zu dem Nationalpark gehört, benannt.8 Nachdem die ecuadorianische Regierung das Gebiet mit einer Fläche von 9820 km² 1979 zum Nationalpark erklärte, wurde Yasuni 1989 von der UNESCO zum Biospährenreservat ausgezeichnet. Der Grund dafür liegt darin, dass Yasuni als einer der Orte mit der umfangreichsten Artenvielfalt weltweit gilt.9
Bei drei Probebohrungen im Nationalpark Yasuni wurden die drei Ölquellen Ishpingo, Tambococha und Tiputini (ITT)10 entdeckt. Insgesamt belaufen sich die Schätzungen auf eine mögliche Förderung von 840 Millionen Barrel Öl.11 Diese Entdeckung stellt die ecuadorianische Regierung vor eine schwere Entscheidung:
Ecuador ist ein sehr armes Land und würde durch die Einnahmen, die getätigt werden könnten, wenn man der Ölindustrie erlaubt, das Öl zu fördern, in der Lage sein, verschiedene soziale Projekte zu fördern, bzw. ins Leben zu rufen, und die Wirtschaft anzukurbeln. Somit würde sich auf lange Sicht die Situation der ecuadorianischen Bevölkerung verbessern.
Auf der anderen Seite versprach die ecuadorianische Regierung, das Gebiet zu schützen, als sie Yasuni 1979 zum Nationalpark erklärte. Unter diesen Schutz fallen verschiedene Tier- und Pflanzenarten, wobei hier nur einige genannt werden sollen: Im Yasuni Nationalpark findet man 2274 verschiedene Baum- und Buscharten und 593 registrierte Vogelarten. Insgesamt gesehen konzentriert sich in Yasuni die höchste Dichte von Amphibien-, Säugetier-, Vogel- und Pflanzenarten im ganzen Amazonasgebiet. Zudem gibt es nirgendwo auf der Welt mehr Insektenarten als hier.12
Des Weiteren leben im Yasuni Nationalpark zwei indigene Gruppen, die in freiwilliger Isolation und damit abgeschieden von der restlichen Welt leben. Die Tagaeri und Taromenane, die zur Ethnie der Huaorani gehören, sind bereits durch die so genannte Holzmafia bedroht, und würden ebenso wie die Flora und Fauna durch die Ausbeutung der vorhandenen Ölfelder wahrscheinlich dem Untergang geweiht sein.13
Die Entscheidung, die die ecuadorianische Regierung treffen muss, ist damit schnell formuliert. Entweder die Politiker lassen zu, dass das Öl gefördert wird und gefährden damit die Tier- und Pflanzenwelt sowie die indigenen Völker. Oder sie belassen das Öl in der Erde und vermeiden damit die Zerstörung des Yasuni Nationalparks und das Ausstoßen von 407 Millionen Tonnen CO².14 Damit würde ihr allerdings ein Millardengeschäft entgehen, dessen Einnahmen das Entwicklungsland gut gebrauchen könnte.15
Um sich in dieser misslichen Lage nicht entscheiden zu müssen, hat die ecuadorianische Regierung im Jahr 2007 vorgeschlagen, das Öl im Yasuni Nationalpark nicht von der Ölindustrie fördern zu lassen und somit die biologische Vielfalt, wie auch die indigenen Völker zu schützen.16 Als Gegenleistung wird von der internationalen Gemeinschaft ein Kompensationsbetrag von mindestens 50% des entgangenen Umsatzes durch die Nicht-Förderung des Öls, etwa 3,6 Milliarden US-Dollar,17 verlangt.18 Die Einnahmen der ITT-Initiative soll, so die Selbstverpflichtung der ecuadorianischen Regierung, nur in soziale und ökologische Projekte investiert werden.19
3. Nützlichkeitsprinzip
Das Prinzip des größten Glücks, nämlich das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen zu erreichen, ist bei den Utilitaristen die Grundlage der Moral. Handlungen sind daher moralisch richtig, wenn sie die Tendenz haben, Glück zu fördern, und moralisch falsch, wenn sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken.20
Die Autoren, die die Nützlichkeitstheorie vertreten haben, wie Epikur, Bentham und auch Mill, verstehen unter Glück Lust und das Freisein von Unlust und unter Unglück, bzw. dem Gegenteil von Glück, Unlust und das Fehlen von Lust. Die Lust, bzw. das Freisein von Unlust, sind nach utilitaristischer Auffassung die einzigen Dinge, die als Endzwecke der Moral zu wünschen sind. Alle anderen Dinge sind nur deshalb wünschenswert, weil sie selbst lustvoll sind oder weil sie ein Mittel zum Zweck der Beförderung von Lust und zur Vermeidung von Unlust sind.21
Mill führt zu den allgemein anerkannten Prinzipien des Utilitarismus einen neuen Standpunkt an. Er argumentiert dafür, dass einige Arten der Freude wünschenswerter und wertvoller sind als andere. Der Wert einer Freude hängt damit nicht ausschließlich von der Quantität ab, sondern auch von der Qualität.22 Das heißt, dass nicht nur das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen als erstrebenswertes Ziel gilt, sondern auch, dass das größtmögliche Glück möglichst eine hohe Qualität haben soll.
Diese Qualität der Lust wird bestimmt, indem man zwei Freuden gegenüber stellt. Die Lust, welche von allen oder fast allen, die beide erfahren haben, bevorzugt wird, ist die Lust mit der höheren Qualität. Dabei ist nicht entscheidend, ob eine der beiden der anderen aus moralischen Überlegungen vorzuziehen wäre. Dies gilt nicht nur für Lustempfindungen, sondern auch für Schmerzempfindungen, die es zu vermeiden gilt.23
Bei der Bewertung von Lust übersteigt die Qualität die Quantität, wenn eine von zwei Freuden so weit über die andere gestellt wird, dass man sie auch dann noch der anderen vorziehen würde, wenn sie größere Unzufriedenheit hervorrufen würde und die Mehrzahl der Menschen sie nicht gegen noch so viele andere Freuden eintauschen würde.24
Die competent judges, welche von zwei Lustempfindungen oder auch Schmerzempfindungen beide erfahren haben und ein Urteil darüber fällen, welche der beiden eine höhere Qualität hat, dürfen in ihrer Entscheidung nicht angezweifelt werden. Falls es der Fall sein sollte, dass die Meinungen der competent judges auseinander gehen, dann wird der Freude die höchste Qualität zugesprochen, der die Mehrheit unter den competent judges zustimmen würde. Gegen jegliches Urteil darf laut Mill keine Berufung eingelegt werden.25
Das Prinzip des größten Glücks, das gleichzeitig auch die Norm der Moral ist, lautet daher: „Der letzte Zweck (ist), bezüglich dessen und um dessentwillen alles andere wünschenswert ist, ein Leben, das so weit wie möglich frei von Unlust und in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht so reich wie möglich an Lust ist; wobei der Maßstab, an dem Qualität gemessen und mit der Qualität verglichen wird, die Bevorzugung derer ist, die ihrem Erfahrungshorizont nach (..) über die besten Vergleichsmöglichkeiten verfügen.“26 Damit formuliert Mill die Gesamtheit der Handlungsregeln und Handlungsvorschriften, mit denen die gesamte Menschheit, und wenn möglich die gesamte fühlende Natur ein angenehmes Leben erreichen kann.27
4. Der Utilitarismus nach Mill angewendet auf die Yasuni-Debatte
Wenn das Prinzip des größten Glücks, nämlich das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen zu erreichen, auf die Yasuni-Debatte anwendet werden soll, muss zunächst geklärt werden, welche Handlungen in diesem Kontext moralisch richtig sind, weil sie die Tendenz haben, Glück zu fördern, und welche Handlungen moralisch falsch sind, weil sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken.28
Bei der ersten Entscheidung zählen als competent judges diejenigen Menschen, die schon einmal Geld verdient haben und schon einmal kein Geld verdient haben. Generell würden viele Menschen, die über Vergleichsmöglichkeiten besitzen, sagen, dass das Geld verdienen an sich – und dabei soll erst einmal ausgeklammert werden, wie das Geld verdient wurde – eine Handlung ist, die tendenziell Glück fördert und daher moralischer ist, als kein Geld zu verdienen, da diese Handlung tendenziell das Gegenteil von Glück bewirkt.
Jedoch erhält die ecuadorianische Regierung doppelt so viele Einnahmen, wenn sie das Öl fördern lässt, als wenn sie die Industrieländer darum bittet, in den Fond einzuzahlen. Lässt man den Kontext, in dem das Geld verdient wird, außer Acht, sind in diesem Fall diejenigen Menschen die competent judges, die über die Vergleichsmöglichkeit verfügen, ob es glücklicher macht, Geld zu verdienen, oder ob es das Glück befördert, wenn man doppelt soviel Geld verdient.
Schon hier treten die ersten Probleme bei der Anwendung des Utilitarismus nach Mill auf. Im ersten Moment würden wahrscheinlich viele sagen, dass sie, wenn sie doppelt so viel Geld bekommen würden, glücklicher wären. Jedoch kann bezweifelt werden, dass es wirklich so ist. Nehmen wir an, dass ein Kind von seiner Oma zum achten Geburtstag 10 Euro bekommt und im nächsten Jahr 20 Euro. Ist das Kind in dem Moment, wenn es das Geld bekommt, beim neunten Geburtstag glücklicher, als beim achten? Wahrscheinlich nicht, da es sich über das Geld als Geschenk freut, egal, ob es dieses Mal mehr ist, als beim letzten Mal.
Der Moment, in dem man das Geld bekommt, kann daher nicht das Entscheidende sein. Wenn wir nun davon ausgehen, dass das Kind vor hat, mit dem Geld ins Einkaufszentrum zu gehen, um sich schöne Sachen zu kaufen, also Dinge, die sein Glück fördern, dann kann man davon ausgehen, dass das Kind glücklicher ist, wenn es doppelt soviel Geld hat, um sich seine Wünsche zu erfüllen. Denn tendenziell ist es so, dass Menschen, die sich mehrere Dinge leisten können, die das Glück befördern, auch glücklicher sind, als Menschen, die sich keine oder nur wenige Dinge leisten können, die das Glück befördern.
Wenn man von einem Staat ausgeht, wie es hier der Fall ist, dann müsste man als competent judges die Staatsoberhäupter befragen. Tendenziell gesehen würden auch diese sich als glücklicher bezeichnen, wenn ihr Staat doppelt so viel Geld zur Verfügung hätte, um damit zu wirtschaften, als wenn sie nur die Hälfte des Geldes verwenden können. Man kann aufgrund der beiden Beispiele sagen, dass Geld und auch doppelt so viel Geld kein Endzweck, sondern ein Mittel zur Beförderung von Glück ist.29 In dem Beispiel mit dem Kind ist der Endzweck, der mit dem Geld erreicht werden soll, sich seine Wünsche im Einkaufszentrum zu erfüllen. In einem Staat ist der Endzweck, mit dem Geld besser wirtschaften zu können.
Die Handlung, doppelt so viel Geld zu verdienen, ist daher nach dem utilitaristischen Prinzip moralisch richtig, da es die Tendenz hat, Glück zu fördern und Unglück zu vermeiden.
Die Frage danach, ob es moralisch richtig ist, Öl zu fördern und doppelt soviel Geld einzunehmen, oder die Handlung des Ölförderns zu unterlassen, um die Hälfte des Geldes einzunehmen, steht vor einem anderen Problem: Die competent judges müssten Menschen sein, die mit der Ölförderung doppelt so viel verdient haben, als mit der Unterlassung dieser Handlung. Da der Vorschlag der ecuadorianischen Regierung jedoch bislang einzigartig ist, gibt es niemanden, der mit der Unterlassung der Ölförderung bisher Geld verdient hat. Auf diesem Gebiet gibt es daher keinen competent judge.
Daher können nur die Handlungen der Ölförderung und der Unterlassung der Ölförderung gegenüberstellt werden, um zu überprüfen, welche der beiden Handlungen der anderen vorgezogen werden muss, da sie verspricht, die Menschen glücklicher zu machen, bzw. das Glück zu fördern.
Im Jahr 1959 unterzeichneten 12 Nationen den Antarktisvertrag, der es unter anderem untersagt, die in der Antarktis vorkommenden Bodenschätze wie Kohle, Titan, Chrom, Eisen, Kurzererz, Uran, Erdgas und Erdöl abzubauen.30 Dem Vertrag haben sich im Laufe der Zeit weitere 33 Nationen angeschlossen.(Stand: 2007)31 Die internationale Gemeinschaft hat sich also in diesem Fall dafür entschieden, das Öl nicht zu fördern. Wir können also davon ausgehen, dass es Staatsoberhäupter gibt, die entschieden haben, das Öl in der Antarktis nicht zu fördern und gleichzeitig auf einem anderen Gebiet entschieden haben, Öl fördern zu lassen. Dementsprechend kann man davon ausgehen, dass für diesen Fall mindestens ein competent judge zur Verfügung steht. Welche der beiden Handlungen für einen competent judge am moralischsten ist und dementsprechend die Menschen glücklicher macht, kann jedoch so einfach nicht entschieden werden.
An die Frage, welche Handlung moralischer ist, bzw. glücklicher macht, muss also anders herangegangen werden. Mit der Ölförderung an sich verbinden die meisten Menschen gleichzeitig auch Umweltverschmutzung. Das Öl nicht zu fördern, verbinden die meisten Menschen hingegen nicht unbedingt mit Umweltschutz. Eine Assoziation wird auf den ersten Blick meist nicht hergestellt. Wenn man den competent judges jedoch die Wahl lässt, sich zwischen den Handlungen zu entscheiden, dann sollten sie bei ihren Erwägungen durchaus eine Assoziation zwischen der Unterlassung der Ölförderung und dem Umweltschutz herstellen können. Wenn das der Fall ist, dann kann man davon ausgehen, dass sich die competent judges, wenn sie sich zwischenUmweltschutz und Umweltverschmutzung entscheiden müssen, durchaus den Umweltschutz als moralisch richtig anerkennen müssen.
Auf der anderen Seite verbindet die Menschen Ölförderung auch mit hohen Geldeinnahmen. Jedoch wird bei der der Entscheidung, das Öl zu fördern, nicht automatisch auch an den Gewinnverlust gedacht. Auch hier muss die Entscheidung der competent judges berücksichtigt werden, die bei ihren Erwägungen durchaus auch eine Assoziation zwischen der Unterlassung der Ölförderung und den Gewinnverlusten ziehen werden. Wenn nun die beiden Handlungen der Geldeinnahme und des Gewinnverlustes gegenübergestellt werden, würden die competent judges sich durchaus für die Geldeinnahmen entscheiden, da, wie gezeigt wurde, finanzielle Mittel ein Mittel zur Beförderung von Lust sind.
Da sich die competent judges, nachdem sie über die Ölförderung und die Unterlassung der Ölförderung nachgedacht haben, und je nachdem unter welchem Gesichtspunkt die Handlungen verglichen wurden, jeweils einmal für je eine Handlung entschieden haben, können sie nur noch diese beiden Entscheidungen gegenüberstellen.
Die Frage danach, ob Umweltschutz oder das Verdienen von Geld nach dem utilitaristischen Prinzip moralischer ist, ist jedoch ebenfalls nicht einfach zu beantworten, weshalb ein anderer Versuch gemacht werden soll, um die Frage zu beantworten.
Auf der anderen Seite können nämlich die Handlungen der Umweltverschmutzung und der Gewinnverluste gegenübergestellt werden. Dabei muss nach Mill allerdings danach gefragt werden, welche der beiden Handlungen mehr Unlust, bzw. das Gegenteil von Glück, hervorruft. Die meisten competent judges würde sich dafür entscheiden, dass die Umweltverschmutzung mit ihren reichhaltigen Folgen mehr Unglück hervorruft, als Gewinnverluste zu machen. Nach diesem Schluss kann gesagt werden, dass die Handlung der Unterlassung der Ölförderung als moralisch richtig nach dem utilitaristischen Prinzip ist.
Bei diesen Überlegungen, ob die Handlung der Ölförderung moralisch richtig ist, muss nun noch auf die Aspekte der Umweltzerstörung in Hinblick auf die Pflanzen- und Tierwelt sowie auf die indigenen Völker, die bei einer Förderung wahrscheinlich aus ihrem Gebiet vertrieben werden, Rücksicht genommen werden.
Hierbei werden die Handlungen des Zerstörens und der Erhaltung der Pflanzen- und Tierwelt sowie des Schutzes und der Vertreibung von indigenen Völkern gegenübergestellt. Die competent judges wären daher Menschen, die beide Handlungen erfahren haben und nach ihrem Erfahrungshorizont entscheiden können, welche Handlung der anderen vorgezogen werden muss, da sie das Glück mehr fördert, als die andere.
Da „Gutes tun, um anderen zu helfen“32 das Glück fördert, ist auch die Handlung, indigene Völker zu schützen, eine, die Glück fördert. Im Umkehrschluss ist die Handlung, indigene Völker zu vertreiben, eine, die das Gegenteil von Glück bewirkt. Daher ist die erste Handlung der zweiten vorzuziehen. Ähnlich verhält es sich mit dem Schutz und der Erhaltung der Pfanzen- und Tierwelt, weshalb gesagt werden kann, dass auch diese Handlung der Zerstörung ebendieser Welt vorzuziehen ist.
Abschließend muss nun geprüft werden, ob die Förderung von Öl in einem Nationalpark, die zwar mit hohen Einnahmen verbunden ist, aber dafür die Pflanzen- und Tierwelt zerstört und indigene Völker vertreibt, der Unterlassung der Ölförderung und damit dem Schutz der Pflanzen, Tiere und indigenen Völker zugute kommt, aber dafür nur die Hälfte der Einnahmen verspricht, vorzuziehen ist oder nicht.
Da es schon für die Handlung der Ölförderung mit den doppelten Einnahmen und der Unterlassung der Ölförderung mit der Hälfte der Einnahmen kein competent judge gefunden werden konnte, gibt es für diese um einige Parameter erweiterte Handlung ebenfalls keinen competent judge.
[...]
1 Vgl. Gerhard Dilger: „Das Gute Leben“, in: Taz, 30.09.2011
2 Vgl. Tarik Ahmia: „Dirk Niebel ist der Urwald egal“, in: Taz, 26.09.2011
3 Vgl. María Fernanda Espinosa: „Wir müssen pragmatisch sein“, in: Taz, 20.09.2011
4 Vgl. Leah Temper/Joan Martinez Alier: „Das Öl soll in der Erde bleiben“, in: Le Monde diplomatique, 09.05.2008
5 Dirk Niebel: „Dschungel statt Öl?“, in: Taz, 23.09.2011
6 Vgl. Dirk Niebel: „Dschungel statt Öl?“, in: Taz, 23.09.2011
7 Siehe: Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1967, S. 23
8 Vgl. Leah Temper/Joan Martinez Alier: „Das Öl soll in der Erde bleiben“, in: Le Monde diplomatique, 09.05.2008
9 Vgl. Gerhard Dilger: „Das Gute Leben“, in: Taz, 30.09.2011
10 Vgl. Gerhard Dilger: „Das Gute Leben“, in: Taz, 30.09.2011
11 Vgl. Gerhard Dilger: „Doppelstrategie für Geld und Öl“, in: Taz, 08.12.2011
12 Vgl. Leah Temper/Joan Martinez Alier: „Das Öl soll in der Erde bleiben“, in: Le Monde diplomatique, 09.05.2008
13 Vgl. Leah Temper/Joan Martinez Alier: „Das Öl soll in der Erde bleiben“, in: Le Monde diplomatique, 09.05.2008
14 Vgl. Tarik Ahmia: „Dirk Niebel ist der Urwald egal“, in: Taz, 26.09.2011
15 Vgl. Gerhard Dilger: „Das Gute Leben“, in: Taz, 30.09.2011
16 Vgl. Alberto Acosta: „Öl oder Leben“, in: Taz, 24.09.2011; Vgl. Tarik Ahmia: „Dirk Niebel ist der Urwald egal“, in: Taz, 26.09.2011
17 Vgl. Tarik Ahmia: „Dirk Niebel ist der Urwald egal“, in: Taz, 26.09.2011
18 Vgl. Dirk Niebel: „Dschungel statt Öl?“, in: Taz, 23.09.2011
19 Vgl. Tarik Ahmia: „Dirk Niebel ist der Urwald egal“, in: Taz, 26.09.2011
20 Siehe: Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1967, S. 23
21 Siehe: Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1967, S. 25
22 Siehe: Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1967, S. 27
23 Siehe: Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1967, S. 29
24 Siehe: Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1967, S. 29
25 Siehe: Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1967, S. 35
26 Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1967, S. 37-39
27 Siehe: Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1967, S. 39
28 Siehe: Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1967, S. 23
29 Siehe: Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1967, S. 25
30 Vgl. Niels Krüger: Anwendbarkeit von Umweltschutzverträgen in der Antarktis, Heidelberg 2000, S. 20-21
31 Vgl. Hans Walter Louis/ Jochen Schumacher: Die rechtliche Regulierung invasiver gebietsfremder Arten in Deutschland. Bestandaufnahme und Bewertung, Heidelberg 2007, S. 92
32 André Schleiter: „Glück, Freude, Wohlbefinden –welche Rolle spielt das Lernen?“, 2008 Gütersloh, S. 9