Warum, so mag sich manch ein Medizinstudent oder Patient oft gefragt haben, sprechen die Ärzte eine so unverständliche Sprache? Warum spielen Latein und Altgriechisch für die Medizin des 21. Jahrhunderts nach wie vor eine große Rolle? Der Schlüssel zum Verständnis liegt in der Geschichte der Medizin selbst. Die vorliegende Studienarbeit, die am Institut für Germanistik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg entstand, möchte Antworten finden, indem sie die sprachgeschichtliche Entwicklung der medizinischen Fachsprache nachzeichnet.
Inhalt
1 EINLEITUNG
1.1 Motivation und Problematik
1.2 Forschungsstand
2 DIE MEDIZIN UND IHRE SPRACHE(N)
2.1 Allgemeine Charakteristika von Fachsprachen
2.2 Besonderheiten der medizinischen Fachsprache
3 SPRACHGESCHICHTE DER MEDIZIN
3.1 Ursprünge einer alten Sprache - Die Antike
3.2 Sprachliche Wandlungen im Mittelalter
3.3 Ärztliche Sprache der Frühen Neuzeit
3.4 Sprachliche Veränderungen seit der Aufklärung
4 FAZIT
Medizinische Sprache heute
5 LITERATURVERZEICHNIS
1 EINLEITUNG
1.1 Motivation und Problematik
Warum, so mag sich manch ein Medizinstudent oder Patient oft gefragt haben, sprechen die Ärzte eine so unverständliche Sprache? Warum spielen Latein und Altgriechisch für die Medizin des 21. Jahrhunderts nach wie vor eine große Rolle? Der Schlüssel zum Verständnis liegt in der Geschichte der Medizin selbst. Die vorliegende Studienarbeit möchte Antworten finden, indem sie die sprachgeschichtliche Entwicklung der medizinischen Fachsprache nachzeichnet. Dazu soll zunächst der Fachsprachenbegriff als solcher geklärt werden, um im Anschluss die Grundlagen der ärztlichen Sprache aus ihrem historischen Kontext heraus verstehen zu können. Im Rahmen dieser begrenzten Abhandlung kann nur ein recht grober Überblick gegeben werden. Dennoch habe ich mich bemüht, alle wichtigen Entwicklungsschritte zu berücksichtigen bzw. im Falle von Platzmangel wenigstens zu benennen. Anhand von Wort-Beispielen soll immer wieder der Bezug zur Gegenwartssprache hergestellt werden, denn ich verstehe Sprachgeschichtsforschung nicht als Disziplin zum Selbstzweck, sondern als ein Werkzeug, das uns das Hier und Jetzt transparent machen kann. So bleibt mir nur mit dem Arzt Wilhelm Griesinger zu sagen:
Darum verlangen wir zum Schlusse, dass kein unnöthiges und willkührliches Spiel mit der Sprache getrieben werde, und dass sie auch für’s Leben, nicht nur für die Bücher sei.“
(Griesinger 1842, 506).
1.2 Forschungsstand
Die Beschäftigung mit der medizinischen Sprache und ihrer kulturhistorischen Voraussetzungen hat in der (Sprach-)Geschichte eine recht lange Tradition. Dazu sollte man wissen, dass angehende Ärzte bis zum 17. Jahrhundert eine gründliche geisteswissenschaftliche Ausbildung an den Universitäten genossen haben (vgl. Stulz/Kaegi/Rudolph 2006, 7-9). Man könnte vielleicht etwas überspitzt behaupten, dass sie in der langen Medizingeschichte eigentlich die längste Zeit Geisteswissenschaftler waren. Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften waren - im Gegensatz zu heute - keine trennbaren Disziplinen, sondern harmonierende Konzepte zur Weltdeutung (vgl. ebd.). Von daher ist es nicht verwunderlich, dass Mediziner der lateinischen und griechischen Sprache schon vor Aufnahme ihres Studiums mächtig waren. Die Beschäftigung mit der antiken Medizin und Philosophie war von zentraler Bedeutung, sodass die Herkunft vieler Wörter und die ÄGeschichten“, die dahinter standen, noch geläufig waren. So gaben die griechischen Schriften des Gladiatorenarztes Galenos aus Pergamon bis ins 17. Jahrhundert den Ton im medizinischen Diskurs an - das sind über 1500 Jahre Zeitgeschichte. Im Zuge der Hochschulreformen nach 1968 sind die heutigen Ärztegenerationen nicht mehr mit ihren kulturhistorischen Voraussetzungen vertraut: Latinum und Graecum sind keine Bedingungen mehr für die Aufnahme des Studiums. Stattdessen gilt es, das medizinische Vokabular in einem einsemestrigen ÄKursus der medizinischen Terminologie“1 auswendig zu lernen.
Terminologische Kompendien zur medizinischen Sprache existierten, wie wir nachher noch sehen werden, schon so lange, wie es Ärzte und Heiler gibt. Diese Art des ÄWörtersammelns“ hat aber keinen Blick für die eigentliche Genese der Sprache, die sie beschreibt. Sprachgeschichtliche Darstellungen gibt es erst nach der Etablierung der Sprachgeschichtsschreibung als wissenschaftliche Disziplin. Interessanterweise gingen die frühen wissenschaftlichen Analysen der medizinischen Sprache nicht von Linguisten aus, sondern von den Ärzten selbst: Die erste sprachwissenschaftlich-fundierte Abhandlung über die deutsche medizinische Fachsprache stammt vom Göttinger Arzt Ludwig August Kraus aus dem Jahre 1821 und trägt den Titel Kritisch-etymologisches medicinisches Lexikon. Kraus verzichtete auf eine bloße Darstellung medizinischer Termini und bemühte sich stattdessen, wohl auch aus didaktischen Gründen, nachvollziehbare Erklärungen zur Sprache zu geben. Ähnlich verfuhr der Gymnasiallehrer Carl Eugen Pauli 1867 bei der Erstellung seines etymologischen Werkes Ueber die Benennung der Körpertheile bei den Indogermanen. Die Klinische Terminologie des Arztes Otto Roth, die 1878 erschien, beginnt mit einem eigenen Kapitel zur Sprachgeschichte der Medizin. 1894 folgte das Wörterbuch der medicinischen Kunstausdrücke, mit dem der Verfasser Otto Dornblüth eine eigene Sprachgeschichtslehre begründete. Ein Werk mit den damals wohl ausführlichsten Erklärungen zur Sprachgenese legte der Mediziner Adolf Griesbach 1927 vor: Medizinisches Wörter- und Nachschlagebuch. Dies sind zumindest die wichtigsten Darlegungen der frühen Sprachgeschichtsforschung im Bereich der medizinischen Fachsprache.
Mit dem wissenschaftlichen Zuwachs und der Einführung neuer sprachwissenschaftlicher Methoden erschienen ab den 1970er Jahren fundierte Einzelbände über die ärztliche Sprache als Fachsprache. Ein Vorreiter im Bereich der allgemeinen Fachsprachenforschung war Wilhelm Schmidt, der mit seinem Werk Charakter und gesellschaftliche Bedeutung der Fachsprachen (1969) wesentliche Theorien erarbeitet hat. Auch Hans-Rüdiger Fluck und Thorsten Roelcke mit seinem Buch Fachsprachen (2005) haben sich intensiv mit der ärztlichen Sprache und ihren historischen Grundlagen auseinandergesetzt.
Eine diachrone Untersuchung speziell zur medizinischen Sprache gab der Sprachwissenschaftler Edwin Rosner 1971 mit seiner Schrift Terminologische Hinweise auf die Herkunft der frühen griechischen Medizin heraus, in der er die Ursprünge verschiedener Termini klärt. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Lehr- und Fachbüchern für Ärzte und Medizinstudenten, denen meistens ein sprachgeschichtliches Kapitel vorangestellt ist. Hier ist besonders das Lehrbuch der Medizinischen Terminologie (2005) zu nennen, bei dem der Geschichtswissenschaftler und Mediziner Axel Hinrich Murken eigene Forschungsergebnisse einfließen lässt und immer wieder auf die Geschichte der medizinischen Sprache eingeht.
In der Sprachgeschichtsforschung überwiegen weniger die Gesamtdarstellungen, sondern mehr die ausführlichen Untersuchungen einzelner Epochen. Große Fortschritte sind durch Gerhard Eis‘ Untersuchung Medizinische Fachprosa des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (1981) gemacht worden, worin er altdeutsche Sammelhandschriften und Pestberichte beleuchtet. Mechthild Habermanns Habilitationsschrift Deutsche Fachtexte der frühen Neuzeit - Naturkundlich-medizinische Wissensvermittlung im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache (2001) zeichnet die gegenseitigen Einflüsse verschiedener alter Sprachen nach. Neue Ergebnisse liefert auch Jörg Riecke mit Die Frühgeschichte der mittelalterlichen medizinischen Fachsprache im Deutschen (2005), dessen zweiter Band sogar ein etymologisches Wörterbuch ist. Einen völlig neuen Ansatz wählte Susanne Richter 2009 mit der Dissertation Metaphorische Gedankenstrukturen in der Entstehung der medizinischen Fachsprache in Europa, worin sie insbesondere die Herkunft der medizinischen Sprachbilder dokumentiert.
Wie man sieht, gibt es eine ganze Reihe an fundierter Literatur zum Thema. Die Forschung wurde in den letzten Jahren insbesondere auf die mittelalterliche Fachliteratur gelenkt. Zu den griechisch-lateinischen Ursprüngen in der klassischen Antike gibt es allerdings wenig Neues. Eine kompakte Darstellung der Entwicklung der medizinischen Fachsprache vor dem Hintergrund einer eigenen Fachsprachentheorie fehlt bisher. Die vorliegende Arbeit möchte diese Lücke schließen, indem sie an der Schnittstelle von Medizin und Sprachwissenschaft ansetzt.
2 DIE MEDIZIN UND IHRE SPRACHE(N)
2.1 Allgemeine Charakteristika von Fachsprachen
Eine allgemeingültige Charakterisierung von ‚Fachsprachen‘ im Sinne einer abgeschlossenen Definition gibt es nicht; ebenso wenig lässt sich ihr Pendant ‚Gemeinsprache‘ definieren. Die Gründe dafür sind zum einen die große Anzahl der linguistischen Schulen mit ihren unterschiedlichen Auffassungen und zum anderen die Vielzahl der Fachsprachen selbst, die sich nie alle widerspruchslos einer Kategorisierung unterordnen. Deshalb ist im Folgenden eine Auswahl zusammengestellt, die Fachsprachen aus der Perspektive verschiedener Schulen und Theorien vorstellt. Das ist zwar eine Kompromisslösung, Ziel soll es aber sein, eine möglichst umfangreiche Vorstellung darüber zu erhalten, was man unter ‚Fachsprache‘ verstehen kann. Eine häufig zitierte Erklärung des Begriffs liefert Wilhelm Schmidt. Für ihn sind Fachsprachen
[…] das Mittel einer optimalen Verständigung über ein Fachgebiet unter Fachleuten; sie ist gekennzeichnet durch einen spezifischen Fachwortschatz und spezielle Normen für die Auswahl, Verwendung und Frequenz gemeinsprachlicher lexikalischer und grammatischer Mittel […] (Schmidt 1969, 17).
Eine Fachsprache ist demnach keine Sprache, die allen in gleicher Weise zugänglich wäre; sie ist hauptsächlich auf ganz bestimmte Sprechergruppen beschränkt und hat sich von der Gemeinsprache mehr oder weniger weit entfernt, nie aber ganz von dieser gelöst. Eine solche Sprache enthält immer auch gemeinsprachliche Mittel.
Einige Autoren (vgl. Fluck 1980, 11) lehnen den Begriff ‚Sondersprache‘ als Äquivalent2 ab, weil er spezielle Sprachformen, wie Jugend- und Szenesprachen, einbezieht, die aber nicht - im Gegensatz zu Fachsprachen - für Klarheit und Eindeutigkeit stehen. Die Bezeichnung ‚Berufsjargonismus‘ trifft auch nicht den Kern, weil dieser quasi zwischen dem Fach und dem emotionalen Befinden der Sprecher angesiedelt ist und so seinen objektiv-neutralen Ausdruck verloren hat. Synonym verwendbar ist der Begriff ‚Technolekt‘. Technolekte sind auf die Bedürfnisse eines Fachgebietes Äzugeschnitten“ und existieren in den meisten Fällen sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher Form. Roelcke sieht in den früher üblichen Teildefinitionen von ‚Fach‘ und ‚Sprache‘ mehrere Zirkelschlüsse (vgl. Roelcke 2005, 17): Es mache wenig Sinn den Bereich eines Faches lediglich auf ‚fachlich‘ zu begrenzen, und es mache genauso wenig Sinn, Sprache als ‚alle sprachlichen Mittel‘ bestimmen zu wollen. Derartige Definitionen sagen nichts aus. Deshalb präzisiert Roelcke seine Bestimmung, indem er das Augenmerk auf die soziokulturellen Determinanten der Technolekte legt (vgl. ebd.). Es sind also immer die regionalen, sozialen, historischen und ganz besonders die funktionalen Bedingungen der Fachsprache zu untersuchen. Eine solche Methodik kommt zu dem Ergebnis, dass Technolekte keine ÄInselsprachen“ sind, sondern Varietäten von Einzelsprachen. Die Fachsprache ist in dieser Konzeption eine Subsprache innerhalb einer Einzelsprache, die der Verständigung über ein bestimmtes Gegenstandsfeld dient.
Die Prager linguistische Schule, deren Vertreter Bohuslav Havránek3 war, hebt den funktionalen Sprachstil als eigenständigen Typen hervor: Im funktionalen Bereich gibt es mehrere ÄMerkmale“ von Fachsprachen, durch die sie sich von der Alltagssprache abgrenzen. So besitzen alle Technolekte einen hohen Grad an Deutlichkeit, d.h. die sprachliche Darstellungsfunktion wird in besonderer Weise erfüllt. Dem jeweiligen Fachwortschatz kommt große Bedeutung zu. Im Idealfall gibt es für jeden Signifikant des Faches nur ein monosemes Signifikat, was die Sprache als wenig flexibel erscheinen lässt. Darüber hinaus ist die Verständlichkeit eine weitere Eigenschaft, die dem Rezipienten - wenn er der Fachsprache mächtig ist - Vorteile bringt. Die sprachsituativen Bedeutungsvarianten sind nur minimal, wobei ein möglichst fehlerfreies Verstehen gewährleistet ist. Technolekte sind auch durch ihre Sprachökonomie gekennzeichnet. Zwar sind sprachökonomische Vorgänge in den Gemeinsprachen ebenso zu finden, bei den Fachsprachen sind sie aber prägend. Die unmittelbare Korrespondenz von Fachgegenstand und Bedeutung wird durch die Anonymität von Sprecher und Rezipient erreicht. Beide treten hinter der Sprache zurück und sind für den Kommunikationsprozess nur von sekundärer Bedeutung. Auf der anderen Seite, nämlich im sozialen Hinblick, rücken die Sprachteilnehmer aber wieder in den Vordergrund, weil das Eingebundensein in ihre Gruppensprache eine Art ÄAnbindung“ untereinander ist. Diese Identitätsstiftung ist gerade bei der medizinischen Sprache nicht zu unterschätzen. Nach der sozialen Rollentheorie von Parson (vgl. Parson 1951 zit. n. Siegrist 2005, 239), können Individuen an bestimmten sozialen Schichten nur partizipieren, wenn sie ihre sozialen Rollen gut Äspielen“. Dies können sie in der ÄÄrzteschicht“ nur dann erfolgreich tun, wenn sie einen elaborierten Sprachcode haben, der sich vom restringierten Code der Unterschicht deutlich unterscheidet (vgl. ebd., 195).
Fachsprachen stehen den Gemeinsprachen insofern gegenüber, als sie fachlich-praktisches und/oder wissenschaftlich-theoretisches Handeln in bestem Maße unterstützen bzw. erst möglich machen. Die Alltagssprache hat dagegen einen mehr kommunikativen Stil, und die Literatursprache ist hauptsächlich ästhetischer Natur. Doch ist es keines Falls so, dass sich Technolekte Äaußerhalb“ der Alltagssprache bewegen würden. Vielmehr haben sie sich einige alltägliche Sprachstrukturen, wie deren Syntax etc., angeeignet (vgl. Fluck 1985, 12).
Man kann ferner zwei Gliederungskriterien für Fachsprachen angeben: Die horizontale Gliederung ist an der Art der einzelnen Fachbereiche selbst ausgerichtet, wobei es Sprachen der Wissenschaft, der Technik und der Institutionen als Unterkategorien gibt. Folgt man den einzelnen Abstraktionsebenen innerhalb der Fächer, erhält man eine vertikale Gliederung. Die bekanntesten Theorien hierzu hat Heinz Ischreyt in den 1960er Jahren vorgelegt (vgl. Ischreyt 1965, 43-49). Er unterscheidet drei verschiedene Abstraktionsgerade: Wissenschaftssprache oder Theoriesprache mit höchster Abstraktionsfähigkeit, fachliche Umgangssprache sowie die Werkstattsprache, welche den geringsten Abstraktionsgrad aufweist. Dieses Modell wurde in den 1970er Jahren durch Lothar Hoffmann erweitert (vgl. Hoffmann 1985, 64-70). Seine Theorie enthält fünf Sprachstufen: Sprache der theoretischen, der experimentellen und der angewandten Wissenschaften sowie die Sprachen der materiellen Produktion und Konsumtion. Eine andere vertikale Gliederungsweise hat Walther von Hahn gewählt, denn er differenziert Fachsprachen nach kommunikativen Abstraktionsebenen, Handlungsweisen und Distanzen (vgl. von Hahn 1983, 72-83).
Jeder Technolekt enthält eine bestimmbare Anzahl von genormten Fachbegriffen, bei denen in verbindlicher Weise Bedeutungen, Verwendungen und Lautungen festlegt sind. Diese bezeichnet man als ‚Termini‘. Alle Termini einer Fachsprache zusammen heißen ‚Terminologie‘. Sind die Termini systematisch dargelegt, wie es z.B. in der Nomina Anatomica gegeben ist, spricht man von einer ‚Nomenklatur‘. Dies entspricht im de Saussureschen Sinne einer theoretischen Idealsprache - der langue. Auf der Ebene der parole aber, oder nach Noam Chomsky Performance, werden aus Gründen der Bequemlichkeit oder im Beisein von Laien ‚Trivialbezeichnungen‘ benutzt. Das sind ungenormte, simplifizierende Varianten oder Hybride, also Mischformen aus fach- und gemeinsprachlichen Mitteln.
2.2 Besonderheiten der medizinischen Fachsprache
Die medizinische Sprache erfüllt viele der oben genannten Kriterien einer Fachsprache. Sie ist auf der vertikalen Ebene eine Wissenschaftssprache mit hohem Abstraktionsgrad; sie hat aber auch graduelle Übergänge zur Praxissprache, nämlich dann, wenn sich Ärzte und nichtärztliches Personal über medizinische Inhalte unterhalten. Da die Medizin keine Einzeldisziplin ist, kann man ihr auf der horizontalen Ebene eine Vielzahl von Subsprachenfächer zuordnen: die Anatomie als Sprache über die Bestandteile des menschlichen Körpers, die Physiologie als Sprache über die normalen Körperfunktionen, die Pathologie als Sprache über die gestörten Körperabläufe etc. Im klinischen Alltag gibt es andere innerfachliche Sprachebenen: Anamnese4, Definition, Ätiologie5, Pathogenese6, Klinik7, Diagnostik, Differenzialdiagnose8, Therapie und Prognose. Entsprechend vielfältig sind die Textsorten in der medizinischen Kommunikation. Sie reichen von Arztbriefen, Krankenakten, Lehr- und Übungsbüchern, Fallberichten bis hin zu wissenschaftlichen Aufsätzen.
Der heutige deutsche medizinische Fachwortschatz umfasst schätzungsweise 500.000 Spracheinheiten; davon sind allein 20.000 Bezeichnungen auf organische Funktionen bezogen und 60.000 auf Krankheiten und ärztliche Methoden (vgl. Porep/Steudel 1974, Ahlheim 1992, Schipperges 1988 zit. n. Roelcke 2005, 197). Die Körperteile werden mit rund 10.000 Korpuskeln beziffert (vgl. ebd.). Hinzu kommen etliche Trivialbezeichnungen und hyperonyme Kurzformen. Diese medizinischen Fachwörter enthalten, wie die internationalen Medizinsprachen auch, einen großen Anteil lateinisch-griechischer Wortformen, die dem Deutschen unvermittelt gegenüberstehen. Es handelt sich also nicht um eine Fremdsprache, sondern um eine Art ÄSprachenmix“. Das wird besonders einsichtig, wenn man die seit den 1960er Jahren zunehmenden anglo-amerikanischen Wörter in der medizinischen Terminologie registriert (vgl. hierzu die Studie von Wiese 2006, 275- 295).
Die wesentlichen Prinzipien im Bereich der fachsprachlichen Wortbildung sind Entlehnungen aus den Sprachen der klassischen Antike sowie die Übernahme von Wörtern anderer Sprachgemeinden. Ein weiteres Verfahren der Wortbildung ist die Verwendung von Eigennamen, z.B. ‚Morbus Koch‘, benannt nach Robert Koch, dem Entdecker des Tuberkulose-Erregers. Und schließlich die Bildung durch systematische Suffigierung: z.B. ‚-itis‘ als Bezeichnung eines entzündlichen Prozesses oder ‚-om‘ für die Beschreibung einer Geschwulst.
3 SPRACHGESCHICHTE DER MEDIZIN
3.1 Ursprünge einer alten Sprache - Die Antike
Die Wiege der medizinischen Sprache liegt im alten Griechenland des 8. vorchristlichen Jahrhunderts. Homer beschreibt in seiner Ilias das Wirken der zwei Söhne des Asklepios, Podaleirios und Machaon. Er gibt uns mit seiner Mythologie einen Einblick in die Heilkunst der damaligen Zeit und verwendet dabei eigene Begriffe, um den menschlichen Körper zu beschreiben. Einige Wissenschaftler sprechen sogar von einer ‚Homerschen Anatomie‘ (vgl. Wilmanns/Schmitt 2002, 16).
[...]
1 An der medizinischen Fakultät des Universitätsklinikums Magdeburg wird dieser Kurs, wie an den meisten anderen deutschen Universitäten, von Medizinhistorikern, sprich Geisteswissenschaftlern, durchgeführt.
2 In den nationalen Literaturen der Sprachwissenschaft verwendet man für den Fachsprachenbegriff auch ‚special‘, ‚technical languages‘ (engl.) oder langues de spécialité (franz.).
3 Vgl. Bohuslav Havránek: The functional differentiation of the standard language. Zum Problem der Norm in der heutigen Sprachwissenschaft und Sprachkultur. In: Actes du quatrième congrès international de linguistes. Copenhague 1938.
4 Bei der Anamnese wird die Krankheit im Dialog mit dem Patienten erörtert. Hier tritt der praxissprachliche Charakter besonders hervor.
5 Die Ätiologie ist in der Medizin die Lehre von den Krankheitsursachen
6 Die Pathogenese referiert die Abläufe, die zur Entstehung einer Krankheit beigetragen haben. Sie steht der reinen Wissenschaftssprache sehr nahe.
7 Klinik‘ meint die Symptome, mit denen sich eine Krankheit beim Patienten äußert.
8 Um eine Krankheit sicher diagnostizieren zu können, muss der Arzt mit einer Differenzialdiagnose andere Krankheiten mit ähnlichem Erscheinungsbild vorher ausschließen.