Russischer Parlamentarismus vs. Weltkultur
John Meyers Weltkulturansatz und der russische „Superpräsidentialismus“
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Aufbau der Arbeit
2 John Meyer – Weltkultur: Auswirkungen auf den Nationalstaat und Mechanismen der Divergenzverarbeitung
2.1 Weltkultur: Grundlagen und Homogenität
2.2 Der Weltkulturansatz und Divergenz: Der Faktor Entkopplung
3 Parlamentarismus als weltkulturelles Merkmal im Westen und in Russland. Analyse des Divergenzverarbeitungspotentials des Weltkulturansatzes
3.1 Der westliche Parlamentarismus als weltkulturelles Merkmal
3.2 Der russische Parlamentarismus
3.3 Die Konzepte Meyers und ihr Erklärungspotential
4 Fazit
5 Literatur
1 Einleitung
1.1 Fragestellung
„Was wir Heute erleben, ist vielleicht das Ende der Geschichte als solcher, das heißt der Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit und die Universalisierung der westlich-liberalen Demokratie als Regierungsform des Menschen.“(Huntington 2002: 34) Dieses Zitat stammt von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama. Es steht beinah sinnbildlich für die nach dem Ende des kalten Krieges vor allem unter westlichen Wissenschaftlern weit verbreitete und viel diskutierte Annahme, dieses Ereignis führe zu dem Ende signifikanter Konflikte und überwiegender Homogenität in einer globalisierten Welt. Besonders euphorisch wurden die Reformen im Staat des einstigen Gegners Russland beobachtet und befürwortet. Marktwirtschaft und Demokratie wurden in ein Staatsgebilde implementiert, dessen sämtliche alte Strukturen und Regeln durch neue ersetzt wurden. Und obgleich die Russen nicht einmal auf ein kurzes demokratisches Intermezzo, wie zum Beispiel ihre baltischen Nachbarn (vgl. Krone-Schmalz 2007: 16) zurückblicken konnten, wurde mit den Präsidentschaftswahlen 1996 die Entwicklung zu einem demokratischen Staat recht zügig formal abgeschlossen (vgl. Schneider 2001: 27). Dennoch mussten Befürworter des Modells einer harmonischen und homogenen Welt bald konstatieren, dass die Realität eine andere war. Neue Konfliktmuster (Stichwort „nicht-lineare Konflikte“) und Bündnisse (man denke an Venezuelas Unterstützung Fidel Castros) entstanden und die Standfestigkeit autoritärer Systeme wie zum Beispiel der Theokratie im Iran oder dem Diktat der kommunistischen Partei in China will sich nicht in dieses Bild einfügen (vgl. Huntington 2002: 35). Auch Russland stellte seine „Jasager-Politik“ (Huntington 2002: 35) gegenüber dem Westen ein und drehte an den Stellschrauben seines politischen Systems. Die Folge waren Fragen nach der russischen Demokratie und möglichen Defekten dieser in der westlichen, wissenschaftlichen Literatur (vgl. Dahlmann, Trees 2009: 7). Es lässt sich feststellen, dass eine globale Homogenität, wie prognostiziert, (noch) nicht erkennbar ist. Nichts desto trotz gibt es beeindruckende Homogenitäten in politischen Strukturen und kraftvolle Ansätze, die eine zunehmende Angleichung von Strukturen und Merkmalen, insbesondere in der Politik beobachten und erklären. Der Ansatz der Weltkultur von John Meyer ist dabei von besonderem Interesse. Geht er doch von einer Entwicklung der geradezu subtilen Durchdringung der Welt durch sich im professionalisierten Wissen über Staaten, Gesellschaften und Individuen konstituierende Modelle aus (vgl. Meyer 2005: 92). Dabei erkennt er auch zahlreiche Merkmale des modernen Nationalstaates als aus eben jenen virtuellen, aber kraftvollen, globalisierten Modellen abgeleitet (vgl. Meyer 2005: 85). In dieser Arbeit soll dieser Ansatz einer genaueren Beobachtung unterzogen werden. Denn, wie Willke treffend beobachtet, lässt sich auf der einen Seite in Übereinstimmung mit Meyer ein hohes Maß an Konvergenz auf der Welt feststellen, aber verbergen sich auf der anderen Seite eben auch zahlreiche Divergenzen unter der Oberfläche scheinbarer Konvergenz (vgl. Willke 2006: 31). Bestimmte institutionelle Kontexte wie lokale intergouvermentale Zusammenschlüsse zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit (EU, ASEAN, NAFTA), politische Organisationsstrukturen wie Parlamente und politische Parteien oder auch gesellschaftliche Institutionen wie die Familie haben globale Verbreitung gefunden. Aber lässt sich „eine postmoderne Homo-Ehe in Köln […] mit adoptierten Kindern […], wirklich mit einer Idee von Familie vergleichen, die anatolische Väter unter dem Gebot der Familienehre dazu bringt, ihre Töchter umbringen zu lassen, wenn sie den Falschen heiraten?“ (Willke 2006: 32) Wie hoch ist das Maß an Konvergenz in den intergouvermentalen Politiken, wenn beobachtbar ist, dass auf Seite der EU eine Währungsunion und eine mit substantiellen Kompetenzen ausgestattete Kommission anzutreffen sind, während der ASEAN und seine Organe kaum mehr als ein Forum bilateraler Gespräche sind (vgl. Huntington 2002: 205-206)? Das Ziel dieser Arbeit ist es, den Weltkultur Ansatz von John Meyer als einen Ansatz des „Primats der Homogenität“ (Willke 2006: 27) auf seine Möglichkeiten hin zu untersuchen, Divergenz zu verarbeiten und zu integrieren. Steht bei einem solchen Ansatz meist die empirische Belastbarkeit im Vordergrund, soll an dieser Stelle untersucht werden, wie überzeugend Meyers Theorie erkennbare Divergenz unter dem Mantel von Konvergenz zu erklären vermag. Ganz im Sinne der Grundprinzipien (empirisch-) analytischer Forschung soll die Theorie Meyers einem möglichst harten Test unterzogen werden, was bedingt, dass dieser an einer Stelle ansetzt, an welcher eine Falsifikation am ehesten zu erwarten ist (vgl. Bernauer et al. 2009: 65) Der begrenzte Rahmen dieser Arbeit bedingt es dabei, ein mögliches Merkmal der Weltkultur herauszugreifen und in einem spezifischen, nationalen Kontext zu untersuchen. Dies soll am Beispiel des russischen Parlamentarismus geschehen. Dieser ist eingebettet in eine demokratische Verfassung nach westlichem Vorbild, welche einen eindeutigen Bruch mit der russischen Vergangenheit darstellt (vgl. Schneider 2001: 42) und eben jener Konvergenz entspricht, die Meyer darstellt (vgl. Meyer 2005: 86, 87, 92, 106). Die Demokratie sieht Meyer dezidiert als weltkulturell verbreitet (vgl. Meyer 2005: 130). Demgegenüber steht die Wahrnehmung in der Literatur von einem relativ schwachen Parlament und einem ebenso in der Verfassung verankerten „Superpräsidentialismus“ (Röhrich 2003: 55). Die Fragstellung dieser Arbeitet lautet folglich: In wie fern ist die Theorie der Weltkultur von John Meyer in der Lage, auch die verfassungstechnischen Unterschiede des russischen Parlamentarismus zu dem gängigen westlichen Modell zu erklären? Erweist sich Meyers Ansatz als konsistent, böte er die Möglichkeit, nicht nur die Verbreitung bestimmter Strukturen und Praktiken zu erklären und darzustellen, sondern auch divergierende Reaktionen von Staaten darauf. Das würde es ermöglichen, Meyers Ansatz zu öffnen für die Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Diversität ohne die eigentliche Prämisse des Ansatzes verwerfen oder einschränken zu müssen. Damit könnte in Meyers Begriffen ein differenzierteres Bild der politisch-gesellschaftlichen Realität gezeichnet und Strukturen, wie beispielsweise der russische Parlamentarismus in größerer Tiefe untersucht werden. Ebenso böte dies einen besseren Anschluss für moderne Ansätze der Politikwissenschaft, die, zum Beispiel die neue Rolle des Nationalstaates mit abnehmenden Einflussmöglichkeiten analysieren. Darüber hinaus ermöglicht Meyer Ideologie und Normativität von der Debatte abzukoppeln und damit einen klareren, nüchterneren Fokus wie eine zielgerichtetere Debatte zu führen. In dieser Arbeit kann selbstverständlich nur ein Hinweis darauf gegeben werden, in wie weit dies erfolgversprechend sein könnte. Im Folgenden soll nun der argumentative Aufbau dieser Arbeit deutlich gemacht werden.
1.2 Aufbau der Arbeit
Nachdem die Klärung der Fragestellung einen kurzen Überblick über die Thematik und Zielsetzung dieser Arbeit gegeben hat, wird nun der konkrete Aufbau der Argumentation skizziert. Eingangs soll der Weltkulturansatz Meyers prägnant dargestellt werden, um dem Leser ein Bild von dessen politik- und sozialwissenschaftlicher Relevanz zu verschaffen sowie diesen passend in der theoretischen Debatte zu verorten. Dabei soll auch ein erster Bezug zu dem russischen Parlamentarismus hergestellt und die grundlegenden Homogenitäten, welche Meyers Ansatz erklärt und erkennt, skizziert werden. Insgesamt kann der Weltkulturansatz auf Grund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit nicht in seiner Gesamtheit dargestellt werden und den Faktoren weltkultureller Einflussnahme auf den Nationalstaat und auch auf den russischen Parlamentarismus der Raum eingeräumt werden, den ihnen Meyer zusteht. Das Ziel dieser Arbeit legt viel mehr nahe, den Konzepten Meyers besondere Aufmerksamkeit einzuräumen, welche sich mit Diversität zwischen nationalstaatlichen Strukturen beschäftigen und diese erklären könnten. Zentral dafür wird das Konzept der Entkopplung von formalen Zwecken und realen Strukturen sein, welches Meyer anbietet, um Unterschiede zwischen den Zwecken weltkultureller Modelle und realen Ergebnissen auf nationalstaatlicher Ebene zu erklären (vgl. Meyer 2005: 99-101). Es liegt nur in der Natur dessen, da sich diese Arbeit mit dem zentralen Kritikpunkt am Weltkulturansatz beschäftigt, dass dieses Konzept in Meyers Ansatz unterrepräsentiert ist. Dies erfordert umso mehr eine genaue Analyse und Interpretation der vorhandenen Begrifflichkeiten. Damit wäre die argumentative Basis dieser Arbeit geschaffen, worauf aufbauend der Untersuchungsgegenstand tiefergehend beschrieben und vorhandene Diversitäten herausgearbeitet werden. In diesem Teil der Arbeit werden die zentralen qualitativen Kennzeichen des westlichen Parlamentarismus als weltkulturelles Merkmal präsentiert, um sie mit dem russischen Parlamentarismus zu vergleichen. Grundsätzlich lassen sich drei elementare Kennzeichen von Parlamentarismus in der Literatur finden. Das Parlament müsse als Vertretungskörperschaft der repräsentativen Demokratie dienen, aus freien Wahlen hervorgehen und über exklusive, substantielle Rechte in politisch relevanten Bereichen verfügen (vgl. Schreyer, Schwarzmeier 2000: 158). In dieser Arbeit liegt die Konzentration auf dem letzten Punkt. Da diese Arbeit auf die Analyse der verfassungstechnischen Ausprägung des russischen Parlamentarismus fokussiert, sind die ersten zwei Aspekte mit Verweis auf den Verfassungstext zu bejahen (vgl. Schneider 2001: 48). Dies entspricht nachvollziehbarerweise der Konvergenzthese Meyers und wird in Abschnitt 2.1 der Arbeit behandelt, der sich mit den Grundzügen des Weltkulturansatzes beschäftigt. Divergenz hingegen ist bei den Rechten des russischen Parlaments im Gegensatz zu seinen westlichen Pendants zu erwarten, da die Literatur explizit den mangelnden Einfluss des russischen Parlaments auf die russische Politik thematisiert (vgl. Röhrich 2003: 52-53, Simon 2009: 369-370). Frei nach Meyer ist genau eine solche Thematisierung durch die Wissenschaft ein eindeutiger Indikator für eine vorherrschende Entkopplung zwischen Zweck und Struktur (vgl. Meyer 2005: 107-111, 117, 118). Schüttemeyer kommt, mit diesem Ansatz übereinstimmend, in ihrer Abhandlung über vergleichende Parlamentarismusforschung zu dem Schluss, dass das Ziel eines Vergleichs parlamentarischer Strukturen darin besteht, die Rolle von Parlamenten im politischen Entscheidungsprozess zu vergleichen. Dafür wirft sie Fragen auf, die im wesentlichen Macht und Leistungsfähigkeit von Parlamenten thematisieren (vgl. Schüttemeyer 2003: 217, 218). Diese Rechte beziehen sich der Literatur zufolge auf die drei Bereiche der direkten Beeinflussung von Politikinhalten, der Kontrolle der Regierung sowie der Auswahl oder Bestimmung von Amtsträgern (vgl. Sieberer 2010: 164). Diese drei Dimensionen der institutionellen Parlamentsmacht sind Hauptgegenstand des Vergleichs. Darüber hinaus wird der Untersuchungsfokus gezielt auf den Einfluss von Parlamenten in (semi-) präsidentiell organisierten Regierungssystemen hin verengt. Das russische Regierungssystem gilt generell als semi-präsidentiell, aber Autoren kommen größtenteils darin überein, dass „im Grunde […] auf Russland eher die Kriterien eines präsidentiellen Systems zu[treffen]“ (Schneider 2001: 54, vgl. Hartmann, 2005: 201). Andere Autoren sprechen gleich von „Superpräsidentialismus“ (Röhrich 2003: 55). In Folge dessen werden abschließend die herausgearbeiteten Unterschiede mit den Konzepten Meyers in Bezug gesetzt und auf ihre Erklärungskraft im Hinblick auf diese untersucht. Im Anschluss daran kann ein Resumeé bezüglich der Überzeugungsfähigkeit des Weltkulturansatzes bei der Erklärung des Verhältnisses von Diversität und Konvergenz eines spezifischen weltkulturellen Merkmals präsentiert werden.
2 John Meyer – Weltkultur: Auswirkungen auf den Nationalstaat und Mechanismen der Divergenzverarbeitung
2.1 Weltkultur: Grundlagen und Homogenität
Das Konzept John Meyers ist der politik-, beziehungsweise sozialwissenschaftlichen Debatte zu der Thematik einer (eventuellen) globalen Ordnungsstruktur zuzurechnen. Meyer steht damit in Konkurrenz zu unterschiedlichsten Auffassungen über die Struktur der globalisierten Welt, ihrer Zusammenhänge, Interdependenzen und Akteure. Ökonomische Theoretiker, wie zum Beispiel Immanuel Wallerstein, welcher ein kapitalistisches Weltsystem skizziert, dass sich als Folge der Dynamik des grenzenüberwindenden und globalen Kapitals bilde (vgl. Willke 2006: 10), sehen einen Primat des Marktes. (Neo-) Realisten wie etwa Kenneth Waltz dagegen, beschreiben eine Struktur der Weltpolitik, welche sich entweder anarchisch oder hierarchisch ausgestalte und deshalb die Nationalstaaten als einzig relevante, weil souveräne Akteure zu einem steten Streben nach Sicherheit und Macht antreibe (vgl. Neuss 2007: 481-485). Im Gegensatz zu diesen zwei, hier exemplarisch kurz angerissenen Konzepten[1]lässt sich Meyers Weltkultur den Neo-Institutionalistischen Ansätzen zuordnen (vgl. Meyer 2005: 87). Der (Neo-) Institutionalismus betrachtet auf Basis eines kantianischen Menschenbildes, des lernfähigen und zu Kooperation bereiten Menschen, Institutionen als intentionale oder naturwüchsige Ordnungsmuster der Interdependenzbewältigung (vgl. Schimank 2007: 162). Institutionen sind demnach als andauernd verbundene Regelbündel zu verstehen, welche ein bestimmtes Verhalten vorschreiben oder untersagen und damit Vertrauen in einem System der Interdependenz generieren[2]. Innerhalb des Neo-Institutionalismus lassen sich darüber hinaus einige divergierende Strömungen erkennen[3]. So spricht Uwe Schimank von der Institutionenökonomik, dem Rational-Choice Institutionalismus, dem historischen Institutionalismus, dem akteurszentrierten Institutionalismus sowie dem soziologischen Institutionalismus. Der soziologische Institutionalismus, der stark verkürzt davon ausgeht, dass Akteure durch Institutionen nach Erwartungssicherheit streben und sich deshalb diesen gegenüber unabhängig von ihrer persönlichen Nutzenmaximierung, konform zeigen (vgl. Schimank 2007: 163-173) ist dabei der Rahmen, dem Meyers Theorie zuzuordnen ist (vgl. Meyer 2005: 89, 90).
Nachdem das Theorem Meyers in der theoretischen Debatte verordnet ist, kann der Weltkulturansatz nun prägnant dargestellt werden. Nach John Meyer differenzieren sich die zentralen Merkmale von Gesellschaften und somit auch Nationalstaaten in einer globalisierten Welt anhand einer globalen Weltkultur aus, die in der Kultur des westlichen Christentums ihren Ursprung hat (vgl. Meyer 2005: 9, 85, 121). Diese Merkmale leiten sich demnach aus globalen Modellen ab, welche in ihrer Gesamtheit die Weltkultur ergeben (vgl. Meyer 2005: 85). (Welt-) Kultur ist dabei „die zentrale Kategorie zur Analyse sozialer Prozesse und Strukturen.“ (Meyer 2005: 10) Weltkultur bedeutet die virtuelle Gesamtheit kultureller Orientierungsmuster, auf deren Basis sich unsere moderne Welt in ihrer Gesamtheit ausdifferenziert. Die Modelle der Weltkultur bilden sich durch das wissenschaftliche, professionelle und juristische Wissen über das korrekte Funktionieren von Staaten, Gesellschaften wie auch Individuen heraus (vgl. Meyer 2005: 92). Meyer geht dabei so weit, die Wissenschaft als Religion der modernen Welt zu bezeichnen und macht damit das Faktum deutlich, dass der Kern einer die Welt strukturierenden Weltkultur zahlreiche allgemein anerkannte Theorien sind, welche nur selten hinterfragt werden (vgl. Meyer 2005: 92, 118). Aus solchen Theorien ergeben sich die globalen Modelle, welche laut Meyer empirisch nachweisbare „Konformitätsmuster“ (Meyer 2005: 86) zwischen den Staaten, Gesellschaften, Individuen und Vorstellungen auf der Welt ergäben. Diese ließen sich nicht durch funktionale Notwendigkeiten oder Machtbeziehungen erklären und sich daher für so gut wie jeden Nationalstaat, um auf unsere Thematik spezifisch Bezug zu nehmen, ohne Kenntnis von dessen Kultur oder Geschichte vorhersagen (vgl. Meyer 2005: 86, 87).
Um an dieser Stelle auf unseren Untersuchungsgegenstand einzugehen, schließt Meyer, dass Demokratie sowie deren Verfasstheit, als zentrale Kennzeichen eines modernen Nationalstaates (vgl. Benz 2007: 340) weltkulturell verbreitet werden (vgl. Meyer 2005: 108, 130). Es unterstützt Meyers Argumentation, dass Demokratie mit ihren Grundlagen und Spezifika als westlich-christlich kulturellen Ursprungs klassifiziert wird (vgl. Huntington 2002: 99-102, 292). Fokussiert man nun darauf, dass „die Menschen in Russland von der Zarenherrschaft direkt unter die Knute der kommunistischen Partei geraten waren“ (Krone-Schmalz 2007: 16), die Russen in der Vergangenheit kaum in Kontakt mit solchen Kennzeichen der westlichen Kultur, wie eben zum Beispiel Repräsentativkörperschaften kamen (vgl. Huntington 2002: 219, 221), wird der Bruch mit der Vergangenheit, den die Verfassung von 1993 bedeutet (vgl. Schneider 2001: 42), deutlich. Ebenso passt es sich gut in Meyers Argumentation ein, wenn festgestellt wird, dass sich das Regierungssystem der russischen Verfassung von 1993 stark an dem der fünften Republik Frankreichs orientierte (vgl. Hartmann 2005: 200, Mommsen 2004: 181, Schneider 2001: 59). Dies lässt sich folgern, da Meyer für die weltkulturelle Einflussnahme explizit postuliert, dass die Nationalstaaten zur Nachahmung von Erfolgsmodellen angehalten werden (vgl. Meyer 2005: 118). Das französische System, welches zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion bereits lange Jahre der erfolgreichen demokratischen Regierungspraxis aufwies und in seiner Ausgestaltung eine Reaktion auf negative Erfahrungen mit zu einflussreichen parlamentarischen Versammlungsregimen darstellte (vgl. Hartmann 2005: 177), kann somit durchaus als ein solches Erfolgsmodell für das parlamentarisch unerfahrene Russland gewertet werden. Diese Arbeit orientiert sich an der Definition von Parlamentarismus nach Schreyer und Schwarzmeier. Wie in der Einleitung dargestellt, ist von Parlamentarismus zu sprechen, wenn „bestimmte qualitative Merkmale“ (Schreyer, Schwarzmeier 2000: 158) vorzufinden sind. Diese Merkmale sind das Parlament als Repräsentationskörperschaft der repräsentativen Demokratie, die Konstitution dessen in freien Wahlen sowie bestimmte exklusive wie substantielle Rechte in politisch relevanten Bereichen (vgl. Schreyer, Schwarzmeier 2000: 158-159). Nach der russischen Verfassung stehen den Bürgern das aktive und passive Wahlrecht sowie die mittelbare (wie auch unmittelbare, etwa durch Referenden) „Teilnahme an der Verwaltung der Angelegenheiten des Staates [zu]“ (Schneider 2001: 48). Wahlrecht und Repräsentationsfunktion des Parlamentes erscheinen folglich gegeben. Die Rechte, Funktionen und die Ausgestaltung des Parlamentarismus sind in der demokratischen Verfassung (vgl. Schneider 2001: 27) ebenfalls festgeschrieben und geregelt[4](vgl. Schneider 2001: 38). Kombiniert man diese kurze Darstellung der russischen Entwicklung mit den Thesen Meyers wird unschwer deutlich, dass Meyer sich bestätigt fühlen würde. Eine Homogenität in Strukturen ist zu konstatieren, die sich weder aus kulturellen noch zwingend aus funktionalen Erfordernissen[5](vgl. Meyer 2005: 87, 93) erklären, aber relativ eindeutig aus einem „sozialwissenschaftlich-theoretischen Verständnis vom Lauf der Dinge“ (Meyer 2005: 92) herleiten lässt. Dies bestätigt die Einordnung der Demokratie als den modernen Nationalstaat kennzeichnend durch zum Beispiel Artur Benz (vgl. Benz 2007: 340). Dennoch wird oftmals an dem Potential der Russischen Förderation und auch ihrem Willen gezweifelt, „eine verfassungsmäßige Ordnung nach westlichem Verständnis mit Leben zu füllen.“ (Dahlmann, Trees 2009: 7) Dieser Zweifel kann sich nur als Zweifel am exklusiven und substantiellen Charakter der Rechte des russischen Parlaments zu interpretieren sein. Im Folgenden wird Meyers Potential dargestellt, ein solch gleichzeitiges Auftreten von Homogenität und Diversität zu erklären. Darauf aufbauend dann werden die vorhanden Unterschiede des russischen Parlamentarismus von der westlichen Variante geklärt um darauf aufbauend mit den nun im Anschluss dargestellten Konzepten, diese überzeugend zu erklären zu versuchen.
[...]
[1]Meyer würde diese zwei Konzepte zum einen unter mikrorealistischen Ansätzen (Kenneth Waltz) und zum anderen unter makrorealistischen Ansätzen (Immanuel Wallerstein) subsumieren. Er selbst begreift seinen Ansatz als makrophänomenologisch und grenzt diesen darüber hinaus noch von mikrophänomenologischen Ansätzen ab, die er zum Beispiel mit den Autoren March und Olson verbindet (vgl. Meyer 2005: 88, 89).
[2]Als Institutionen auf dem Parkett der internationalen Beziehungen lassen sich zum Beispiel internationale Regime, internationale Organisationen, internationale Netzwerke oder internationale Ordnungsprinzipien verstehen.
[3]Die verschiedenen Strömungen des (Neo-)Institutionalismus stellt Schimank in seinem Aufsatz „Neoinstitutionalismus“ (Schimank 2007) prägnant dar und grenzt diese voneinander ab.
[4]Wahlrecht und weitere Mitwirkunngsrechte finden sich in der russischen Verfassung in Kapitel 2 „Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers“. Die Rechte und die Form des russischen Parlaments sind in Kapitel 5 „Die Förderalversammlung“ geregelt (vgl. Schneider 2001: 38).
[5]Man mag an dieser Stelle einzuwenden geneigt sein, dass Demokratie unbedingt funktional erforderlich sei, weil ohne demokratische Strukturen das Grundrecht auf politische Partizipation nicht zu gewährleisten sei. Folgt man aber Meyers Argumentation und versucht die eigenen normativen Vorstellungen zu abstrahieren, kommt man zu dem Schluss, dass das individuelle Recht auf politische Partizipation als Bürgerrecht ein typisches Merkmal, der von westlichen Prinzipien durchdrungenen Weltkultur sein kann (vgl. Meyer 2005: 108, 130). Die Frage die sich anschließt ist die, wann Demokratie wirklich funktional ist und woran man diese Funktionalität messen kann. Sind dies ökonomische Faktoren des Wachstums oder der Wohlstandsproduktion oder abstrakte Faktoren wie Zufriedenheit? Dieser Frage wäre interessant nachzugehen, führt aber, erkennbarerweise an dieser Stelle zu weit. Festzustellen ist aber, dass die Reformen, die zu der russischen Verfassung von 1993 führten, keineswegs auf dem Weg einer Revolte oder eines Aufstandes des Volkes eingeleitet wurden, sondern viel mehr von der Spitze herab initiiert wurden.