Am sechsten Juli 2007 veröffentlichte die deutschsprachige Rock- und Popband Tocotronic mit Kapitulation ihr achtes Studioalbum und mit dem Lied Sag alles ab die erste Single-Auskopplung. Letztere deutete dabei an, welche Inhalte die Schallplatte prinzipiell bestimmen sollten. „Wir hatten schon das Konzept, so eine Art Punkrockplatte zu machen, [...] „[e]in Statement [setzen], gegen diese schreckliche Emo-Kultur.“ Bebildert wurde Sag alles ab durch das schlicht gehaltene schwarz-weiß Plattencover der Single-Edition – einen Musikvideoclip gab es jedoch nicht. Erst bei der zweiten Single-Auskoppelung Kapitulation entschied man sich, Musik und Text mit Hilfe eines Musikvideoclips in ein Bild zu setzen. Regie führten dabei Alex Large und Liane Sommers, die bereits zuvor schon für Künstlerinnen und Künstler wie Kylie Minogue und Take That gearbeitet haben. Die von der Band proklamierte Kampfeslust finden wir in diesem Musikvideoclip allerdings nicht wieder. Tocotronic präsentieren sich als Band, die langweilt. Anstatt die Zuschauerinnen und Zuschauer mit einer spektakulären Rock-Performance zu unterhalten, wirken D. von Lowtzow, J. Müller, A. Zank und R. McPhail auf der Bühne des Fontane-Hauses Berlin ätzend öde. „Kapitulation ohohoh. Ohohoh. Ohohoh!“ Mit ihrem Musikvideoclip sorgen Tocotronic bei den Zuschauerinnen und Zuschauern für Irritationen. Wie diese und Musikvideoclips selbst im Deutschunterricht genutzt werden können, zeigt die vorliegende Arbeit. Als Grundlage dient hierfür I. Winklers Text Poetisches Verstehen intermedial. Ihre Überlegungen werden auf den folgenden Seiten aufgegriffen und an den Stellen weitergeführt, an denen sie literaturdidaktische Potenziale übersieht. V.a. die Komponente Werbung spielt dabei eine wichtige Rolle.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Der Musikvideoclip im Literaturunterricht
2.1 Der Musikvideoclip - eine pädagogische Herausforderung
2.2 Der Musikvideoclip im Literaturunterricht - Praxis
3 Der Musikvideoclip und Werbung im Literaturunterricht
3.1 Musikvideoclips und Werbung
3.2 Der Musikvideoclip und Werbung im Literaturunterricht - Praxis
4 Schlussbetrachtung
5 Literaturverzeichnis
6 Internetquellen
1 Einleitung
„Beim Schreiben war schon wahnsinnig viel Wut und Trotz dabei, auch Spaß an der Wut. Wir wollten schon einiges sagen gegen den allgemeinen Zeitgeist.1
Am sechsten Juli 20072 veröffentlichte die deutschsprachige Rock- und Popband Tocotronic mit Kapitulation ihr achtes Studioalbum und mit dem Lied Sag alles ab die erste Single-Auskopplung. Letztere deutete dabei an, welche Inhalte die Schallplatte prinzipiell bestimmen sollten. „Wir hatten schon das Konzept, so eine Art Punkrockplatte zu machen, [...] „[e]/n Statement [setzen], gegen diese schreckliche Emo-Kultur.“3Bebildert wurde Sag alles ab durch das schlicht gehaltene schwarz-weiß Plattencover der Single-Edition - einen Musikvideoclip gab es jedoch nicht. Erst bei der zweiten Single-Auskoppelung Kapitulation entschied man sich, Musik und Text mit Hilfe eines Musikvideoclips in ein Bild zu setzen. Regie führten dabei Alex Large und Liane Sommers, die bereits zuvor schon für Künstlerinnen und Künstler wie Kylie Minogue und Take That gearbeitet haben.4 Die von der Band proklamierte Kampfeslust finden wir in diesem Musikvideoclip allerdings nicht wieder. Tocotronic präsentieren sich als Band, die langweilt. Anstatt die Zuschauerinnen und Zuschauer mit einer spektakulären Rock-Performance zu unterhalten, wirken D. von Lowtzow, J. Müller, A. Zank und R. McPhail auf der Bühne des Fontane-Hauses Berlin5 ätzend öde.6 „Kapitulation ohohoh. Ohohoh. Ohohoh!“7
Mit ihrem Musikvideoclip sorgen Tocotronic bei den Zuschauerinnen und Zuschauern für Irritationen. Wie diese und Musikvideoclips selbst im Deutschunterricht genutzt werden können, zeigt die vorliegende Arbeit. Als Grundlage dient hierfür I. Winklers Text Poetisches Verstehen intermedial. Ihre Überlegungen werden aufden folgenden Seiten aufgegriffen und an den Stellen weitergeführt, an denen sie literaturdidaktische Potenziale übersieht. V.a. die Komponente Werbung spielt dabei eine wichtige Rolle.
2 Der Musikvideoclip im Literaturunterricht
2.1 Der Musikvideoclip - eine pädagogische Herausforderung
Im Bereich der Medienerziehung wird heute zunehmend auf den Musikvideoclip zurückgegriffen. Das liegt v.a. an der Tatsache, dass Musikvideoclips besonders deutlich komplexe Medienangebote bereithalten, mit Hilfe derer verschiedene mediensoziologische und medientechnologische Inhalte vermittelt werden können.8Zur Förderung des literarischen Verstehens verwendet man indes weniger oft den Musikvideoclip.9Betrachtet man die deutschdidaktischen Forschungsbeiträge, die den Musikvideoclip-Einsatz im Unterricht zum Thema haben, gewinnt man schnell den Eindruck, dass Musikvideoclips in der Hauptsache zur Ausbildung der Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler verwendet werden können. Das ist aus fachdidaktischer Sicht durchaus verwunderlich. Auch aus dem Grund, da es in der jüngeren Vergangenheit immer wieder Versuche gab, den Musikvideoclip in den Literaturunterricht zu holen. Besonders die Arbeit Revision des literarischen Kanons von S. Neuhaus muss an dieser Stelle hervorgehoben werden.10
Neben S. Neuhaus finden wir mit A. Altrogge und Ch. Jacke in der Forschung weitere Autoren, die konstruktiv zu diesem Thema gearbeitet haben. In der jüngeren Vergangenheit stach dabei besonders die bereits oben genannte I. Winkler mit ihrer Arbeit „Poetisches Verstehen intermedial“ hervor. Ihre wichtigsten Erkenntnisse werden in der Folge kurz aufgelistet, da sie für das Grundverständnis der Argumentation der vorliegenden Arbeit wichtig sind:
1. Musikvideoclips sind keine Lyrikverfilmungen! Sie bestehen „nicht nur aus den 'Lyrics', sondern auch aus deren musikalische [und visuelle] Umsetzung [..J.“[11]Sowohl die Ebene Text, Musik als auch Bild sind bestimmende Kompetenten des Musikvideoclips. Sie werden von der Konsumentin/ dem Konsumenten simultan rezipiert.12
2. Poetisches Verstehen stellt sich erst dann ein, wenn die Schülerinnen und Schüler gemeinsam über ihre aus dem Schauen gewonnenen Wahrnehmungen diskutieren und diese anschließend wieder an den poetischen Gegenstand anbinden.13
3. Musikvideoclips fördern besonders das Verstehen literarischer Texte, wenn sie Rezeptionswiderstände aufbauen.14
Musikvideoclips bleiben der Zuschauerin/ dem Zuschauer unterschiedlich lang im Gedächtnis. Nach R. Rauh sind es besonders die, ,,die in sich [...] eine enge Vernetzung haben“ - also eine Geschichte erzählen.15Optische Stimulationen werden dagegen schnell vergessen. Damit sind auch Musikvideoclips gemeint, die zwar „schöne“ Bilder präsentieren, diese aber nicht in einen inneren Zusammenhang bringen.16Ebenfalls bleiben die Musikvideoclips wirkungslos, die allein vorfabrizierte, kulturell verfestigte Symbolismen abrufen.17Interessant werden sie erst in den Momenten, in denen sie mit den Symbolismen kreativ spielen - und zwar auf den Ebenen Musik, Text und Bild. Entwickeln sich innerhalb ihres Wechselspiels Irritationen, d.h. werden auf den verschiedenen Ebenen konträre Darstellungen zu ein und demselben Produkt Musikvideoclip) präsentiert, werden die Wahrnehmungsgewohnheiten der Rezipientin/ des Rezipienten gebrochen.18Der Musikvideoclip widersetzt sich auf diese Weise einer reibungslosen und beiläufigen Rezeption.19Für die Zuschauerinnen und Zuschauer bedeutet dies, sich über das Wahrgenommene zu verständigen20- der Musikvideoclip, also der poetische Gegenstand, bleibt auf diesem Weg „im Gespräch“. Dieses Gespräch kann dabei ohne Weiteres auch in den Literaturunterricht verlagert werden. Jedoch genügt es nicht allein, über die Irritationen zu sprechen, die sich während des Sehens eingestellt haben. Das literaturdidaktische Potenzial des Musikvideoclips ist erst dann ausgeschöpft, wenn die Schülerinnen und Schüler das individuell Wahrgenommene mit dem Wahrgenommenen anderer vergleichen und diskutieren und anschließend auf die Eigenschaften des Musikvideoclips - also auf den poetischen Gegenstand - zurückführen.21Wie dies im Literaturunterricht umgesetzt werden kann, zeigt das folgende Kapitel.
2.2 Der Musikvideoclip im Literaturunterricht - Praxis
Im Musikvideoclip Kapitulation finden wir verschiedene Formen von Erwartungsbrüchen und Irritationen. Bereits die positive Aufarbeitung des Kapitulations-Themas wird die Schülerinnen und Schüler aller Voraussicht nach überraschen. „Und wenn Du kurz davor bist, kurz vordem Fall, und wenn Du denkst, 'Fuck it all!'
Und wenn Du nicht weißt, wie soll es weitergehen:
Kapitulation ohohoh.‘22
Der Song stellt das Kapitulieren als etwas Befreiendes dar. Das ist irritierend, weil ungewöhnlich. In unserer heutigen Leistungsgesellschaft zählt der persönliche Erfolg. Der Gewinner-Typ ist gefragt. Auf den „Aufgeber“ wird dagegen hinabgeschaut. Nicht selten schwingt dabei auch der Irrglaube mit, dass persönliche Schwäche die Ursache des Kapitulierens ist. Tocotronic kehren dieses Bild ins Gegenteil um. In ihrem Lied ist der „Aufgeber“ der Gewinner-Typ. „Etwas nicht zu tun und die Waffen zu strecken, das ist auf jeden Fall eine Strategie. Weil man sich so den Anforderungen, die an einen gestellt werden, entzieht. Das ist ja so eine Bartleby-Idee.“23Der Moment, in dem das Individuum die eben angesprochenen Waffen streckt, wird dabei nicht beim Namen genannt, er ist ein unbekannter „Fall“24. Aus diesem Grund können die Schülerinnen und Schüler an dieser Stelle individuelle Erfahrungen mit dem Unterrichtsgegenstand verknüpfen. Vielleicht entwickelt sich sogar ein Unterrichtsgespräch, in dem Schülerinnen und Schüler über „persönliche Kapitulationen“, aus denen siejedoch gestärkt hervorgetreten sind, berichten.
Das Letztgesagte legitimiert jedoch nur bedingt den Einsatz des Musikvideoclips Kapitulation im Deutschunterricht. Zwar finden wir hier bereits positive Irritationen, über die Schülerinnen und Schüler konstruktiv diskutieren können. Diese entwickeln sich jedoch nur aus dem Aufeinandertreffen von Erwartungshaltung und Textinhalt. Die Komponenten Musik und Bild spielen keine Rolle. Wir müssen uns daher dem Musikvideoclip selbst nähern. Besonders interessant sind dabei die ersten 35 Spielsekunden. Hier wird eine Bebilderung gewählt, die im Vergleich zu den Ebenen Musik und Text kontrastiv wirkt. Dunkle Grüntöne bestimmen das Bild, alle Figuren sitzen im Schatten bzw. sind nur an ihren Umrissen zu erkennen. Allein Sänger D. von Lowtzow sitzt im Scheinwerferlicht. Jedoch vermittelt auch er nicht den Eindruck eines glücklichen „Aufgebers“. Seine Haut wirkt verschwitzt, sein Blick ist auf den Boden gerichtet. Nur langsam schaut er mit seinen Augen nach oben und wirkt dabei doch nur hilfesuchend. Verstärkt wird der düstere Eindruck durch die wacklige Fahrt der Kamera. Auch sie erweckt den Eindruck von Unsicherheit und Verängstigung.
Es ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler nach dem Schauen des Ausschnittes zunächst das individuell Wahrgenommen festhalten. Sie müssen für sich klären: Was habe ich soeben geschaut und was habe ich dabei empfunden? Weiterhin gilt zu fragen: Welche Elemente des Musikvideoclips haben mich bei der Wahrnehmung beeinflusst und auf welchen Ebenen wurden sie dargestellt? Erst im Anschluss können die Irritationen, die sich aus den gegensätzlichen Darstellungen des Kapitulations-Themas der Text und BildEbene entwickelt haben, im Unterricht besprochen werden. Zum Beispiel kann gefragt werden, wieso sich die Band für ein visuell düster wirkenden Musikvideoclip entschieden haben, wenn doch die Grundstimmung, die vom Text/ der Musik vermittelt wird, an und für sich positiv ist. Die Beantwortung der Frage führt dazu, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf die einzelnen Inhalte konzentrieren, die auf den verschiedenen Ebenen dargestellt werden, und diese wiederum zueinander in Beziehung setzen. Auf diese Weise lernen sie den poetischen Gegenstand Musikvideoclip verstehen.
[...]
1 taz.de/M409/.
2 Vgl. tocotronic.de/diskographie/kapitulation/.
3 taz.de/!1409/.
4 alexandliane.com/files/videos.html.
5 crew-united.com/index.asp?show=memberdetail&ID=7839.
6 Vgl. tonspion.de/neues/neueste/244657.
7 tocotronix.de/texte/index.php?modus=details&tid=123.
8 Vgl. Winter: Musikvideos im Unterricht, S. 2.
9 S.ebenda.
10S. Neuhaus weist in seiner Arbeit nach, dass Musikvideoclips Textstrukturen besitzen. Aus diesem Grund sind sie als Arbeitsmedium für den Literaturunterricht geeignet. Vgl. Neuhaus: Revision des literarischen Kanons, S. 131.
11Winkler: PoetischesVerstehen intermedial, S. 71.
12An dieser Stelle wird oft angeführt, dass das Schauen von Musikvideoclips die Schülerinnen und Schüler aufgrund der vielen Informationen kognitiv überfordere. Dieser
„aufmerksamkeitsökonomische[...] [...] Overload“ (Ja>
13Vgl. Winkler: Poetisches Verstehen intermedial, S. 71.
14Vgl. Winkler: Poetisches Verstehen intermedial, S. 72.
15Rauh: Videoclips, Bilderflut und audiovisuelle Geschichten, S. 213.
16Vgl. ebenda.
17Vgl. Rauh: Videoclips, Bilderflut und audiovisuelle Geschichten, S. 215.
18Winkler: PoetischesVerstehen intermedial, S. 71.
19Vgl. ebenda.
20 Die Verständigung über das Gesehene verläuft zunächst intersubjektiv. Individuelles Verstehen reicht jedoch nicht aus, literarische Texte zu verstehen. Entsprechend heißt es bei I. Winkler: „Wer sich beim Lesen nur in sich selbst spiegelt, kommt beim Verstehen keinen Schritt voran“ (Winkler: Poetisches Verstehen intermedial, S. 71). Hierzu weiterführend Winkler: Poetisches Verstehen intermedial.
21Vgl. Winkler: Poetisches Verstehen Intermediai, S. 71.
22 lyricsmania.com/kapitulation_lyrics_tocotronic.html.
23taz.de/!1409/.
24 lyricsmania.com/kapitulation_lyrics_tocotronic.html.