Die vorliegende Arbeit bietet im Folgenden einen Überblick über die wesentlichen Rechtsfragen, die aktuell mit der Einstufung und dem Status eines geschlossenen Verteilernetzes verbunden sind. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt hierbei auf den Voraussetzungen, die zur Erlangung der Einstufung als geschlossenes Verteilernetz im Sinne des § 110 EnWG nötig sind, inklusive der Abgrenzung zur Kundenanlage, sowie auf der Problematik der Netzentgeltregulierung in Verbindung mit der § 19 Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) - Umlage.
Inhaltsverzeichnis
A. Einführung
B. Die bisherige Entwicklung des § 110 EnWG
I. Entstehung der Begrifflichkeiten
II. Objektnetze und Privilegierungen
III. Rechtsprechung zu § 110 EnWG a.F
C. Geschlossene Verteilernetze
I. Tatbestandsmerkmale geschlossener Verteilernetze
1. Energieversorgungsnetz
a. Kundenanlage nach § 3 Nr. 24a EnWG
b. Kundenanlage zur betrieblichen Eigenversorgung nach § 3 Nr. 24b EnWG
2. Geographisch begrenztes Industrie oder Gewerbegebiet
3. Gebiet, in dem Leistungen gemeinsam genutzt werden
4. Nutzungsformen
5. Keine Versorgung von Letztverbrauchern
II. Einstufung durch die Regulierungsbehörde
D. Rechtsfolgen
I. Privilegierungen
II. Pflichten
E. Regulierung der Netzentgelte für geschlossene Verteilernetze
I. Regulierung nach § 110 Abs. 4 EnWG
II. Umlage nach § 19 Abs. 2 StromNEV
1. Alte und Neue Fassung des § 19 Abs. 2 StromNEV
2. Bedeutung für Betreiber geschlossener Verteilernetze
F. Europarechtskonformität des § 110 EnWG
G. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
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A. Einführung
Mit der Umsetzung der Richtlinien 2009 / 72 / EG[1] und 2009 / 73 / EG[2] aus dem dritten Energiebinnenmarktpaket der Europäischen Union in nationales Recht gelangte mit dem Gesetz zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften am 8. Juli 2011 der Begriff der „geschlossenen Verteilernetze“ in die deutsche Energierechtslandschaft. Dadurch änderte sich mit Wirkung zum 4. August 2011 das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) und ersetzt mit neuen Begrifflichkeiten und Regelungen die Objektnetzregelung im alten § 110 des EnWG. Sie befreite Betreiber von kleinen privaten Energieverteilernetzen, wie sie beispielsweise bei Bahnhöfen, Chemieparks, Krankenhäusern oder Industrieanlagen vorkommen können, von dem größten Teil der Vorschriften des damaligen EnWG und erlaubte den Betreibern eine Existenz weitgehend fernab der Regulierungsbestimmungen. Damals erfolgte die Einführung der Regelung nahezu im Alleingang des deutschen Gesetzgebers, in den damaligen europäischen Richtlinien war zumindest eine so umfassende Regelung wie die des deutschen § 110 EnWG nicht vorgesehen.[3] Die Erfolgsgeschichte der Objektnetze endete mit einem vernichtenden Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) am 22. Mai 2008[4], das Teile des § 110 EnWG a.F. für europarechtswidrig erklärte.
Heute wird im EnWG an der Stelle der ehemaligen Objektnetze zwischen geschlossenen Verteilernetzen und Kundenanlagen unterschieden. Während die geschlossenen Verteilernetze als Energieversorgungsunternehmen gelten und – abgesehen von gewissen Ausnahmen – damit den Entflechtungs- und Regulierungsvorschriften unterliegen, gelten für Netze, die als Kundenanlagen eingestuft sind, diese Vorschriften nicht.
Die vorliegende Arbeit bietet im Folgenden einen Überblick über die wesentlichen Rechtsfragen, die aktuell mit der Einstufung und dem Status eines geschlossenen Verteilernetzes verbunden sind. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt hierbei auf den Voraussetzungen, die zur Erlangung der Einstufung als geschlossenes Verteilernetz im Sinne des § 110 EnWG nötig sind, inklusive der Abgrenzung zur Kundenanlage, sowie auf der Problematik der Netzentgeltregulierung in Verbindung mit der § 19 Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) -Umlage.
B. Die bisherige Entwicklung des § 110 EnWG
I. Entstehung der Begrifflichkeiten
Bereits im Jahr 2005 führte der Gesetzgeber im damaligen EnWG mit dem § 110 eine Vorschrift über sogenannte Objektnetze ein.[5] Dies war die bisherige Bezeichnung für die seit dem 4. August 2011 unter den Begriff der „geschlossenen Verteilernetze“ gefassten Strom- und Gasverteilernetze, die nicht der Energieversorgung der Allgemeinheit dienen, sondern auf ein begrenztes Areal zugeschnitten sind. Diese Netze wurden im § 110 EnWG a.F. umfassend von Anschluss- und Zugangspflichten sowie von der Entflechtung und weiteren Teilen des EnWG befreit, um unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand zu vermeiden und einen kosteneffizienten Betrieb zu ermöglichen.
Der Begriff des Objektnetzes stand damals am Ende einer Entwicklung, an deren Anfang der Begriff „Arealnetz“ stand.[6] Dieser entwickelte sich in Literatur und Praxis des Energierechts, als erstmals eine Abgrenzung zwischen Netzen „der allgemeinen Versorgung“ und den übrigen Netzen erforderlich war. Dies war der Fall, als mit Inkrafttreten des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) zum 01.04.2000 und des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes (KWKG) zum 01.04.2002 zwei Gesetze in der Welt waren, die nur die Betreiber von Netzen der allgemeinen Versorgung als Adressaten hatten.[7] Die Abgrenzung erfolgte dabei zunächst in Form einer Negativabgrenzung: Die Anforderungen an ein Netz der allgemeinen Versorgung wurden definiert, diejenigen Netze, die diese dann nicht erfüllten, wurden als Arealnetze verstanden.[8]
Eigentlich entstand dadurch eine klare Abgrenzung, die keinerlei Schnittmengen ergab. Erst durch die, mit den Begrifflichkeiten des Energierechts in der Regel unvertrauten Gerichte, wurde die Abgrenzung zunichte gemacht: In der Mainova Entscheidung des BGH vom 28.06.2005[9] ging das Gericht davon aus, dass der Arealnetzbetreiber in seinem Netz der Betreiber für die allgemeine Versorgung sei.[10] Er definierte ein Arealnetz als „eine aus einem oder mehreren Grundstücken bestehende, zu Wohn- oder gewerblichen Zwecken genutzte private Liegenschaft, die zur Versorgung der im Areal ansässigen Letztverbraucher über ein eigenes Niederspannungsnetz verfügt. Dieses Netz ist in der Regel über eine eigene Umspannanlage an die Mittelspannungsebene des vorgelagerten Netzes angeschlossen. Das Arealnetz wird von Unternehmen betrieben, die es entweder selbst errichtet haben oder die es vom Eigentümer erworben oder gepachtet haben. Der Arealnetzbetreiber schließt alle anschlusswilligen Endkunden an sein Arealnetz an.“.[11] Somit war der Begriff des Arealnetzes, so wie er vorher verstanden wurde, nicht mehr zu verwenden, sollte er doch gerade die Netze bezeichnen, die nicht der allgemeinen Versorgung dienen. Aus demselben Grund hätte ein Arealnetz in der Definition des BGH niemals als Objektnetz im Sinne des § 110 EnWG 2005 eingestuft werden können.[12]
Während des Gesetzgebungsverfahrens zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts[13] wurde dann für den vorbelasteten Begriff des Arealnetzes ein Ersatz gesucht. Kurzzeitig wurde die Bezeichnung „Werknetze“ in Betracht gezogen.[14] Dieser eigentlich recht klare Begriff wurde jedoch im letzten Schritt des Gesetzgebungsverfahrens wieder verworfen und schließlich der § 110 EnWG 2005 mit der Bezeichnung „Objektnetze“ eingeführt.[15]
Im EnWG 2005 waren dann sowohl die Netze der allgemeinen Versorgung als auch Objektnetze erstmals legal definiert. § 3 Nr. 17 EnWG 2005 definierte ein Netz der allgemeinen Versorgung als ein Netz, das der Verteilung von Energie an Dritte dient und von seiner Dimensionierung her nicht von vorneherein nur auf die Versorgung bestimmter, schon bei Netzerrichtung feststehender oder bestimmbarer Letztverbraucher ausgelegt ist, sondern grundsätzlich für die Versorgung jedes Letztverbrauchers offen steht. Die Objektnetze wurden im § 110 Abs. 1 EnWG 2005 definiert. Nach der Gesetzessystematik stellt dieser Begriff damit den Oberbegriff für die in § 110 EnWG 2005 geregelten drei Arten von Netzen dar.[16] Diese konnten in Betriebsnetze, Dienstleistungsnetze und Eigenversorgungsnetze unterteilt werden. Unter Betriebsnetzen verstand der § 110 Abs. 1 Nr. 1 EnWG 2005 ein Netz, dass sich auf einem räumlich zusammengehörenden Betriebsgebiet befindet und überwiegend dem Transport von Energie innerhalb eines oder mehrerer verbundener Unternehmen dient. Das Dienstleistungsnetz nach § 110 Abs. 1 Nr. 2 EnWG 2005 war als ein Netz, das sich auf räumlich zusammengehörenden privaten Gebiet befindet und seinem Betreiber dazu dient, durch einen gemeinsamen übergeordneten Geschäftszweck bestimmbare Letztverbraucher mit Energie zu versorgen, definiert. Die dritte Netzart, das Eigenversorgungsnetz, wurde schließlich im § 110 Abs. 1 Nr. 3 EnWG 2005 als Netz festgelegt, dass sich auf einem räumlich eng zusammengehörenden Gebiet befindet und überwiegend der Eigenversorgung dient. Gemeinsame Voraussetzung für alle drei Netze war, dass es sich um ein Energieversorgungsnetz handeln musste, dass nicht der allgemeinen Versorgung dienen durfte und der Betreiber des Objektnetzes oder sein Beauftragter die personelle, technische und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit besitzen mussten, um den Netzbetrieb entsprechend den Vorschriften des EnWG auf Dauer zu gewährleisten. Der Begriff des Arealnetzes fand keinen Einzug ins Gesetz.
Mit der Umsetzung der Vorgaben aus den Richtlinien des europäischen Parlaments und des Rates zum Elektrizitätsbinnenmarkt[17] und zum Erdgasbinnenmarkt[18] wurde dann mit Wirkung zum 5.8.2011 der § 110 EnWG in der heutigen Fassung eingeführt. Er enthält nun einen ganz neuen Begriff: Die geschlossenen Verteilernetze, auf deren Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen im Folgenden noch detailiert eingegangen wird.
II. Objektnetze und Privilegierungen
Der Betreiber eines Energieversorgungsnetzes, dass die Voraussetzungen eines Objektnetzes erfüllte, genoss dem § 110 Abs. 1 Satz 1 EnWG a.F. zu Folge umfangreiche Befreiungen von den Vorgaben und Pflichten des EnWG 2005. Die Teile 2 und 3 sowie die §§ 4, 52 und 92 des EnWG a.F. fanden demnach keine Anwendung auf Objektnetze. Damit unterlag ein Objektnetzbetreiber weder den Entflechtungsbestimmungen der §§ 6ff. EnWG a.F., noch den Verpflichtungen zu Netzanschluss und Netzzugang gemäß den §§ 17ff EnWG a.F.. Auch die Anforderungen an den Netzbetrieb und die Genehmigungspflicht nach den §§ 11 ff. EnWG a.F. und 4 EnWG a.F. fanden keine Anwendung.
Begründet wurde diese Regelung damit, dass das EnWG grundsätzlich die öffentliche Energieversorgung regeln solle.[19] Für den Gesetzgeber gab es kein Bedürfnis, in den Fällen industrieller Arealversorgungsnetze, wie zum Beispiel bei Flughäfen, Pflegeheimen, oder Einkaufszentren, regulierend tätig zu werden.[20]
So konnten Objektnetzbetreiber zu größten Teilen ohne Beachtung der EnWG Vorschriften existieren.
III. Rechtsprechung zu § 110 EnWG a.F.
Der § 110 in der alten Fassung sah sich einer turbulenten Rechtsprechung ausgesetzt. Es begann damit, dass der im Jahr 2005 eingeführte Paragraph mit seinen Freistellungen für Objektnetze in keinster Weise den Vorgaben der maßgeblichen EU – Binnenmarktrichtlinien[21] von 2003 (EltRL und GasRL) entsprach. Begriffe wie Werks-, Objekt- und Arealnetz sind in beiden Richtlinien nicht zu finden.[22] Den Mitgliedstaaten wurde von der EltRL 2003 lediglich die Möglichkeit eingeräumt, für sog. „Kleinstnetze“, die nach dem jährlichen Verbrauch festgelegt wurden und in der Richtlinie definiert waren, Ausnahmen von den Entflechtungs- und Netzzugangsvorschriften zu gestatten.[23] Die Ausnahmen mussten allerdings vorher von den Mitgliedstaaten beantragt werden.[24] Eine Bestimmung, die eine Ausnahme von den Regelungen des EnWG für Netze im Sinne eines Objektnetzes gemäß § 110 EnWG a.F. enthält, ist in den Richtlinien nicht zu finden. In der GasRL 2003 fehlt sogar jegliche Ausnahmeregelung, so dass die Gemeinschaftsrechtskonformität des § 110 EnWG a.F. von Anfang an bezweifelt wurde.[25]
Das OLG Dresden war es schließlich, das den Stein ins Rollen brachte, als es in einem Vorabentscheidungsersuchen den Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit der Frage der Europarechtskonformität des § 110 Abs. 1 Nr.1 EnWG a.F. beschäftigte.[26] Dieser stellte dann in seiner sog. Citiworks Entscheidung vom 22. Mai 2008[27] fest, dass der § 110 Abs. 1 Nr.1 EnWG a.F. gegen Art. 20 Abs. 1 der EltRL 2003 verstoße, da er bestimmte Energieversorgungsnetze ungeachtet ihrer technischen Leistungsfähigkeit von der Verpflichtung ausnimmt, Dritten freien Netzzugang zu gewähren.[28] Dies wiederum ist laut EuGH eine der Hauptmaßnahmen, die Mitgliedstaaten durchzuführen hätten, um zur Vollendung des Elektrizitätsbinnenmarktes zu gelangen.[29] Eine Regelung wie sie in § 110 Abs. 1 Nr. 1 EnWG getroffen wurde, könne daher nur dann mit der EltRL zu Vereinbaren sein, wenn sie unter eine der in der Richtlinie verankerten Ausnahmen fiele, was aber nicht der Fall ist.[30] Daraufhin verneinte das OLG Dresden mit Beschluss vom 10.03.2009 vollständig die Anwendbarkeit des § 110 Abs.1 Nr. 1 EnWG 2005.[31] Ab diesem Zeitpunkt an durften die Behörden den § 110 Abs. 1 Nr. 1 EnWG 2005 nicht mehr anwenden.
Der BGH hatte nun noch über die Rechtsbeschwerde gegen die Entscheidung des OLG Dresden zu entscheiden. Dies geschah zwei Jahre später, am 24. August 2010.[32] Er stellte fest, dass eine vollständige Nichtanwendung des § 110 Abs. 1 Nr. 1 EnWG nicht geboten sei, da zum einen die nationalen Gerichte gemäß Art 288 Abs. 3 AEUV dazu verpflichtet seien, die Auslegung des nationalen Rechts unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums innerhalb des nationalen Rechtsrahmens soweit wie möglich an Wortlaut und Zweck einer Richtlinie auszurichten, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen, und zum anderen die Entscheidung des EuGH genügend Spielraum für eine eben solche Korrektur des § 110 Abs. 1 Nr. 1 EnWG lasse.[33] Der § 110 Abs. 1 Nr. 1 EnWG sollte also weiter angewendet werden, mit der Reduzierung auf das europarechtlich zulässige, für Objektnetze sollte nur insoweit eine Ausnahme vom Teil 3 des EnWG gemacht werden, wie dies dem diskriminierungsfreien Zugang Dritter nicht entgegen stehe.[34] Der BGH entschied also, dass der § 110 EnWG a.F. weiter angewendet werden sollte, jedoch mit einer richtlinienkonformen Auslegung der Rechtsfolgen. Somit wurde zumindest Klarheit über die weitere Anwendbarkeit des § 110 EnWG geschaffen. Für weitere Verwirrung und Unsicherheit bei den Betreibern der Objektnetze sorgte dann wiederum der Umstand, dass der BGH ausdrücklich offen lies, ob auch die Alternative für Dienstleistungsnetze im § 110 Abs. 1 Nr. 2 gegen Gemeinschaftsrecht verstößt oder nicht.[35] Mutiger hatte sich hier bereits am 28.12.2009 das OLG Naumburg positioniert, als es in seinem Beschluss feststellte, dass auch der § 110 Abs. 1 Nr. 2 EnWG gegen Gemeinschaftsrecht verstößt und somit nicht angewendet werden dürfte.[36] Abgesehen von wenigen Ausnahmen bestand in der herrschenden Literatur zu Recht Einigkeit darüber, dass auch die Nr. 2 und 3 des § 110 Abs. 1 EnWG 2005 nicht im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht stehen, da diese auf der Rechtsfolgenseite die gleichen Anordnungen treffen wie die Nr. 1 und folglich auch den freien Netzzugang für Dritte beschränken.[37]
Somit war das Ziel des deutschen Gesetzgebers, eine Regulierung dort auszuschließen, wo es unverhältnismäßig erscheint und zur Erreichung eines vollständig geöffneten Binnenmarktes nicht von Bedeutung ist, auf Basis der damaligen europarechtlichen Vorgaben nicht zu erreichen.[38]
C. Geschlossene Verteilernetze
Diese Situation änderte sich am 03.09.2009 durch das Inkrafttreten der Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarktrichtlinien 2009 als Teile des 3. Energiebinnenmarktpaketes. Beide enthalten jeweils in Art. 28 eine Regelung über „geschlossene Verteilernetze“.
I. Tatbestandsmerkmale geschlossener Verteilernetze
Die Voraussetzzungen zur Einstufung als geschlossenes Verteilernetz legt der § 110 Abs. 2 EnWG fest.
1. Energieversorgungsnetz
Nach § 110 Abs. 2 Satz 1 EnWG muss es sich bei einem geschlossenen Verteilernetz zunächst um ein Energieversorgungsnetz mit dem Zweck, Energie zu verteilen, um die Versorgung von Kunden zu ermöglichen, handeln. Unter Energie ist gemäß § 3 Nr. 14 EnWG Elektrizität und Gas zu verstehen, soweit sie zur leitungsgebundenen Energieversorgung verwendet werden. Kunden sind im § 3 Nr. 24 EnWG definiert als Großhändler, Letztverbraucher und Unternehmen, die Energie kaufen. Das wohl entscheidendste Merkmal stellt die Definition des Energieversorgungsnetzes im § 3 Nr. 16 EnWG dar: Ein Energieversorgungsnetz ist ein Elektrizität- oder Gasversorgungsnetz über eine oder mehrere Spannungsebenen oder Druckstufen mit Ausnahme von Kundenanlagen im Sinne der Nummern 24a und 24b des § 3 EnWG. Kundenanlagen sind folglich keine Energieversorgungsnetze, und ein Betreiber einer Kundenanlage ist auch kein Energieversorgungsunternehmen nach § 3 Nr. 18 EnWG. Demnach gelten die Regelungen des EnWG nicht für den Betrieb einer Kundenanlage. Diese Abgrenzung zwischen regulierungsfreier Kundenanlage und reguliertem Energieversorgungsnetz ist von großer finanzieller Bedeutung für die Betreiber kleiner privater Netze – liegt ein Energieversorgungsnetz vor, so besteht nur noch die Chance, die Voraussetzungen des geschlossenen Verteilernetzes zu erfüllen, um zumindest von einem Teil der Regulierungsvorgaben des EnWG verschont zu bleiben.[39] Der Begriff der Kundenanlage ist im EnWG 2011 erstmals legal definiert. Wahrscheinlich wird sich ein Teil der bisherigen Objektnetze als Kundenanlage einordnen lassen.[40] Für eine Einstufung als geschlossenes Verteilernetz ist an dieser Stelle eine Abgrenzung zur Kundenanlage nötig.
[...]
[1] Fortan bezeichnet als: StromRL 2009.
[2] Fortan bezeichnet als: GasRL 2009.
[3] Siehe dazu unten, B III.
[4] EuGH, RdE 2008, 245.
[5] Vgl. Zweites Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsgesetzes vom 7.7.2005, BGBl. 2005 I, 1970.
[6] Vgl. Berliner Kommentar/Boesche, §110 EnWG, Rn. 4.
[7] Vgl. Klemm, CuR 2005, 111, 112.
[8] Vgl. Klemm, CuR 2005, 111, 112.
[9] BGH, ZNER 2005, 227.
[10] Vgl. Klemm, CuR 2005, 111, 112.
[11] BGH, ZNER 2005, 227, 227.
[12] Vgl. Danner / Theobald / ders., § 110 EnWG, Rn. 10.
[13] BT-Drs. 15/3917.
[14] Vgl. Berliner Kommentar / Boesche, §110 EnWG, Rn. 6.
[15] Vgl. Berliner Kommentar / Boesche, §110 EnWG, Rn. 7.
[16] Vgl. Danner / Theobald / ders., § 110 EnWG, Rn. 8.
[17] Richtlinie 2009 / 72 / EG
[18] Richtlinie 2009 / 73 / EG
[19] Stuhlmacher / Stappert / Schoon / Jansen / Stappert, Grundriss zum Energierecht, S. 157.
[20] BR-Drs. 248 / 1 / 05 (neu), S. 9-10.
[21] Richtlinie 2003/54/EG (EltRL 2003), sowie Richtlinie 2003/53/EG (GasRL 2003).
[22] Vgl. Berliner Kommentar/Boesche, § 110 EnWG, Rn. 1.
[23] Vgl. Berliner Kommentar/Boesche, § 110 EnWG, Rn. 1.
[24] Vgl. Richtline 2003/54/EG, Art. 26 Abs.1 und Nr. 11 der Präambel.
[25] Vgl. Berliner Kommentar/Boesche, § 110 EnWG, Rn. 1.
[26] OLG Dresden, RdE 2007, 125.
[27] EuGH, RdE 2008, 245.
[28] Vgl. EuGH, RdE 2008, 245.
[29] EuGH, RdE 2008, 245, 246.
[30] EuGH, RdE 2008, 245, 247.
[31] OLG Dresden, Beschluss vom 10.03.2009, Az. W 1109/06 Kart..
[32] BGH, Beschluss vom 24.8.2010, Az. EnVR 17/09.
[33] Vgl. Schwartz, Perspektiven für Objektnetzbetreiber nach dem Urteil des BGH vom 24. August 2010, RdE 2011, 177, 177.
[34] Vgl. BGH, Beschluss vom 24.8.2010, Az. EnVR 17/09, Rn. 25.
[35] Vgl. BGH, Beschluss vom 24.8.2010, Az. EnVR 17/09, Rn. 14.
[36] OLG Naumburg, Beschluss vom 28.12.2009, Az. 1 W 35/06, Rn. 55ff.
[37] Vgl. Boesche/Wolf, Das Ende der „kleinen Netze“, ZNER 2008, 123, 126; Schwartz, Perspektiven für Objektnetzbetreiber […], RdE 2011, 177, 177-178; Strohe, Zur Zukunft von Objektnetzen, ET 2008, 76, 77.
[38] Vgl. Schmidt-Volkmar, Das Verhältnis von kartellrechtlicher Missbrauchsaufsicht und Netzregulierung, Seite 79.
[39] Siehe hierzu unter D I.
[40] Strohe, Geschlossene Verteilernetze, CuR 2011, 105, 109.
..