Teilnehmerorientierung nimmt als Leitprinzip didaktischen Handelns im Zuge der „reflexiven Wende“ seit den 80er Jahren in der Erwachsenenbildung einen bedeutenden Stellenwert ein.
Mit ihren Bedeutungselementen Antizipation der Teilnehmenden in der didaktischen Planung, Partizipation der Teilnehmenden an der Bildungsveranstaltung Identitätsbezug, dem Abbau von Gefälle zwischen Lehrenden und Lernenden und einem selbstgesteuertes Agieren der Lerngruppe lenkt sie die Aufmerksamkeit auf den Teilnehmenden als Subjekt und signalisiert eine stärkere Individualisierung in der Erwachsenenbildung mit der Betrachtung vom Teilnehmenden her. Teilnehmerorientierung ermöglicht darüber hinaus aus system- konstruktivistischer Sicht das Anschlusslernen, also ein Anknüpfen an bestehende kognitive Strukturen und davon ausgehend ein Fortführen des Lerngegenstandes.
In der Praxis der gesetzlich reglementierten Weiterbildungsangebote werden zwar Seminarveranstaltungen didaktisch zunehmend teilnehmerorientiert geplant und durchgeführt, Prüfungen als möglicher Bestandteil dieser Veranstaltungen in ihrer didaktischen Funktion allerdings wenig in diese Planungen einbezogen. Dies mag einerseits den formalen Prüfungsanforderungen geschuldet sein, andererseits jedoch auch einem nicht hinreichenden Forschungsgeschehen im Hinblick auf die Wirkungen von Prüfungen auf den Lernprozess selbst, weder auf das der jeweiligen Prüfung zeitlich vorangehende Lernen noch auf die daran anknüpfenden Lernprozesse. Letztendlich beeinflusst aber kaum ein anderes didaktisches Element den Lernprozess so nachhaltig, wie das Format der daran anschließenden Prüfungen, da Lernende ihren Lernprozess eben auf das erfolgreiche Absolvieren dieser Prüfungen hin ausrichten.
Dieser Situation der wenig Widerhall findenden Theoriediskussion zu Teilnehmerorientierung in Prüfungssituationen wird sich die Verfasserin praxisorientiert zuwenden.
Als Leiterin einer Weiterbildungsstätte für Gesundheitsfachberufe beschreibt sie nachfolgend ihre auf dieser Problematik basierenden Überlegungen zu einer teilnehmerorientierten Konzeption einer zertifizierten Zwischenprüfung in der staatlich anerkannten, modularisierten Weiterbildung zur Fachkraft für sozialpsychiatrische Betreuung (FSB)in deren veränderter Auswirkung auf den Lernprozess der Teilnehmenden.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abk ü rzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretische Bez ü ge
2.1 Teilnehmerorientierung in der EB
2.1.1 TNO und ihre Bedeutungselemente
2.1.2 Risiken der Teilnehmerorientierung
2.1.3 Chancen von Teilnehmerorientierung
2.1.4 TNO in Seminar- und Prüfungsgestaltung
2.2 Prüfungen als Teil des Lernprozesses
2.2.1 Allgemeine Funktionen von Prüfungen
2.2.2 Bedeutung der didaktischen Funktion von Prüfungen
3 Teilnehmerorientierte Prüfungsgestaltung in der modularisierten Weiterbildung zur Fachkraft f ü r sozialpsychiatrische Betreuung
3.1 Weiterbildung zur Fachkraft f ü r sozialpsychiatrische Betreuung (FSB)
3.1.1 Ziele der Weiterbildung
3.1.2 Aufbau, Teilnehmer und Inhalte
3.1.3 Teilnehmerorientierte Seminargestaltung
3.2 Diskrepanz in der TNO zwischen Seminar- und Prüfungsgestaltung
3.2.1 Bisherige Gestaltung der Zwischenpr ü fung im zweiten Modul
3.2.2 Ziele didaktischer Ausgestaltung der Prüfungssituation f ü r den Lernprozess
3.3 Konzeption der Zwischenpr ü fung unter Einbezug von Bedeutungs elementen der TNO
3.3.1 Vor ü berlegungen in der praktischen Umsetzung
3.3.2 Konzept der neuen Zwischenpr ü fung
3.4 Prüfungsgestaltung
3.4.1 Prüfungsverlauf der ersten Gruppe: „ Villa Gr ü n “
3.4.2 Prüfungsverlauf der zweiten Gruppe: „ Haus Landliebe “
3.4.3 Reflexionsgespr ä che zur Prüfung und Prüfungsabschluss
3.5 Auswertung der Prüfung
3.5.1 Auswertung der Prüfung in Bezug auf die Strukturqualität
3.5.2 Auswertung der Prüfung in Bezug auf die Prozessqualität
3.5.3 Auswertung der Prüfung in Bezug auf die Ergebnisqualität
4 Fazit
Literaturverzeichnis
Anlage
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Modell der Villa Grün
Abbildung 2: Modell der Villa Grün mit Grundst ü ck
Abbildung 3: Konzept "Villa Grün" Seite 1
Abbildung 4: Konzept "Villa Grün" Seite 2
Abbildung 5: Konzept "Villa Grün" Seite 3
Abbildung 6: Konzept "Villa Grün" Seite 4
Abbildung 7: Konzept "Villa Grün" Seite 5
Abbildung 8: Szenisches Spiel "Haus Landliebe": Im Gespräch mit Bewohner und Pflegefachkraft
Abbildung 9: Szenisches Spiel: "Haus Landliebe": Im Gespräch mit Heimleitung
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser eseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Teilnehmerorientierung nimmt als Leitprinzip didaktischen Handelns im Zuge der „re- flexiven Wende“ seit den 80er Jahren in der Erwachsenenbildung einen bedeutenden Stellenwert ein. Statt objektiver, gesellschaftlicher Qualifikationsansprüche tritt der Teilnehmer mit seinem durch Biografie, Krisen und alltäglichen Erfahrungen motivier- ten Bildungsinteresse in den Blickpunkt der didaktischen Überlegungen in der Erwach- senenbildung (vgl. Arnold 2008, S.42). Mit ihren Bedeutungselementen Antizipation der Teilnehmenden in der didaktischen Planung, Partizipation der Teilnehmenden an der Bildungsveranstaltung (vgl. Siebert 2003, S.98f.) Identitätsbezug, dem Abbau von Gefälle zwischen Lehrenden und Lernenden und einem selbstgesteuertes Agieren der Lerngruppe (vgl. Arnold 2008, S. 43) lenkt sie die Aufmerksamkeit auf den Teilneh- menden als Subjekt und signalisiert eine stärkere Individualisierung in der Erwachse- nenbildung mit der Betrachtung vom Teilnehmenden her (vgl. Rohde 2009, S.14). Teilnehmerorientierung ermöglicht darüberhinaus aus system- konstruktivistischer Sicht das Anschlusslernen, also ein Anknüpfen an bestehende kognitive Strukturen und davon ausgehend ein Fortführen des Lerngegenstandes (vgl. Rohde 2009, S.15). „Wem es nicht gelingt, die Interessen der Teilnehmer anzusprechen und bei ihnen eine fragende Grundhaltung auszulösen, initiiert aus konstruktivistischer Sicht keine Pertubationen und damit keine Lernerfolge.“(ebd., S. 15).
In der Praxis der gesetzlich reglementierten Weiterbildungsangebote werden zwar Se- minarveranstaltungen didaktisch zunehmend teilnehmerorientiert geplant und durchge- führt, Prüfungen als möglicher Bestandteil dieser Veranstaltungen in ihrer didaktischen Funktion allerdings wenig in diese Planungen einbezogen. Dies mag einerseits den formalen Prüfungsanforderungen geschuldet sein, andererseits jedoch auch einem nicht hinreichenden Forschungsgeschehen im Hinblick auf die Wirkungen von Prüfun- gen auf den Lernprozess selbst, weder auf das der jeweiligen Prüfung zeitlich voran- gehende Lernen noch auf die daran anknüpfenden Lernprozesse. Letztendlich beein- flusst aber kaum ein anderes didaktisches Element den Lernprozess so nachhaltig (vgl. Boud 2007), wie das Format der daran anschließenden Prüfungen, da Lernende ihren Lernprozess eben auf das erfolgreiche Absolvieren dieser Prüfungen hin ausrich- ten (vgl. Norton 2004, S. 688). Dieser Situation der wenig Widerhall findenden Theo- riediskussion zu Teilnehmerorientierung in Prüfungssituationen wird sich die Verfasse- rin praxisorientiert zuwenden.
Als Leiterin einer Weiterbildungsstätte für Gesundheitsfachberufe beschreibt sie nach- folgend ihre auf dieser Problematik basierenden Überlegungen zu einer teilnehmerori- entierten Konzeption einer zertifizierten Zwischenprüfung in der staatlich anerkannten, modularisierten Weiterbildung zur Fachkraft für sozialpsychiatrische Betreuung (FSB). Dazu wird sie zunächst die theoretischen Bezüge und Begründungszusammenhänge dieser Thematik darlegen, kurz auf die Inhalte und Ziele der Weiterbildung eingehen und daran erläuternd ein Konzept zur Neugestaltung dieser Prüfung unter Berücksich- tigung der Bedeutungselemente der TNO entwickeln. Abschließend zeigt sie den Ver- lauf der auf diesem Konzept basierenden Prüfungssituation und die Reflexion der Be- teiligten im Hinblick auf die Wirkung der Prüfungsform im Rahmen des Lernprozesses auf. Eine vergleichende Betrachtung des bisherigen und neuen Prüfungsverlaufes schließt die Ausführungen ab, mit dem Ziel, Unterschiede zu eruieren und daraus Hin- weise auf Veränderungen im Anschlusslernen der Teilnehmer zu erhalten.
2 Theoretische Bezüge
2.1 Teilnehmerorientierung in der EB
2.1.1 TNO und ihre Bedeutungselemente
Arnold (vgl. Arnold 2008, S.43) konkretisiert in einem praxisbezogenen Kontext Teilnehmerorientierung als Leitprinzip didaktischen Handelns in der Erwachsenenbildung durch fünf Bedeutungselemente:
- die Partizipationsmöglichkeit der Teilnehmenden (als Korrektiv im Planbaren des Kurses durch Antizipation)
- der Identitätsbezug zu den Teilnehmenden im Sinne der Berücksichtigung ihrer individuellen, subjektiven und soziobiografischen Bedingungen im Lernprozess
- der Abbau von Gefälle zwischen Erwachsenenbildner und Teilnehmenden im
Sinne der Ernstnahme der Kompetenz und Autonomie der Lernenden
- die Förderung und Ermöglichung der Selbststeuerung des Lernprozesses der Teilnehmenden
- eine Ermöglichung aktiver Beteiligung Teilnehmender im Lernprozess
Finden diese Bedeutungselemente in der didaktischen Planung und Ausrichtung der Erwachsenenbildung Niederschlag und wird somit der Teilnehmende individuell in sei- nen Lerninteressen angesprochen und zu einer fragenden Grundhaltung angeregt, wird ihm ermöglicht, an bestehende kognitive Strukturen anzuknüpfen und somit den Lerngegenstand im Sinne eines erfolgreichen Anschlusslernens fortzuführen (vgl. Rohde 2009, S.14f.). Dies ist vor allem deshalb als gegeben anzunehmen, weil ihm dadurch, seine individuellen Hintergründe einbeziehend, als aktiv beteiligter, mitplanender Experte des eigenen Lernens ein notwendiger, Erfolg fördernder Gestaltungsspielraum im eigenen Lernprozess eingeräumt wird.
Teilnehmerorientierung in der Erwachsenenbildung wird durchaus auch kritisch in ihrer Bedeutung diskutiert (vgl. Faulstich/ Zeuner 1999, S.110). Dies soll jedoch in dieser Arbeit nicht Gegenstand der Betrachtung sein.
Arnold (vgl. Arnold 2008, S.44f.) im grundlegenden Verständnis der Teilnehmerorientierung folgend, ist jedoch zu warnen vor Sichtweisen in Form einer extremen Ausgestaltung dieser Bedeutungselemente im Lernprozess, welche die nachfolgend beschriebene Risiken initiieren könnten.
2.1.2 Risiken der Teilnehmerorientierung
Wird Teilnehmerorientierung ohne noch so behutsame Intervention, Anregung oder Steuerung Lehrender im Lernprozess oder alleinig als Erfahrungsaustausch erwachse- ner Lerner gestaltet und Lehre folglich „tabuisiert“, käme es zu einer sogenannten „Selbstauflösung in der Erwachsenenbildung“(vgl. Arnold 2008, S. 44). Auch die Tat- sache, dass Bildungsinteressierte, die Einrichtungen der Erwachsenenbildung mit ei- nem Bildungsziel aufsuchen, impliziert einen erkennbaren Unterstützungswunsch der Lernenden an Lehrende im Lernprozess. Insofern ist die Frage durchaus berechtigt , ob ein solch extremes Verständnis der Teilnehmerorientierung - „ohne“ Funktion Leh- render- sich tatsächlich an den Interessen der Teilnehmenden ausrichtet. Hier zeigt sich ein Paradoxon: Die „Entschulung“ der Erwachsenenbildung als interpretiertes Ex- tremum der Teilnehmerorientierung schließt schlussfolgernd daraus eine tatsächliche Orientierung an den Interessen der Teilnehmer aus und kann somit nicht als Teilneh- merorientierung betrachtet werden.
Eine weitere Gefahr kann sich aus dem teilnehmerorientierten Bemühen Lehrender in der Antizipation der Bedürfnisse der Teilnehmer ergeben. In dem immer umfangrei- cheren Bestreben, soviel wie möglich Aufschluss über die Deutungsmuster der Teil- nehmer zu erlangen, um dies antizipierend in die Kursgestaltung einzuplanen, entsteht das Risiko der „Kolonialisierung“ der dann „gläsernden Teilnehmer“ zur didaktischen Optimierung von Bildungsveranstaltungen (vgl. Arnold 2008, S.44). Insbesondere vor dem Hintergrund eines systemisch- konstruktivisten Ansatzes ist gerade eine solche angestrebte vollständige, akribische Vorwegnahme der Teilnehmerbedürfnisse seitens der Erwachsenenbildner sehr kritisch im Sinne einer Teilnehmerorientierung zu betrachten. Vielmehr sollte hier eine moderate Form der Hinwendung zum Teilnehmenden angestrebt werden.
2.1.3 Chancen von Teilnehmerorientierung
Vorangegangenem folgend, ist Teilnehmerorientierung eine große Chance, Lernenden erfolgreiches und gelingendes Lernen im gemeinsam mit Lehrenden gestalteten Lern- prozess zu ermöglichen: Ist sie in einer tragfähigen Hinwendung zum Teilnehmenden gestaltet, wird eine sich daraus erschließende Gestaltung des Lernprozesses vom Teil- nehmenden her möglich.
2.1.4 TNO in Seminar- und Prüfungsgestaltung
In den vielfältigen Angeboten der Erwachsenenbildung verschiedener Bildungsträger ist Teilnehmerorientierung als didaktisches Leitprinzip bereits in deren Ausschreibungen ausgewiesen und als praktische Grundlage didaktischen Handelns in diesen Veranstaltungen beschrieben (vgl. LFM 2012; Buescher 2012).
Luchte eruiert in ihrer Untersuchung zur Teilnehmerorientierung in der Praxis, dass Dozenten in der Teilnehmerorientierung einen Schlüsselbegriff sehen (vgl. Luchte 2001, S.154). Teilnehmerorientierung wird allerdings, so stellt sie fest, in ihrer prakti- schen Auslegung vielfältig und nicht einheitlich aus theoretischen Kontexten von ihren Anwendern rezipiert. Häufigstes praktisches Kriterium für eine Teilnehmerorientierung ist dabei die methodische Ausgestaltung von Seminarveranstaltungen, sei es in der Vielfältigkeit der Unterrichtsmethoden als denn auch im Methodenwechsel (vgl. Luchte 2001, S.161).
Auffällig in der Literaturrecherche war, dass im Kontext der Teilnehmerorientierung im- mer wieder Schwerpunkte auf die Seminarveranstaltungen als solche in ihrer Planung (auch des Bedarfes), Durchführung und Evaluation gesetzt wird, allerdings eine Be- rücksichtung des didaktischen Leitprinzips Teilnehmerorientierung in den oftmals die Seminarveranstaltung abschließenden Prüfungssituationen wenig bis gar nicht zu er- kennen ist. Es war darüber hinaus auch nicht ersichtlich, dass die Prüfungssituationen als Bestandteil der Seminarveranstaltungen inkludiert betrachtet wurden. Vielmehr ent- stand der Eindruck, dass Prüfungssituationen in diesen Beschreibungen excludiert wurden , so als seien sie nicht (teilnehmerorientiert zu betrachtender) Bestandteil der Seminarveranstaltungen. Verdeutlicht wird dies z.B. in Weiterbildungsangeboten, in denen die Teilnehmerorientierung als didaktisches Leitprinzip nur für Veranstaltungen ohne Prüfungen deklariert wird (vgl. Erzbistum Freiburg 2012).
Auch aus den praktischen Erfahrungen als Leiterin einer Weiterbildungsstätte der Er- wachsenenbildung wurde der Autorin dieses Phänomen zunehmend bewusst. In der angestrebten praktischen Umsetzung der Teilnehmerorientierung ist ein Fokus der Be- trachtung überwiegend auf die Gestaltung des Lernprozesses der Teilnehmer gesetzt. Prüfungen werden dabei erfahrungsgemäß eher als Kontrolle der Ergebnisse dieses Lernprozesses interpretiert, als denn als Bestandteil des Lernprozesses. Hierin könnte ein Erklärungsansatz liegen, warum Prüfungssituationen nachweislich kaum die Auf- merksamkeit didaktischer Planungen in der Literatur und Praxis im Kontext zur Teil- nehmerorientierung auf sich ziehen. Setzt man sich aber ausdrücklich teilnehmerorien- tiert mit den Funktionen und der Bedeutung von Prüfungssituationen für Teilnehmer auseinander, erscheint ein solches „Nicht-Handeln“ paradox. Gerade im Mittelpunkt des an der Erwachsenenbildung teilnehmenden Lernenden steht der erfolgreiche Ab- schluss der Bildungsmaßnahme. Darauf richtet er seinen gesamten Lernprozess aus. Wird der Erfolg der Bildungsmaßnahme also durch eine Prüfung abgefragt, erscheint es einleuchtend, dass der Teilnehmer sein Hauptaugenmerk auf diese Situation im Lernprozess ausrichtet (vgl. Norton 2004, S.688). Diese Annahme soll die nachfolgend beschriebene Bedeutung von Prüfungen untermauern.
2.2 Prüfungen als Teil des Lernprozesses
2.2.1 Allgemeine Funktionen von Prüfungen
Flechsig (vgl. Flechsig 1976, S. 303ff.) unterscheidet in seiner systematisierten Dar- stellung der Prüfungsfunktionen insgesamt elf Funktionen von Prüfungen, die sich in die folgenden drei Kategorien einordnen lassen (vgl. B ü low- Schramm/ Gipser 1994, S. 27-44; M ü ller/ Bayer 2007, S. 223-238; Reis/ Ruschin 2008, S.143ff.):
- Die Herrschafts- und Sozialisierungsfunktion (Systemreproduktion), die mit dem Fokus der Herrschaftsausübung und Sozialisierung dem Erhalt und der Reproduktion vorhandener Zustände und Machtkonstellationen (vgl. Reis/ Ruschin 2008, S.45ff.) dient. Ihnen zuzuordnen sind die Funktionen Initiation, Statusverteilung und Legitimation.
- Die Kategorie der Rekrutierungsfunktion (Selektion, Linearisierung, Auswahl, Zuordnung), welche eine Auswahl über Prüfungen durch Platzierung oder Auslese ermöglicht, beinhaltet die Funktionen Platzierung in Kohorte, Auslese aus Kohorte und Qualifikations- und Kompetenznachweis.
- Die dritten Kategorie der didaktischen Funktionen (Systemoperation), welche als zeitliche und inhaltliche Gliederungs- und Orientierungspunkte (vgl. Reis/ Ruschin 2008, S.45ff.) sowie als Instrument der extrinsischen Lernmotivation (vgl. Brunstein/ Heckhausen 2007, S 143ff. ) dient, sind die Funktionen zeitliche und inhaltliche Gliederung, inhaltliche Orientierung der Lehrenden und Lernen- den über die Lernziele, Extrinsische Lernmotivation, Rückmeldung des Lehr- und Lernerfolges und die Funktion eines Diagnoseinstrumentes zugeordnet. Nicht betrachtet bleibt bei der Kategorisierung dieser Funktionen der Stellenwert jeder einzelnen Kategorie. Die hier beschriebene Reihenfolge in der Darstellung gewinnt praktisch durchaus auch hierarchische Bedeutung, wie anhand der nachfolgenden Er-läuterungen deutlich wird.
2.2.2 Bedeutung der didaktischen Funktion von Prüfungen
In einer Studie im angloamerikanischen Raum in der Analyse von Prüfungsordnungen an Hochschulen stellt Boud (vgl. Boud 2007, S.15-25) einen durchaus auf Deutschland zu übertragenden Fokus dieser auf die Herrschafts- und Sozialisations- sowie Rekru- tierungsfunktion von Prüfungen fest (vgl. M ü ller/ Schmidt 2009, S. 30). Erst nachrangig werden die Rückmeldung über die Lernergebnisse an die Lernenden, deren Weiterent- wicklung und die Funktion von Prüfungen als Teil des Lernprozesses thematisiert, wel- che, Flechsigs Terminologie folgend, den didaktischen Funktionen zuzuordnen sind. Im Mittelpunkt von Prüfungssituationen stehen auch in Deutschland Lernstandserhe- bungen und die Messung angeeigneten Wissens. Erst dann, wenn überhaupt, wird auf die Bedeutung von Prüfungen auf Lernende und deren Lernprozess verwiesen (vgl. M ü ller/ Schmidt 2009, S. 31). Untersuchungen zur Wirkung von Prüfungsformen auf den Lernprozess liegen kaum vor , weder im Hinblick auf das der Prüfung vorgeschal- tete Lernen, noch auf die daran anknüpfenden Lernprozesse. Dass Lernende jedoch ihren Lernprozess auf das erfolgreiche Absolvieren der Prüfung hin ausrichten (vgl. Norton 2004, S.688) erklärt die Tatsache, dass kaum ein didaktisches Instrument den Lernprozess so nachhaltig beeinflusst, wie die anschließende Prüfung (vgl. Boud 2007, S. 15-25).
Diese Erfahrungen der Lernenden in Prüfungssituationen mit Erfolgen und Misserfol- gen wirken folglich auch auf ihre nachfolgende Lernprozesse. Mit diesem Ansatz, sich daraus ergebende Potenziale aus Prüfungen nicht ungenutzt zu lassen, hat sich die Autorin praxisorientiert diesem Problem in der didaktischen Konzeption und Durchfüh- rung einer Prüfungssituation unter Berücksichtigung der Elemente der Teilnehmerori- entierung in ihrer Weiterbildungsstätte zugewandt. Dabei steht im Fokus die im syste- misch- konstruktivistischen Lehr- Lernansatz und in der Teilnehmerorientierung ange- strebte Selbststeuerung der Lernenden, aber auch Nachhaltigkeit im Lernprozess der Teilnehmenden zu erreichen.
3 Teilnehmerorientierte Prüfungsgestaltung in der modularisierten Weiterbil- dung zur Fachkraft für sozialpsychiatrische Betreuung
3.1 Weiterbildung zur Fachkraft f ü r sozialpsychiatrische Betreuung (FSB)
3.1.1 Ziele der Weiterbildung
Gemäß der zugrunde liegenden Nds. VO über die Weiterbildung in Gesundheitsfachberufen vom 18.03.02, Anlage 1, Buchstabe J in der jetzt gültigen Fassung ist das Ziel der Weiterbildung zur FSB wie folgt beschrieben:
„Die Weiterbildung soll dazu befähigen, im Rahmen einer mitverantwortlichen Betreu- ung Hilfsangebote für psychisch Kranke, in verschiedenen Versorgungsbereichen zu gestalten, die ihnen ein Leben an ihrem selbst gewählten Wohnort ermöglichen und an ihren persönlichen Fähigkeiten ausgerichtet sind. Sie soll außerdem dazu befähigen, die soziale Dimension einer psychischen Erkrankung in den Mittelpunkt der Betrach- tung und des pflegerischen und therapeutischen Handelns zu stellen. Ferner soll sie es ermöglichen, geschlechts- und altersspezifische, soziale und ethnologische Unter- schiede der Personen, auf die sich die berufliche Tätigkeit bezieht, zu erfassen und zu berücksichtigen“(NI-Voris 2012). Daraus schließend wird ersichtlich, dass die umfas- senden Inhalte der Weiterbildung die Teilnehmenden befähigen sollen, komplexes, er- lerntes Wissen prozedural im Arbeitsumfeld anwenden zu können.
3.1.2 Aufbau, Teilnehmer und Inhalte
Die insgesamt 720 Stunden umfassende staatlich anerkannte, berufsbegleitende Wei- terbildung zur Fachkraft für sozialpsychiatrische Betreuung (FSB) wendet sich an drei- jährig ausgebildete Pflegefachkräfte, Physio- und Ergotherapeuten im psychiatrischen Arbeitsfeld und ist in modularisierter Form aufgebaut. Die drei aufeinander aufbauen- den Module kategorisieren die gesetzlich vorgeschriebenen inhaltlichen Schwerpunkte (vgl. Nds. VO ü ber die Weiterbildung in Gesundheitsfachberufen v. 18.03.2002) in folgende Abschnitte:
Im ersten Modul können sich die Teilnehmenden zu Praxisanleitern (PA) durch den Erwerb von beratenden, anleitenden, methodisch-didaktischen, betriebswirtschaftlichen, rechtlichen und pflegefachlichen Kompetenzen über einen Zeitraum von 160 Stunden qualifizieren.
Im zweiten Modul sind alle grundlegenden Inhalte, die das Arbeitsfeld psychiatrischer Institutionen berühren, zusammengefasst. Dazu gehören rechtlich-spezielle Kenntnisse, die Historie und heutige Versorgungsstrukturen psychiatrischer Arbeit, ausgewählte Krankheitsbilder der Psychiatrie sowie der pflegerischen Umgang mit diesen, Grundlagen der Ethik, Grundlagen multiprofessioneller Zusammenarbeit im psychiatrischen Arbeitsfeld und Grundlagen therapeutischer Angebote. Das zweite Modul qualifiziert die Teilnehmenden nach erfolgreichem Abschluss der insgesamt 200 Stunden zu Psychiatrisch Qualifizierten (Pflege-) Fachkräften (PQP).
Im dritten Modul der Weiterbildung wird aufbauend in weiteren 360 Stunden der be- sondere ressourcenorientierte Ansatz der Soziotherapie aufgegriffen und alle dazu er- forderlichen Inhalte angeboten. Dazu gehören im Wesentlichen das zugehörige, um- fassende therapeutische Wissen in der soziotherapeutischen Arbeit mit psychisch Kranken und über die Teilhabe dieser am gesellschaftlichen Leben, das Wissen über Gruppenprozesse und Interaktion, die Konzeption, Planung, Durchführung und Evalua- tion soziotherapeutischer Gruppen- und Einzelinterventionen, die Selbsterfahrung und Reflexion in der therapeutischen Arbeit und die Verortung der Psychiatrie im gesell- schaftlichen Kontext. Die Teilnehmenden, die erfolgreich alle drei Module absolvieren, erwerben mit Abschluss des dritten Moduls die staatlich anerkannte Weiterbildungsbe- zeichnung Fachkraft für sozialpsychiatrische Betreuung.
Dabei ist eine modularisierte Gestaltung der Weiterbildung gesetzlich nicht vorge- schrieben. Allerdings weist sie wesentliche Vorteile auf: Die Weiterbildungsstätte, die hier im Fokus der Betrachtung steht, ist Tochterunternehmen eines großen psychiatri- schen Klinikums in Niedersachsen. Die dort tätigen Mitarbeiter verfolgen mit ange- strebter Weiterbildung unterschiedliche Ziele. Nicht alle wollen oder können eine zwei- jährig staatlich anerkannte Weiterbildung absolvieren. Einerseits fehlen ihnen die Erfül- lung erforderlicher Zulassungsvoraussetzungen, andererseits ist die umfassende Wei- terbildung für ihr Arbeitsfeld, in dem sie eingesetzt sind, nicht immer in diesem Umfang angezeigt. Insofern steht ihnen über die Modularisierung und eine jeweils separat mögliche Qualifizierung in jedem Modul die Auswahl offen, das für sie passende Ange- bot auch nur durch die Teilnahme an einzelnen Modulen auszuwählen. Für diejenigen, die jedoch die gesamte staatliche Weiterbildung absolvieren wollen, sind ebenfalls we- sentliche Vorteile der Modularisierung nutzbar: In erster Linie wird ihnen ein struktu- rierter, schlüssig- konsistenter Aufbau aller erforderlichen Inhalte angeboten. Darüber hinaus erfahren die Teilnehmenden nicht erst am Ende der Weiterbildung eine Darstel- lung ihres Lernstandes, sondern abschnittweise über die jeweils am Ende eines Mo- duls erfolgenden Prüfungen. Ihre berufsbegleitende Weiterbildung können sie organi- satorisch flexibel durch möglichen Ein- und Ausstieg in die jeweiligen Module ihren Ar- beitserfordernissen und persönlichen Bedürfnissen anpassen. Außerdem ermöglicht die unterschiedliche Gruppenzusammensetzung den Teilnehmern in den Modulen einen durch Lehrkräfte begleiteten Selbsterfahrungsprozess in den Gruppendynami- ken. Somit gestaltet sich die Weiterbildung auch als vorbereitendes praktisches Übungsfeld für später durch die Teilnehmer anzubietende Gruppenprojekte in deren Arbeitsfeld.
3.1.3 Teilnehmerorientierte Seminargestaltung
In der Seminargestaltung dieser Weiterbildung ist TNO als didaktisches Leitprinzip ver- ankert. Sie findet ihre Umsetzung in einem sehr ausdifferenzierten Bewerbungsvorlauf für die Weiterbildung, in welchem die Teilnehmer ihre Wünsche hinsichtlich ihrerseits angestrebten Kompetenzerwerbs formulieren, einen Lebenslauf einreichen und ein persönliches Beratungsgespräch nutzen können. Die aktuelle inhaltliche und metho- disch- didaktische Konzeption der Weiterbildung zur FSB orientiert sich notwendiger- weise an den gesetzliche Erfordernissen, an dem Expertenwissen der Lehrenden, an den einmal monatlich schriftlich und frei formulierten Reflexionen der Teilnehmenden zu den angebotenen Veranstaltungen, an regelmäßigem, persönlichem Austausch der Leitungen mit den Teilnehmenden innerhalb und außerhalb der Seminarveranstaltun- gen und an den Erwartungs- und Bedürfnisabfragen der Teilnehmenden. Sie wird fort- laufend über diese Instrumente im Einklang mit dem Expertenwissen der Weiterbil- dungsleitung, der Lehrenden und den gesetzlichen Erfordernissen gegebenenfalls den jeweiligen Bedürfnissen der Teilnehmenden angepasst. Praktisch gestaltet sie sich in methodisch-didaktisch vielfältigen Angeboten des Lernens und Lehrens und der stets angestrebten aktiven Teilhabe der Teilnehmer, in dem sie für ihre Rolle als aktive Ge- stalter ihrer Weiterbildung seitens der Lehrkräfte sensibilisiert werden. Darüber hinaus gilt das Prinzip der „offenen Tür“ für jederzeit nutzbare Gespräche der Teilnehmenden mit den Weiterbildungsleitungen. Außerdem profitieren die Teilnehmenden sehr von dem (Selbst-) Erfahrungs- und Fachwissen der Lehrenden, die ausdrücklich in ihrem Expertenwissen als ausgewählte ehemalige Teilnehmer und erfolgreiche Absolventen dieser Weiterbildung in den Lehrveranstaltungen oder im Praxistransfer der Weiterbil- dung zielgerichtet eingesetzt werden.
3.2 Diskrepanz in der TNO zwischen Seminar- und Prüfungsgestaltung
3.2.1 Bisherige Gestaltung der Zwischenprüfung im zweiten Modul
Wie bereits eingangs erwähnt, ermöglicht jedes Modul neben der Vermittlung aufbau- ender Inhalte i.R. der 720- stündigen Gesamtweiterbildung zur FSB auch eine separa- te Belegung zum Erwerb einer Teilqualifikation. Insoweit schließt jedes Modul auch mit einer die Modulinhalte abfragenden Prüfung ab. Diese Prüfung im zweiten Modul mit der Teilqualifikation zur Psychiatrisch Qualifizierten (Pflege-) Fachkraft (PQP) diente in erster Linie dem Nachweis und der Kontrolle erworbenen und erforderlichen Wissens und hatte somit nach Flechsig (Flechsig 1976, S.366) hauptsächlich Rekrutierungs- und Herrschafts- bzw. Sozialisierungsfunktion. In der methodisch- didaktischen Gestal- tung der Prüfung im zweiten Modul stand im Vordergrund die Überprüfung des Teil- nehmenden auf abfragbares Wissen, das ihn zum Erwerb des Qualifikationsnachwei- ses „PQP“ in Form einer Bescheinigung der erfolgreichen Teilnahme berechtigte. Aus- schlaggebend für die Methodik und Didaktik der Prüfungsgestaltung war dabei nicht, welche Auswirkungen diese in der Vorbereitung und somit im vorangehenden Lernpro- zess für die Teilnehmer hatte. Ebenso war nicht in der Planung berücksichtigt, inwie- weit sich diese Prüfung im weiterführenden Lernprozess für die Teilnehmer der Ge- samtweiterbildung zur FSB auswirken würde. Der bisherige Prüfungsverlauf war so ge- staltet, dass die Teilnehmer i.R. einer mündlichen Befragung per Zufallsprinzip ausge- wählte Wissensfragen zu den Inhalten des 2. Moduls zu beantworten hatten. Diese Si- tuation ist ihnen zu Beginn des 2. Moduls zur Kenntnis gegeben worden und stand so- mit im Zentrum ihrer lernorientierten Ausrichtung während des gesamten Weiterbil- dungsverlaufes in diesem Modul. Das war vor allem in den Seminarveranstaltungen daran spürbar, dass regelmäßige Fragen seitens der Teilnehmer gestellt wurden, in wieweit das Unterrichtsgeschehen Prüfungsrelevanz habe.
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