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Das Imperium Christianum - Zur Transformation der römischen Identität in der Spätantike

©2012 Hausarbeit 33 Seiten

Zusammenfassung

[...] Diese Arbeit setzt sich daher zum Ziel, den Begriff der „Identität“ für das spätantike Reich
anzuwenden. Grundsätzlich stellt sich dabei die Frage, ob es so etwas wie eine „römische
Identität“ gegeben hat und was darunter in dem hier zu betrachtenden Zeitraum verstanden
wurde. Wenn dieser Beweis erbracht wird, stellt sich die Frage, auf welchen Ebenen
Identitätskonstituierung überhaupt möglich war und vollzogen wurde. Inwiefern schuf die
Konstruktion einer Identität für das Imperium existentielle Grundlagen, und welche
Bedeutung darf dieser Identität in einer Epoche des Wandels mit signifikanten Zäsuren
zukommen? Zu beweisen ist, ob die Konstruktion einer Identität im Zuge des
Transformationsprozesses Konsequenzen für das Fortbestehen und Überleben des Imperium
Romanum in Zeiten des Umbruchs und der „Krise“ hatte. Auf diesen Fragen aufbauend verfolgt die Arbeit folgende Struktur:
Zunächst soll der Identitätsbegriff für den Gebrauch in diesem spezifischen Kontext definiert
werden. Mithilfe dieser methodischen Grundlage soll im zweiten Kapitel der Identitätsbegriff
auf das Römische Reich angewendet werden. Es soll gezeigt werden, dass das Imperium
Romanum sich aufgrund verschiedener Transformationsprozesse zu einem Imperium
Christianum wandelte. Die Identität des neuen Imperiums konnte einerseits durch die
Selbstbestimmung und andererseits durch die Abgrenzung zum Fremden gefestigt werden.
Auf drei Dimensionen der Selbstbestimmung (III.1a. Erziehung und Bildung; b. Kaiserideologie;
c. Staatlichkeit) soll gezeigt werden, wie die christliche Lehre in die römische
Gesellschaft eindringen konnte und an der Konstruktion einer neuen Identität mitwirkte. Die
Abgrenzung zum Fremden erfolgte durch die Gegenübersetzung des „Hellenen“ und des
„Barbaren“.
Diese identitätsstiftende Ordnung sah sich in der Spätantike mehrmals existentiell bedroht.
Ein Identitätsverlust hätte zum Auseinanderfallen der imperialen Ordnung geführt. Besonders
in solchen „Krisenzeiten“ bemühte man sich radikal und konsequent um eine
Identitätssicherung (IV. 1-3). Die Transformation der ursprünglich klassisch-römischen
Identität zur christlich-römischen wurde zu Zeiten der Bedrohung beschleunigt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Zur Konstruktion von Identität - ein Definitionsansatz

III. Zur Transformation einer Identität - die Entstehung des Imperium Christianum
1. Identität - „der Römer“
a. Bildung und Erziehung
b. Kaiserideologie
c. Staatlichkeit im Imperium Christianum
2. Alterität - „der Andere“
a. Der „Hellene“
b. Der „Barbar“

IV. Drei historische Phasen der Identitätsbedrohung
1. Phase 1
2. Phase 2
3. Phase 3

V. Fazit

VI. Literaturverzeichnis
1. Ausgaben der Primärtexte
2. Sekundärliteratur

I. Einleitung

Angesichts der florierenden Forschungsentwicklung zum Thema Spätantike soll die vorliegende Arbeit ein Versuch sein, sich an den Diskussionen und Arbeiten dieser entscheidenden Epoche zwischen Antike und Mittelalter zu beteiligen und im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten, einen kleinen Beitrag zu leisten.

Zahlreiche Detailstudien, die einzelne Aspekte der Epoche herausgreifen und diese behandeln, haben unser Wissen über diesen Zeitraum erweitert und in ein differenziertes Licht gerückt. So lassen es eben diese Detailstudien heute zu, dass Edward Gibbons These von einer Dekadenz des Imperium Romanum in der Spätantike nun relativiert und Einzelnachweise vorlegt werden können, die darlegen, dass viele spätrömische Regionen nicht vor einem wirtschaftlichen, sozialen und gar politischen Verfall standen, sondern erst aufblühten.[1] Solche und andere Erkenntnisse ließen Stimmen laut werden, die die spätantike Epoche als „Transformation von der Antike zum Mittelalter“ sehen wollten. Die Begriffe wie „Verfall“, „Niedergang“ und „Ende“ verschwanden aus dem Fachjargon und wurden durch „Wandel“, „Veränderung“ und „Metamorphose“ ersetzt. Auch wenn sich die Transformationsthese in der Forschung stets behaupten konnte, so hat sie gleichzeitig zahlreiche Kritiker gefunden. Die jüngere Forschung plädiert in diesem Sinne erneut für die Hervorhebung bestimmter Zäsuren in der Spätantike.[2] Sie zeigt, dass derartige Brüche für die Festlegung eines Epochenübergangs signifikante Bedeutung haben. Der historische Wert solcher Einschnitte gehe durch die Schaffung von Kontinuitäten verloren.[3] Noch wird die Debatte um Eingrenzung und Bestimmung der Rolle der Spätantike weiter geführt und ein Konsens scheint noch in weiter Ferne zu liegen.

Einen Weg, dieses „Forschungsdilemma“ zu lösen, also die Transformations- mit der Umbruchsthese zu verknüpfen, hat zuletzt Meier aufgezeigt.[4] Die Entwicklung des heuristischen Modells „Bedrohte Ordnung“ soll im Ergebnis insofern bereichernd sein, als dass es vermittelnd in der aktuellen Diskussion eingreift und die Erkenntnisse beider Richtungen zusammenführt.[5] Der Wert dieses Modells ist unverkennbar profitabel. Es soll deshalb auch in der vorliegenden Arbeit Verwendung finden. Die Akzentuierung des Modells soll jedoch eine andere sein, als jene, die Meier vorgenommen hat.

Wenn Transformationsbefürworter stets den Wandel beziehungsweise die Verwandlung des Römischen Reiches betonen und dies mittels Detailstudien nachzuweisen vermögen, so ist die Frage, was die „neue Gestalt“ des Imperiums jedoch genau ausmacht, dennoch nicht geklärt. Ein Beispiel aus der Literatur, das ähnlich wie im besprochenen historischen Fall Wissenschaftler spalten lässt, soll diese Problematik verdeutlichen:

Der Protagonist, Gregor Samsa, in Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ besitzt trotz seiner Verwandlung in seinem Inneren weiterhin eine menschliche Komponente - ein menschliches Bewusstsein. Äußerlich ist er jedoch nicht als Mensch definierbar: von seiner Familie wird er nach der Verwandlung nicht wiedererkannt. Seine neue Gestalt erlaubt ihm nur die eine Lebensweise: eine animalische Nahrungswahl, andersartige Fortbewegung etc. So bleibt trotz innerer Kontinuität , ein oberflächlicher Bruch unverkennbar. Die neue Gestalt verleiht ihm eine neue Identität, und mit dieser neu gewonnenen Identität versucht Gregor Samsa sich in seiner Umwelt zu behaupten. Es stellt sich die Frage: Was „ist“ Gregor Samsa nun? Welche „Identität“ hat er? Ist er das, wofür man ihn hält, nämlich ein Ungeziefer - oder doch ein Mensch, also das, wofür er sich selbst hält?

Die Frage nach der Identität, präziser nach der des Imperium Romanum, wird uns auch im Folgenden beschäftigen. Was ist aus dem Reich in der Spätantike geworden[6], das von den einen als eine Fortsetzung des bestandenen Reiches in verwandelter Form gesehen wird und von anderen als ein verfallenes Imperium, dessen Niedergang als logische Konsequenz seiner „Barbarisierung“ erschien?[7] Wodurch definiert es sich? Als was versteht es sich selbst? Welche Identität hat es angenommen? Kurzum: Was bedeutet „römisch-sein“ in der Spätantike?

Die Krux der Identitätsbestimmung ist jedoch: Je mehr Kriterien, die das „römisch-sein“ definieren sollen, gesucht werden, desto schwieriger erscheint es, dieses Attribut zu bestimmen.[8] Und dies liegt sicherlich nicht an dem meist herangezogenen Argument des Quellendefizits in der antiken Epoche, sondern an der Fragestellung selbst. Es ist der Identitätsbegriff, der es fast unmöglich macht, das Imperium Romanum in der Spätantike fassbar zu machen. Uwe Pörksen charakterisiert ihn deshalb auch als „Plastikwort“, da er nicht nur inflationär gebraucht wird, sondern auch eine allgemein transwissenschaftliche Verwendung findet. An Aussagekraft - wie es nun im Folgenden zu zeigen gilt - hat der Begriff allerdings definitiv nicht verloren,[9] lediglich an einer konkreten wissenschaftlichen Reflexion darüber.[10]

Der Begriff scheint angesichts aktueller politischer Entwicklungen, sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene eine Hochkonjunktur zu erleben. Die finanzpolitische und wirtschaftliche „Krise“ in Europa kratzt am Bild der „europäischen Identität“ und fordert die nationalistischen Stimmen im eigenen Land wieder heraus. Damit derartige Stimmen kein Gehör finden, stellt man ihnen die Propagierung einer genuin europäischen Identität entgegen, um so Europa zu stärken, Europa zu halten und Europa noch enger zusammenzubringen, kurzum: Europa (politisch) zu stabilisieren und zu legitimeren. Identität schafft Stabilität, Stabilität schafft Frieden, also schafft Identität Frieden? Eine Konklusion, die in der Realität natürlich viel komplexer verläuft und bei der sicherlich auch andere politische Realitäten eine Rolle spielen.

Gemeinsame Identitäten stärken Bündnisse, denn Identitäten grenzen von Alteritäten ab. Identitäten schaffen Nationen und fördern den Nationalismus. Identitäten beschleunigen die Homogenität einer Bevölkerung.[11] Sie legitimieren soziale und kulturelle Ordnungen.

Die Bedeutsamkeit der „Identität“ für die Konstruktion von Staat, Nation, Gruppe - und in diesem Fall - Imperium liegt also auf der Hand.

Diese Arbeit setzt sich daher zum Ziel, den Begriff der „Identität“ für das spätantike Reich anzuwenden. Grundsätzlich stellt sich dabei die Frage, ob es so etwas wie eine „römische Identität“ gegeben hat und was darunter in dem hier zu betrachtenden Zeitraum verstanden wurde. Wenn dieser Beweis erbracht wird, stellt sich die Frage, auf welchen Ebenen Identitätskonstituierung überhaupt möglich war und vollzogen wurde. Inwiefern schuf die Konstruktion einer Identität für das Imperium existentielle Grundlagen, und welche Bedeutung darf dieser Identität in einer Epoche des Wandels mit signifikanten Zäsuren zukommen? Zu beweisen ist, ob die Konstruktion einer Identität im Zuge des Transformationsprozesses Konsequenzen für das Fortbestehen und Überleben des Imperium Romanum in Zeiten des Umbruchs und der „Krise“ hatte.

Auf diesen Fragen aufbauend verfolgt die Arbeit folgende Struktur:

Zunächst soll der Identitätsbegriff für den Gebrauch in diesem spezifischen Kontext definiert werden. Mithilfe dieser methodischen Grundlage soll im zweiten Kapitel der Identitätsbegriff auf das Römische Reich angewendet werden. Es soll gezeigt werden, dass das Imperium Romanum sich aufgrund verschiedener Transformationsprozesse zu einem Imperium Christianum wandelte. Die Identität des neuen Imperiums konnte einerseits durch die Selbstbestimmung und andererseits durch die Abgrenzung zum Fremden gefestigt werden.

Auf drei Dimensionen der Selbstbestimmung (III.1a. Erziehung und Bildung; b. Kaiser­ideologie; c. Staatlichkeit) soll gezeigt werden, wie die christliche Lehre in die römische Gesellschaft eindringen konnte und an der Konstruktion einer neuen Identität mitwirkte. Die Abgrenzung zum Fremden erfolgte durch die Gegenübersetzung des „Hellenen“ und des „Barbaren“.

Diese identitätsstiftende Ordnung sah sich in der Spätantike mehrmals existentiell bedroht. Ein Identitätsverlust hätte zum Auseinanderfallen der imperialen Ordnung geführt. Besonders in solchen „Krisenzeiten“ bemühte man sich radikal und konsequent um eine Identitätssicherung (IV. 1-3). Die Transformation der ursprünglich klassisch-römischen Identität zur christlich-römischen wurde zu Zeiten der Bedrohung beschleunigt.

II. Zur Konstruktion von Identität - ein Definitionsansatz

Schon seit Jahrzehnten[12] beschäftigen sich Denker und Wissenschaftler mit dem Phänomen der Identität, doch eine übereinstimmende und von einem breiten Konsens getragene Definition gibt es nach wie vor nicht. Philosophen haben einen anderen Zugang zu dem Begriff als Politologen; Mathematiker und Physiker setzen sich mit dem Begriff anders auseinander als Soziologen; Psychologen gebrauchen ihn anders als Juristen. In der Identitätsforschung stellt sich daher berechtigterweise die Frage, ob der Begriff seinen aussagekräftigen Inhalt verloren hat und deshalb auf ihn verzichtet werden sollte.[13] Eine missverständliche Verwendung soll im Folgenden durch eine genaue Definition ausgeschlossen werden.

Da in der vorliegenden Untersuchung nicht nach der Identität einzelner Individuen gefragt wird, sondern der eines Großreiches, nämlich des Imperium Romanum, sind Modelle, die eine sozialpsychologische Grundlage haben, wenig hilfreich. Es soll deshalb der Versuch unternommen werden, den Identitätsbegriff eher als kollektives Phänomen zu fassen. Nicht einzelne Individuen beziehungsweise personale Identitäten stehen demnach im Vordergrund dieser Arbeit, sondern das Römische Reich als ein kollektives Gemeinwesen, als eine soziale Ordnung, als ein System. Die Identität eines solchen Kollektivs[14] kann auf systemtheoretischem Wege mithilfe zweier Faktoren beschrieben werden.

Der erste identitätsstiftende Faktor ist die Abgrenzung zum anderen - zur Alterität: „We identify an , other’ and then define ourselves against it: we know what we are (in some versions, only) through what we are not—and, possibly, vice versa“ - stellt der Cambridge Historiker Peter Mandler in einem Aufsatz zur british identity fest.[15] Er verdeutlicht, dass eine Identität durch die Bezeichnung seiner Differenz seine Bestimmung bekommt.[16] Die Identität nur in der Alterität und Differenz zu ihrer Umwelt zu konstituieren - also allein zu bestimmen was das Imperium Romanum nicht ist - reicht für die Identitätskonstruktion allerdings nicht aus. Von gleicher Bedeutung ist auch ein zweiter Faktor: definieren zu können, was man ist. Eine solche Deutung von Identität kann mittels eines sozialkonstruktivistischen Vorgehens erläutert werden.[17] In den Sozialwissenschaften ist man sich heute weitgehend einig, dass Identität eher die „Vorstellung von der Gleichheit eines ,Dings’ mit einem anderen bezeichnet, nicht Gleichheit selbst.“[18] Was Wagner als ,Dings’ bezeichnet, wird von Berger/Luckmann mit dem Begriff der „Sinnwelt“ umschrieben. Ausgehend von der Grundthese ihrer Wissenssoziologie, nämlich dass Wirklichkeit und Wissen sozial konstruiert sind[19], da sie in Prozessen der Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung gedeutet werden[20], ist das Ergebnis dieser Deutung die sogenannte Sinnwelt. Kurzum: Wirklichkeit und Wissen werden vom Einzelnen in der gedeuteten Sinnwelt erfasst. Einzelne Personen können verschiedene Rollen in einer Gesellschaft ausführen und fühlen sich demnach auch verschiedenen Gruppen zugehörig. So werden mehrere Sinnwelten gleichzeitig aufgebaut.[21] Die Sinnwelt der Familie steht neben der Sinnwelt der Arbeitsgruppe, der Freundesgruppe, der Stadt etc. Mehrere Sinnwelten existieren entweder beziehungslos nebeneinander oder können auch Hierarchien aufbauen. Unter einer Sinnwelt werden verschiedene Sinnwelten subsummiert, so dass eine umfassende, „oberste“ Sinnwelt Legitimationspotential hat. Berger/Luckmann sprechen daher von einer „symbolischen Sinnwelt“, die „als die Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit zu verstehen“ ist.[22] Bei der Stärkung der Identität spielt die „symbolische Sinnwelt“ durchaus eine entscheidende Rolle. Sie gibt der Formel „Ich bin bzw. wir sind‘ einen Inhalt und eine Bedeutung. Dabei kann die Religion als „symbolische Sinnwelt“ fungieren.[23] Genau sie ist es, die im spätantiken, historischen Kontext den Identitätsdiskurs der Zeitgenossen bestimmt. Wenn Heiden[24] ihre christliche Umwelt für den Verfall von römischen Sitten verantwortlich machen, dann unterstellen sie ihnen implizit, mit ihrer Religion die klassisch-antike Identität des Imperiums zu bedrohen und damit das Reich selbst.[25] „Die Religion dient ursprünglich der Integration der Gesellschaftsordnung und der Legitimation des Status quo.“[26] Mit der Missionierung des christlichen Glaubens in einer zunächst mehrheitlich heidnischen Römerwelt wurde dieses Status quo durch Christen aber hinterfragt.

Die Entstehung einer neuen „symbolischen Sinnwelt“ im Imperium Romanum, ihre Etablierung und erfolgreiche Ausweitung konstruierte eine neue Identität und vermittelte der zeitgenössischen Wirklichkeit einen neuen, übergeordneten Sinn.

III. Zur Transformation einer Identität -Entstehung des Imperium Christianum

1. Identität - „Der Römer“

a. Bildung und Erziehung

In seiner Antrittsvorlesung ging der Kirchenhistoriker und Theologe Christoph Markschies 2001 der Frage nach, warum das Christentum in der Antike überlebt hat. Er kam zu der Begründung: Das Christentum hatte „[...] viele Elemente der antiken Kultur synthetisiert“.[27] Die Bedeutung von Kultur für die Prägung einer Gesellschaft und die Bildung einer Identität sollte deshalb nicht vernachlässigt werden.[28] Im Sinne Berger/Luckmann stellt auch sie eine „symbolische Sinnwelt“ dar, die die Wirklichkeit deutet und sinnhaft erfahrbar macht. Nachfolgend soll deshalb geklärt werden, wie „die“ Kultur des Imperium Romanum in der Spätantike wahrgenommen wurde. Welche Rolle spielten Geist, Idee, Meinung, Ideale, also die Gesamtheit aller Sinn- und Wertgehalte bei der Bestimmung von Identität? Dass diese Frage einhergeht mit der Analyse, wie „Kultur“ sich überhaupt in eine Gesellschaft manifestieren kann, ist selbstredend.

Bildungssoziologen und Anthropologen sind sich einig, dass die Aneignung kultureller Güter durch den Bildungsprozess ermöglicht wird. Bereits in der augusteischen Zeit legte man großen Wert darauf, Bildung, die im Ideal des litteratus verkörpert war, anzustreben.[29] Litteratus war eine Lebenshaltung; er ermöglichte die Integration in die von Wort und Schrift geprägte Kultur der Antike. Selbst in der Spätantike blieb dieses Ideal erhalten, auch wenn Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge eine Bedeutungsverschiebung des Begriffes herbeiführten.[30] In den Kreisen der römischen Senatsaristokratie wurde das Kriterium des litteratus zum Indikator sozialer Distinktion. Die Frage, ob man im Besitz des litteratus war oder nicht, sollte einerseits innerhalb des Imperium Romanum die gesellschaftliche Stellung eines jeden konstituieren; gegenüber den „Barbaren“ wurde litteratus als das Merkmal der romanitas bestimmt.[31] Dabei darf das Ideal litteratus keineswegs auf sein Verständnis von der Fähigkeit, lateinische Schrift und Sprache zu beherrschen, reduziert werden. Demnach war ein illitteratus auch kein Analphabet, sondern lediglich einer, der nicht zur höheren Bildung vorgedrungen ist.[32] Die höhere Bildung konnte durch eine hellenistisch-philosophische Erziehung erlangt werden, die in der Antike unter dem Begriff der paideai zu subsumieren ist. Sie sollte nicht nur auf die Probleme des Daseins antworten, sondern ebenso ethische Anregungen zu einer sinnvollen Lebensgestaltung geben.[33] Verstärkt verlangt wurde dies besonders in Zeiten größerer Unruhen und der Krisenbewältigung. So forderte das 3. Jahrhundert die Zeitgenossen heraus, Erklärungen für auftretende Krisenphänomene zu geben. Es war nicht nur von häufigen kaiserlichen Machtwechseln gekennzeichnet, sondern ebenso von äußeren Bedrohungen durch Barbarenvölker und innere Katastrophenerscheinungen, wie dem Ausbruch von Seuchen.. Neben den („neu- “)platonischen Sinngebungen im „Zeitalter der Angst“ versuchten sich auch die Christen als „Deuter der Welt“. Gemein war den beiden Lehren, dass sie eine attraktive Aussicht auf die Rettung der Seele anboten.[34] Während die hellenistische Philosophie anthropozentrisch ausgerichtet war, und eine Rettung ausschließlich an den strikten Vollzug der paideai koppelte, versprach das Christentum eine Erlösung der Seele, die durch Gott vollzogen werde.[35] Solche Unterschiede in der Interpretation der Sinnwelt ließen die Christen noch vor der „konstantinischen Wende“ zu Feinden der römischen Ordnung werden.[36] Von ihrer heidnischen Umwelt als Bedrohung der kulturellen Ordnung wahrgenommen,[37] sahen sich die Christen selbst jedoch in der Tradition der romanitas, wozu auch die paideai gehörte. Sicherlich war man sich unter den christlichen Zeitgenossen bewusst, dass eine innerweltliche Erfüllung menschlicher Existenz im Sinne der paideai der christlichen Lehre einer eschatologischen Heilstat Gottes widersprach[38], dennoch gab es Anstrengungen, die beiden Ideen miteinander zu verbinden.[39]

[...]


[1] Vgl. Krause, Jens-Uwe, Die Spätantike (284-565), in: Gehrke, Hans-Joachim/SCHNEIDER, Helmuth, Geschichte der Antike. Ein Studienbuch, Stuttgart 2010, S. 409-477, hier S. 410.

[2] HEATHER, Peter: The Fall of the Roman Empire, London 2006.; Ward-Perkins, The Fall of Rome and the End of civilization, Oxford 2006.

[3] Vgl. Meier, Mischa, Ostrom-Byzanz, Spätantike-Mittelalter. Überlegungen zum ,Ende’ der Antike im Osten des Römischen Reiches (unveröffentlichter Aufsatz), S. 1-45, hier S. 6f.

[4] Ebd., S. 10-13.

[5] Ebd.

[6] Für die Benutzung des Begriffs „Identität“ ist es sinnvoll, laut Wagner, nicht nach dem „Sein“ zu fragen, sondern vielmehr nach dem „Werden“, weil Identitäten durch ihre „Zeitlichkeit“ konstituiert sind, S. 68.

[7] Gibbon, Edward, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, hrsg. v. David Womersley, 3. Bde., New York 1994.

[8] Der Versuch, das Attribut „römisch-sein" zu bestimmen, wurde zuletzt weniger erfolgreich von Revell, Louise (Roman Imperialism and Local Identities, Cambridge 2008) unternommen.; Siehe auch Sommer, Michael über Revell, Louise: Roman Imperialism and Local Identities, Cambridge 2008, in: H-Soz-u-Kult 22.02.2010.

[9] Vgl. Niethammer, Lutz, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Hamburg 2000, Kapitel 1.1 Annährung an ein Plastikwort: Er spricht sich für einen Verzicht dieses Begriffes aus.

[10] Vgl. WAGNER, Peter, Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität, in: Assmann, Aleida/ Friese, Heidrun (Hgg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt a. M. 1999, S. 44-72, hier S. 68 ff.

[11] Vgl. Geary, Patrick, Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt a. M. 2002, Einleitung.

[12] In den 40er Jahren tauchte das Wort in der Individualpsychologie das erste Mal auf und fand alsbald auch in anderen Disziplinen Verbreitung (Assmann, Identitäten, Einleitung, S. 11)

[13] Vgl. Anm. 10.

[14] Es ist an der Stelle nicht möglich, sich an der fächerübergreifenden Diskussion um den Identitätsbegriff zu beteiligen, aber die Verwendung des Begriffs „kollektive Identität" soll trotz Kritik Bergers/Luckmanns weiter verwendet werden. Zur Verteidigung des Begriffes siehe AsSMANN:„Identität ist eine Sache des Bewusstsein, d.h. des Reflexivwerdens eines unbewussten Selbstbildes. Das gilt im individuellen wie im kollektiven Leben." (Assmann, Aleida, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 130); ferner Straub, Jürgen, Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Assmann, Aleida/FRIESE, Heidrun (Hgg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3 Frankfurt 1998, S. 73-104.

[15] Mandler, Peter, What ist „National Identity"? Definitions and applications in Modern British Historiography, in: Modern Intellectual History 3, 2 (2006), S. 271 - 297, hier S. 272.

[16] In diesem Sinne auch WAGNER, Fest-Stellungen, S. 56.

[17] Vgl, Wagner, Fest-Stellungen, S. 63: „Wird Identität als Schicksal erfahren, so ist sie offenbar Teil einer objektiven Realität; wird sie aber gewählt, so ist sie zunächst nur eine von mehreren Möglichkeiten und als solche (noch) nicht wirklich. Drückt sich in dem Begriff Identität die Autonomie des Menschen aus, so ist sie real; wird der Diskurs der Identität aber entwickelt, um Autonomie des Selbst und Herrschaft über andere zu ermöglichen, so ist Identität eine Konstruktion und nicht vorgegebene Wirklichkeit.“

[18] Wagner, Fest-Stellungen, S. 63; Vgl. Berger, Peter/LUCKMANN, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1969.

[19] Vgl. Berger/Luckmann, S. 1.

[20] Ebd., S. 4-7.

[21] Vgl. Berger/Luckmann, Konstruktion der Wirklichkeit, S. 98-103.

[22] Ebd., S. 103.

[23] Vgl. Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1992, S. 106.

[24] Im Sinne von „Polytheisten“.

[25] Vgl. MÄNNLEIN-ROBERT, Irmgard, Wozu Feinde? Zur Konstruktion und Funktionalisierung von Feindbildern in konkurrierende Ordnungen, Vortrag am 31. März 2012 auf der Konferenz „Bedrohte Ordnung 1“, Tübingen.

[26] Ebd.; Zu weiteren Funktionen von Religion und ihrem Verhältnis zur sozialen Ordnung vgl. Sellmann, Matthias, Religion und soziale Ordnung, Gesellschaftstheoretische Analysen, Frankfurt a. M. 2007.

[27] MARKSCHIES, Christoph, Warum hat das Christentum in der Antike überlebt? Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Kirchengeschichte und Systematischer Theologie, Leipzig 2004.

[28] Vgl. Geertz, Clifford, The Interpretation of Cultures, New York 1973, S. 90.; Gürses, Hakan, Funktionen der Kultur. Zur Kritik des Kulturbegriffs, in: Nowotny, Stefan/ Staudigl, Michael (Hgg.), Grenzen des Kulturkonzepts. Meta-Genealogien, Wien 2003, S. 13-34, hier S. 24.

[29] Vgl. Gemeinhardt, Peter, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung (Studien und Texte zu Antike und Christentum Bd. 41), Tübingen 2007, S. 57.

[30] Ebd., S. 59.

[31] Ebd.

[32] Vgl. Gemeinhardt, Christentum und Bildung, S. 58.

[33] Vgl. Steiner, Heinrich, Das Verhältnis Tertullians zur antiken Paideia (Studien zur Theologie und Geschichte, Bd. 3), St. Ottilien 1989, S. 39.

[34] Vgl. Vortrag von Männlein-Robert, Wozu Feinde?

[35] Vgl. Stockmeier, Peter, Glaube und Paideia, Zur Begegnung von Christentum und Antike, in: Johann, Horst-Theodor, Erziehung und Bildung in der heidnischen und christlichen Antike (Wege der Forschung Bd. 377), S. 527-548, hier S. 529 ff.

[36] Vgl. Vortrag von Männlein-Robert, Wozu Feinde?

[37] Vgl. Leppin, Hartmut, Politik und Pastoral -Politische Ordnungsvorstellungen im frühen Christentum, in: Graf , Friedrich Wilhelm/ Wiegandt, Klaus: Die ersten Jahrtausende des Christentums, Frankfurt 2009, theol C 113 S. 308-338, S. 321 ff.

[38] Dass die Verwendung des Begriffes bei den christlichen Schriftstellern nicht ohne Vorbehalt übernommen, sondern durchaus kritisch reflektiert wurde, sei an der Stelle kurz angemerkt. Kritiker wie Tertullian betonten vor allem den heidnischen Ursprung des paideia-Begriffes ( STEINER, Tertullian und paideia.).

[39] Vgl. Stockmeier, Glaube und Paideia, S. 31.

Details

Seiten
Jahr
2012
ISBN (eBook)
9783656329824
ISBN (Paperback)
9783656329930
DOI
10.3239/9783656329824
Dateigröße
514 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Erscheinungsdatum
2012 (Dezember)
Note
1,0
Schlagworte
Spätantike Transformation Identität Christentum Kaisertum Ende der Antike; Sinnwelt Luckmann Meier
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