Das literarische Interesse an der Thematik schlägt sich in erzählerischen Werken nieder, welche die Institution Altenheim vorrangig als Schauplatz der Handlung und somit auch als Gegenstand der Betrachtung in den Mittelpunkt rücken. Da es sich bei den Figuren der Heimbewohner meist um Menschen handelt, welche durch Krankheit und Bedürftigkeit charakterisiert sind, fokussieren jene Pflegeheimromane - um auf das Begriffsinventar Miriam Seidlers zurückzugreifen3 - die negativ besetze Seite des Alter(n)s. An Annette Pehnts Haus der Schildkröten und Die letzten Dinge von Annegret Held soll im Folgenden untersucht werden, wie das Lebensmilieu des Altenheims dargestellt wird und was die Romane im Einzelnen hervorheben und aufzeigen. Nach einer überblick-haften Gegenüberstellung, welche die groben Unterschiede und Schwerpunkte der Romane klar-legen soll, werden die Texte in Hinblick auf ihre formalen Darstellungsformen untersucht. Die narratologische wie sprachliche Gestaltung verleiht den zu behandelnden Pflegeheimromanen eine je eigene Wirkung und ein eigenes Deutungsspektrum. So sollen die Romane anschließend auch auf ihre mögliche Aussagekraft hin untersucht werden. Letztlich stellt sich die Frage, ob und inwiefern ein belletristisches Werk, das ein gesellschaftliches Phänomen wie die Pflegebedürftigkeit alter Menschen behandelt, Wirkung erzielen kann.
Inhalt
A. „ lter“ in Gesellschaft und Literatur
B. Alterstexte in der Gegenwart: eine vergleichende Untersuchung der Pflegeheim- romane Haus der Schildkröten (Annette Pehnt) und Die letzten Dinge (Annegret Held)
I. Zum Überblick: Gegenüberstellung und Abgrenzung der beiden Romane͙
II. Verhandlung des Schauplatzes „ ltersheim“
1. Literarische Darstellung der Lebenswelten als „drinnen“ und „draußen“ bei Annette Pehnt
2. Entwurf von „Haus bendrot“ in Die letzten Dinge
a, Räumliche Konstruktion und ihre literarischen Funktionen
b, Darstellung des Pflegeheims aus rationaler Sicht
III. Untersuchung der formalen Darstellung und ihrer Wirkung
1. Erzählerische Mittel und was sie im Einzelnen aufzeigen
2. Die Wirkung der sprachlich-stilistischen Gestaltung
3. Rezeptionsästhetische Wirkung und mögliche Aussagekraft
a, „Die letzten Dinge“ als Unterhaltungsliteratur oder Satire?
b, „Haus Ulmen“ als Verhängnis des Lebens
C. Überlegungen zur möglichen Wirksamkeit des Pflegeheimromans
A. „ lter“ in Gesellschaft und Literatur
„ nti-Aging ist vorbei, die Kunst des ewigen Jungbleibens wird durch die Kunst des richtigen Al- terns ersetzt.“1 Artikel wie Warum die Mode kein Alter mehr hat zeigen in exemplarischer Weise vor, wie ambivalent das Thema „ lter“ in der heutigen Gesellschaft behandelt wird. Mit der Erfas- sung des demographischen Wandels und seiner möglichen Folgen ist die Problematik seit längerer Zeit in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gerückt. In erster Linie wird der sozio- kulturelle Umstand einer „alternden“ Gesellschaft aus wirtschaftlicher Sicht bewertet und in Ver- bindung zu den voraussichtlich negativen Auswirkungen auf das deutsche Renten-und Sozialsys- tem gesetzt. Demgegenüber steht das gleichermaßen durch öffentliche Medien, insbesondere durch Printmedien, vermittelte Bild des aktiven, in die Gesellschaft integrierten Senioren. Der Ar- tikel Warum die Mode kein Alter mehr hat etwa propagiert ein positives Altersbild und verweist auf Models, die das 40., 50. oder 60. Lebensjahr bereits überschritten haben. Jedoch blendet der Bericht die Thematik der berufsunfähigen und pflegebedürftigen Menschen völlig aus, welches ein weitaus brisanteres Thema darstellt - und das nicht nur im gesellschaftlichen Diskurs. Denn „[in den letzten Jahren ist auch in der erzählenden Literatur das Interesse an Fragen der Pflegebedürf- tigkeit und Hilfsbedürftigkeit alter Menschen gewachsen“.2
Das literarische Interesse an der Thematik schlägt sich in erzählerischen Werken nieder, welche die Institution Altenheim vorrangig als Schauplatz der Handlung und somit auch als Gegenstand der Betrachtung in den Mittelpunkt rücken. Da es sich bei den Figuren der Heimbewohner meist um Menschen handelt, welche durch Krankheit und Bedürftigkeit charakterisiert sind, fokussieren jene Pflegeheimromane - um auf das Begriffsinventar Miriam Seidlers zurückzugreifen3 - die nega- tiv besetze Seite des Alter(n)s. An Annette Pehnts Haus der Schildkröten und Die letzten Dinge von Annegret Held soll im Folgenden untersucht werden, wie das Lebensmilieu des Altenheims darge- stellt wird und was die Romane im Einzelnen hervorheben und aufzeigen. Nach einer überblick- haften Gegenüberstellung, welche die groben Unterschiede und Schwerpunkte der Romane klar- legen soll, werden die Texte in Hinblick auf ihre formalen Darstellungsformen untersucht. Die narratologische wie sprachliche Gestaltung verleiht den zu behandelnden Pflegeheimromanen ei- ne je eigene Wirkung und ein eigenes Deutungsspektrum. So sollen die Romane anschließend auch auf ihre mögliche Aussagekraft hin untersucht werden. Letztlich stellt sich die Frage, ob und inwiefern ein belletristisches Werk, das ein gesellschaftliches Phänomen wie die Pflegebedürftig- keit alter Menschen behandelt, Wirkung erzielen kann.
B. Alterstexte in der Gegenwart: eine vergleichende Untersuchung der Pflegeheimroma- ne Haus der Schildkröten (Annette Pehnt) und Die letzten Dinge (Annegret Held)
I. Zum Überblick: Gegenüberstellung und Abgrenzung der beiden Romane
In beiden Romanen stellt das Pflegeheim, dessen Schauplatz und Figuren, das wesentliche Zent- rum der Erzählung dar. Textsortenspezifisch können die vorliegenden Romane dennoch durch die Einteilung in einen offenen und einen geschlossenen Pflegeheimroman voneinander unterschie- den werden: Miriam Seidler vollzieht die Kategorisierung nach dem Kriterium, ob die Handlung vorwiegend oder nur teilweise am Schauplatz des Altenheims angesiedelt ist.4 Jedoch, auch wenn die zentralen Figuren Ernst und Regina im Haus der Schildkröten „nicht an diesen räumlichen Kon- text gebunden sind“5, so bildet das Pflegeheim doch den wesentlichen Bezugsrahmen für den Handlungsaufbau und die Darstellung der vorgeführten Protagonisten. Als zentrale Figuren wer- den dabei Professor Sander und sein Sohn Ernst sowie Frau von Kanter und deren Tochter Regina in den Blick genommen. Der zweite von insgesamt drei Teilen des Romans fokussiert vor allem die Beziehung zwischen Ernst und Regina. Am Rande werden dabei auch die Figuren vereinzelter Mit- arbeiter und Bewohner des Pflegeheims näher charakterisiert. Dagegen stehen im Roman Die letzten Dinge die Angestellten der Pflegeeinrichtung im Mittelpunkt der Handlung. Das Altenheim ist hier einerseits der Ort des Arbeitsalltags, aber es dient teilweise auch als Schauplatz des Privat- lebens nicht nur der Bewohner, sondern auch der Angestellten. Das betrifft vor allem die Figur der Praktikantin Lotta, die im Haus „ bendrot“ als Hilfskraft arbeitet und gleichzeitig dort wohnt. Bei Lotta handelt es sich um eine wichtige Figur für die Rezeption des Textes: Indem sie nach und nach das Gebäude und seine Bewohner erkundet und sich allmählich im Arbeitsalltag zurechtfin- det, wird auch der Einblick des Lesers erweitert und vertieft. Ähnlich wie bei Annette Pehnt setzt sich die Erzählung aus einzelnen voneinander getrennten Episoden zusammen, die primär aus der Perspektive der im jeweiligen Abschnitt beleuchteten Figur erzählt sind. Meist geht mit jedem neuen Abschnitt ein Schauplatzwechsel und/oder Zeitsprung einher. Die Erzählung folgt einer Chronologie, die einen erzählten Zeitrahmen von etwa 4-6 Monate umfasst. Da Helds Roman mehrere Handlungsstränge aufweist und eine größere inhaltliche Entwicklung verhandelt, er- scheint er insgesamt handlungsbetonter.
Wiederkehrende Ereignisse im Heimalltag strukturieren die Erzählung, so dass die wiederholten Handlungsmuster den Charakter eines Leitmotivs gewinnen.6 Während der Inhalt des Romans Die letzten Dinge in erster Linie durch die alltägliche Arbeit der Angestellten gegliedert ist, stellen bei Annette Pehnt vor allem die regelmäßigen Besuche im Altenheim das zentrale Strukturelement dar. Das beeinflusst nicht nur den unterschiedlichen inhaltlichen Fokus der beiden Romane, son- dern auch die verschiedenartige Darstellung des Lebensmilieus Altenheim.
II. Verhandlung des Schauplatzes „ ltersheim“
1. Literarische Konstruktion des Lebensmilieus bei Annette Pehnt
Während sich die Handlung des Romans Die letzten Dinge überwiegend im Pflegeheim selbst abspielt, wird durch die Fokussierung Ernst und Reginas im Haus der Schildkröten eine Art Außenwelt vorgeführt, die in kontrastivem Verhältnis zum „Haus Ulmen“ steht. Die Gegensätzlichkeit der jeweiligen Lebenswelten wird durch die räumliche Trennung von innerhalb und außerhalb des Altenheims deutlich. Während die schallisolierten Fenster im Haus Ulmen selbst das Zwitschern der Vögel aussperren (vgl. HDS 16)7, nimmt Regina, auf dem Parkplatz vor dem Heim stehend, ihre Umwelt mit allen Sinnen wahr:
Regina sieht die blassen Gesichter hinter der Scheibe und atmet tief ein und aus, eine Mischung aus Nikotin und bendluft [͙]. Sie hört die Amseln, die Bremsen des Stadtbusses, einen Rasenmäher [͙, es riecht nach gesprengtem Rasen, nach Sommerflieder, nach Parkplatzstaub, wunderbar [͙. (HDS 22)
Das Leben im Heim bringt somit eine Isolation mit sich, die durch die räumliche Einschränkung mit einer Begrenzung der Sinneswahrnehmung und des Erfahrungskreises verbunden ist. Der Verlust, der damit einhergeht, kommt mit der Figur der alten Frau Hint zum Ausdruck, die durch die Erinnerungen an ihr vorheriges Leben „[als sie noch draußen und wendiger war“ (HDS 97) charakterisiert wird. Auch an der Figur des Pflegers Maik, der quasi Zugang zu „drinnen“ wie „draußen“ hat, wird der Gegensatz der beiden Lebenswelten deutlich (vgl. HDS 129).
Während Ernst und Regina also ihre Arbeits-und Lebenswelt als selbstverantwortliche Menschen aktiv gestalten, wird den alten Menschen in Haus Ulmen der Lebensrhythmus von außen aufer- legt: Tagesbeginn, Essenszeit und-plan, Freizeitgestaltung, Stunden der Geselligkeit, ja sogar der Gesprächsstoff unter den Bewohnern (vgl. HSD 21f.) werden nicht von den Heimbewohnern, sondern größtenteils von den Menschen ihres Umfeldes bestimmt. Ihre Zeiteinteilung folgt dem- entsprechend einer festgelegten Routine, so dass die Tage scheinbar bedeutungslos vorüberzie- hen. Selbst die verschiedenen Freizeitprogramme, die Haus Ulmen seinen Bewohnern anbietet, scheinen die Monotonie nicht durchbrechen zu können. Vielmehr als etwa die Freude am Tanzen rückt die Schwangerschaft der Kursleiterin Frau Halter ins Interesse der alten Menschen: „Dinge, die wachsen, darf man sich nicht entgehen lassen im Haus Ulmen“ (HDS 38). Auch die Feierlich- keiten innerhalb des Pflegeheims können dem Gefühl von Vergeblichkeit keinen Abbruch tun; der Kalender dient nur als „Beweis, daß die Zeit vergeht“ (HDS 179). Einzig die Besuchstage scheinen einen Lichtpunkt im eintönigen Alltag der Senioren zu bilden. Und dabei ist es eben genau der wöchentliche Aufenthalt im Altenheim, der bei Regina und wohl auch bei Ernst für „bleierne Dienstagsunlust“ (HDS 72) sorgt: 8
Während das Leben im Haus Ulmen einem sinnentleerten Kreislauf von immer wiederkehrenden Handlungsmustern und einer allgemeinen Lethargie unterliegt, vermittelt die Außenwelt Dyna- mik und Freiheit. Das Pflegeheim, in dessen Gängen man nur „Kriechen und Schlurfen“ (HDS 39) sieht, hält der Jugendlichkeit von Maik (vgl. HDS 39) und dem Leben „draußen“ eine kontrastive Starre entgegen. Als Regina wieder einmal das Gebäude des Pflegeheims betritt, wünscht sie sich unwillkürlich ein „dickes, waches Baby“ (HDS 51), dessen Vorstellung diametral zu der leblosen Atmosphäre im Haus Ulmen steht. Die Gegensätzlichkeit von Starrheit und Leben kommt beson- ders an dem Punkt der Handlung zum Ausdruck, als Ernst und Regina während des Gottesdiens- tes zum Erntedankfest in einem abgelegenen Raum von Haus Ulmen miteinander schlafen (vgl. HDS 82). Während die Schauplätze von „drinnen“ und „draußen“ inhaltlich und formal meist durch die einzelnen Textabschnitte voneinander getrennt waren, prallen an dieser Stelle die bei- den gegensätzlichen Welten aufeinander. Nicht nur die Erregtheit ihrer Körper steht in Kontrast zu den von Krankheit und Degeneration gezeichneten alten Menschen. Dem jugendlichen Über- mut des Liebespaares wird der träge Eindruck, welchen „Wichtelzwerge aus Walnußhälften, selbstgestrickte Socken, Mobiles aus Korkenzieherhaserl und Hagebuttenmännchen“ (HDS 83) hervorrufen, in sarkastischer Weise entgegengestellt. Letztlich kommt die Gegensätzlichkeit zwi- schen den beiden Lebenswelten verstärkt dadurch zum Ausdruck, dass eine grundlegende Kom- munikationsbarriere die mögliche Verbindung von Jung und lt, von „drinnen“ und „draußen“, untergräbt. Das trägt letztlich verstärkt zur sozialen Separierung der Heimbewohner bei, welche sich allein durch die Unterbringung in „Spezialhäusern“ in einer Gruppenisolierung befinden, so dass das Leben innerhalb einer Organisation nicht mit dem Leben „draußen“ verglichen werden kann.9
Die literarische Konstruktion des Pflegeheims im Haus der Schildkröten basiert somit wesentlich auf der Kontrastierung zweier Lebenswelten, welche aber letztlich, wie unten näher erläutert werden soll, überbrückt wird. Haus Ulmen wird durch eine derartige Isolation charakterisiert, wie sie Micheal Foucault als wesentliches Kriterium für die sogenannten Heterotopien anführt10. Zu diesen Orten, die zwar innerhalb der Gesellschaft existieren, aber doch nur einen Randplatz außerhalb der Norm beziehen, zählt Foucault selbst auch die Altenheime.11
2. Der Entwurf von „Haus bendrot“ in Die letzten Dinge
a, Die räumliche Konstruktion und ihre literarischen Funktionen
Entsprechend der Textsortenunterscheidung zwischen offenem und geschlossenem Pflegeheimroman wird das Lebensmilieu in Die letzten Dinge weniger als bei Annette Pehnt durch eine Kontrastierung von den Lebenswelten innerhalb und außerhalb der Altenheimeinrich- tung definiert. Die meisten Handlungsstränge sind mit dem Schauplatz des Altenheims verbun- den, so dass eine einheitliche Erzählwelt aufgebaut wird. Obwohl die Angestellten eines Alten- heims normalerweise sozial in die Außenwelt integriert sind12, so dass Bewohner und Personal sich als „zwei sich weitgehend ferne Welten“13 gegenüberstehen, kontrastieren nur wenige Orte mit der geschlossenen Szenerie des Pflegeheims; so etwa die Clubs und Schlafzimmer der durch- feierten Party- und Liebesnächte des Pflegers Ivy, aber auch das Dach von Haus Abendrot selbst. Dieser Ort eröffnet etwa der Pflegerin Gianna den Ausblick ins Tal und die Möglichkeit, frische Luft zu atmen (vgl. DLD 66). Am Ende der Handlung bietet die nächtlich-romantische Stimmung auf dem Dach die Kulisse für die zärtliche Umarmung zwischen Ivy und Lotta (vgl. DLD 362). Im Gegensatz zur literarischen Zeichnung des Altenheims in Haus der Schildkröten entwirft Annegret Held eine detaillierte Raumkonstellation von dem Gebäude Haus Abendrot. Vor allem die Per- spektive Lottas lenkt den Blick des Lesers durch die verschiedenen Bereiche der Einrichtung.14 Dabei besitzen die verschiedenen Etagen und Räume eine je eigene Atmosphäre und nehmen so eine spezielle inhaltliche Funktion im Text ein. Dementsprechend trägt die Beschreibung der Zimmer auch zur Charakterisierung derjenigen Figur bei, welcher der Raum zugeordnet wird.15 Im Falle des Heimbewohners Schiwrin etwa werden die Trostlosigkeit seiner Lage und seine daraus resultierende Selbstaufgabe alleine durch die Beschreibung der Ausstattung seines Zimmers deutlich: 16
Wie die gesamte Haupthandlung befindet sich auch Schiwrins Zimmer am Schauplatz der Station III. Dort sind alle Räume, die für den Zutritt der verantwortlichen Pfleger bestimmt sind, auf rati- onelle Versorgung der Heimbewohner ausgerichtet. Dementsprechend erscheint der Flur Ober- schwester Rosalinde unter Zeitdruck und Arbeitsüberlastung übermäßig lang (vgl. DLD 61), so als ob sie die Zimmer der Patienten nicht schnell genug erreichen könnte. Im Keller des Hauses sind Vorräte von Pflegeutensilien wie Windeln aufbewahrt, aber auch die Leichen der Verstorbenen und deren Hinterlassenschaften sind dort untergebracht. In übertragenem Sinne fungiert der Kel- ler als eine Art Unterbewusstsein des Hauses, indem dort alles von den Menschen des Hauses Verdrängte befindet: „Niemand ging freiwillig hierher17 weiter Bestand hat. Denn dort befindet sich nicht nur die Garderobe ehemaliger Heimbewohner, welche mit der persönlichen Vorgeschichte der einstigen Besitzer verbunden sind, sondern auch der Geist einer Franziskanerin, deren Orden zuvor für die Betreuung des Hau- ses übernommen hatte. Der phantastische-transzendentale Einschlag in Annegret Helds Roman ist ein Element, das einen wesentlichen Unterschied zu Haus der Schildkröten darstellt.
b, Darstellung des Pflegeheims aus rationaler Sicht
Der Einbezug eines übersinnlichen Handlungselements stellt auch innerhalb Helds Roman einen Kontrast zum realistisch-pragmatischem Blick auf die Einrichtung des Pflegeheims dar. Denn nicht nur die räumliche Konstruktion folgt einer wirklichkeitsnahen Ausrichtung. Auch die Krankheits- bilder der Heimbewohner werden aus pathologischer Perspektive beschrieben und einige Szenen der hygienischen wie medizinischen Versorgung detailgetreu dargestellt. Dabei kommt die The- matisierung rechtlich-bürokratischer Umständlichkeit, wie die Pflicht zur ordnungsgemäßen Bean- tragung eines Bettgitters (Vgl. DLD 282), nicht zu kurz. Der wirtschaftliche Aspekt der Pflegeein- richtung bildet schließlich ein grundlegendes Thema in Die letzten Dinge. So wird das Medien- schlagwort „Pflegenotstand“ in seiner ganzen Bandbreite literarisch in Szene gesetzt: Die Station III ist heillos unterbesetzt, weswegen nicht nur menschliche Zuneigung, sondern sogar die ratio- nelle Verpflegung der Heimbewohner oftmals zu kurz kommt (vgl. DLD 61).
[...]
1 Prüfer, Tillmann: Warum die Mode keine Alter mehr hat, S.36-37. In: Zeit Magazin (2012) Nr. 8, S. 36.
2 Seidler, Miriam: Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen 2010, S. 315
3 S. Seidler, Miriam: Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen 2010 2
4 Seidler: Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, S. 317
5 Ebd., S. 318
6 Vgl. Ebd. 328
7 Im weiteren Verlauf wird auf folgende Ausgabe von Annette Pehnts Haus der Schildkröten Bezug genommen: nnette Pehnt: Haus der Schildkröten. München 2006. Seitenangaben mit der bkürzung „HDS“ beziehen sich auf diese Ausgabe.
8 Es liegt nahe, an dieser Stelle einen Vergleich zu Manns Zauberberg zu ziehen. Auch hier dient eine Art Pflegeheim als Schauplatz, wobei das am Berg gelegene Sanatorium dem Leben „unten“ gegenübersteht. Interessant ist die Verbindung zwischen Zeitempfinden und dem Dämon Stumpfsinn: „Das Leben ohne Zeit, das sorgund hoffnungslose Leben, das Leben als stagnierende betriebsame Liederlichkeit, das tote Leben.“ (vgl. Mann, Thomas: Der Zauberberg. Frankfurt am Main 20044, S. 863)
9 Vgl. Prahl, H.-W./Schroeter, K.R.: Soziologie des Alterns. Eine Einführung. Paderborn [u.a.] 1996, S.170 5
10 Foucault, Michael: Andere Räume., S. 34-46. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Hg. v. Karlheinz Barck [u.a.]. 1991 Leipzig, S. 39f.
11 Vgl. Ebd., S. 39ff.
12 Vgl. Prahl/Schroeter: Soziologie des Alterns, S.172
13 Ebd., S.173
14 Die räumliche Erkundung geht dabei mit dem Prozess einher, in dem sich Lotta nach und nach mit Arbeitsbereichen des Pflegeberufs und mit den einzelnen Heimbewohnern des Hauses vertraut macht. Vgl. Seidler: Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, S. 325
15 Vgl. ebd., S. 323
16 Im weiteren Verlauf wird auf folgende Ausgabe des Romans Die letzten Dinge von Annegret Held verwiesen: Held, nnegret: Die letzten Dinge. 2005 Frankfurt am Main. Seitenangaben mit der bkürzung „DID“ beziehen sich auf diese.
17 Seidler: Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, S. 324 7