Widersprüche im Denken und Wollen
Die vier Beispiele nach der Naturgesetzformel in Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten"
Zusammenfassung
Die Stimmigkeit dieser vier Beispiele ist bis heute zu recht sehr umstritten. Diese Arbeit stellt einen erneuten Versuch der Klärung dieser Beispiele dar. Für Kant ist klar, dass man Handlungsmaximen - kurz gesagt vom Willen ihm selbst auferlegte Prinzipien -, damit dessen entspringende Handlungen wahrhaft moralisch sein können, also „aus Pflicht“ geschehen, als allgemeines Gesetz „wollen können“1 muss. Dies bildet die minimale Voraussetzung für eine Maxime, um als moralisch zu gelten, er nennt Maximen, die „nur“ diese erfüllen, unvollkommene Pflichten. Die vollkommenen Pflichten müssen zusätzlich nicht einmal gedacht werden können.2
Je zwei der vier Beispiele beschreiben diese beiden Formen der Pflichten, jeweils eins für eine Pflicht gegen uns selbst und eins gegen andere. Da auch für diese Beispiele, die deontologische Ethik greifen und nicht etwa der Vorwurf des versteckten Utilitarismus für wahr befunden werden muss, steht und fällt die Naturgesetzformel mit den Begriffen „Wollen-können“ und „Denken-können“. Das Hauptziel wird also deren Klärung sein. Dabei wird zuerst eine kurze Hinführung durch die GMS bis zu diesem Punkt gegeben. Im Anschluss, um das eigentliche Problem aufzuzeigen, soll der Begriff der „deontologischen Ethik“ und grundlegend Kants Begriffe des „Willens“ und der „Maxime“ geklärt werden. Um die Grundlage für die spätere Neudeutung der Beispiele zu geben, ist es unerlässlich, danach Kants Begriffe von „Natur“ und „Freiheit“ und deren Zusammenhang zu klären, bevor dann die eigentlichen Beispiele und die Unterschiede in den Begriffen „denken“ und „wollen“ behandelt werden.
Leseprobe
INHALTSVERZEICHNIS
1. Wollen und denken - Ein Begriffsproblem
2. Die erneute Klärung der kantischen Beispiele
2.1 Die Hinführung zur Naturgesetzformel
2.2 Kants deontologische Ethik
2.3 Kants Willens- und Maximenbegriff
2.4 Natur und Freiheit
2.5 Die Pflichten in ihrer Unterscheidung - Ursprung der Triebfeder
2.5.1 Der Selbstmord aus Lebensüberdruss
2.5.2 Das unwahre Versprechen
2.5.3 Die Verwahrlosung der Talente
2.5.4 Die Unterlassung der Hilfe
3. Denkwiderspruch und Wollenswiderspruch
4. Bibliographie
1. WOLLEN UND DENKEN - EIN BEGRIFFSPROBLEM
Mit seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (GMS) eröffnete Immanuel Kant im Jahr 1785 seine Philosophie der Ethik. Dreh- und Angelpunkt dieser Schrift ist der berühmte „kategorische Imperativ“. Dieser macht Kants Ethik, wenn dies auch oft falsch verstanden wurde, zu einer deontologischen Ethik. Im Rahmen der synthetischen Vorgehensweise im zweiten Kapitel kommt es zu einer ersten Abwandlung in der Formulierung des kategorischen Imperativs, der Naturgesetzformel, an welche vier Beispiele zur genaueren Einteilung derselben anknüpfen.
Die Stimmigkeit dieser vier Beispiele ist bis heute zu recht sehr umstritten. Diese Arbeit stellt einen erneuten Versuch der Klärung dieser Beispiele dar. Für Kant ist klar, dass man Handlungsmaximen - kurz gesagt vom Willen ihm selbst auferlegte Prinzipien -, damit dessen entspringende Handlungen wahrhaft moralisch sein können, also „aus Pflicht“ geschehen, als allgemeines Gesetz „wollen können“1 muss. Dies bildet die minimale Voraussetzung für eine Maxime, um als moralisch zu gelten, er nennt Maximen, die „nur“ diese erfüllen, unvollkommene Pflichten. Die vollkommenen Pflichten müssen zusätzlich nicht einmal gedacht werden können.2 Je zwei der vier Beispiele beschreiben diese beiden Formen der Pflichten, jeweils eins für eine Pflicht gegen uns selbst und eins gegen andere. Da auch für diese Beispiele, die deontologische Ethik greifen und nicht etwa der Vorwurf des versteckten Utilitarismus für wahr befunden werden muss, steht und fällt die Naturgesetzformel mit den Begriffen „ Wollen-können “ und „ Denken-können “. Das Hauptziel wird also deren Klärung sein. Dabei wird zuerst eine kurze Hinführung durch die GMS bis zu diesem Punkt gegeben. Im Anschluss, um das eigentliche Problem aufzuzeigen, soll der Begriff der „deontologischen Ethik“ und grundlegend Kants Begriffe des „Willens“ und der „Maxime“ geklärt werden. Um die Grundlage für die spätere Neudeutung der Beispiele zu geben, ist es unerlässlich, danach Kants Begriffe von „Natur“ und „Freiheit“ und deren Zusammenhang zu klären, bevor dann die eigentlichen Beispiele und die Unterschiede in den Begriffen „ denken “ und „ wollen “ behandelt werden.
2. DIE ERNEUTE KLÄRUNG DER KANTISCHEN BEISPIELE
2.1 DIE HINFÜHRUNG ZUR NATURGESETZFORMEL
Das erste Kapitel beginnt mit Kants berühmter These, es sei „überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“3 Von dieser These des guten Willens aus verfährt er auf analytischem Wege und stellt zuerst den Willen als praktische Vernunft dar. Er kommt dann zum Begriff der Pflicht und unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen drei verschiedenen Handlungen: nicht-pflichtgemäße, pflichtgemäße und Handlungen aus Pflicht. Nur letztere stellen eigentlich moralische Handlungen dar, wenngleich erst im Folgenden das Gesetz vorgestellt wird, dem die Handlungen gemäß sein sollen.
Um klarzustellen, dass nicht konkrete Handlungen an sich gemeint sind, sondern sich Kants Moralphilosophie in der GMS auf einer rein theoretischen und vor allem allgemeinen Ebene bewegt, führt er den Begriff der Maxime ein, als „das subjektive Prinzip des Wollens“4. Diese selbst auferlegten Maximen müssen nach Kant, um moralisch sein zu können, dem kategorischen Imperativ gemäß sein, der in seiner ersten Form gebietet, „ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.“5
Von diesem aus verfährt Kant umkehrt, also synthetisch, und prüft dessen Möglichkeit überhaupt. Nach einer Kritik der populären Moralphilosophie schließt eine Einteilung des Begriffs Imperativ in hypothetisch und kategorisch an, doch zuerst wird nur eine Erklärung für die Möglichkeit hypothetischer Imperative gegeben.
Im Anschluss daran wird eine erste Umformulierung des kategorischen Imperativs vorgenommen, die sogenannte Naturgesetzformel, und lautet nun: „handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“6 Daran anschließend formuliert Kant vier Beispiele, je zwei für vollkommene und zwei für unvollkommene Pflichten, einmal gegen uns selbst, einmal gegen andere.
2.2 KANTS DEONTOLOGISCHE ETHIK
Bevor auf die einzelnen Beispiele eingegangen wird, ist es wichtig zu klären, dass Kant mit seinem kategorischen Imperativ nicht etwa eine konsequentialistische Ethik verfolgt, es geht nicht um Mittel-Zweck-Relationen, diese wären nach Kant den hypothetischen Imperativen zuzuordnen. „Wer den Zweck will, will (sofern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluss hat) auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist.“7 Nun sind für ihn hypothetische Imperative aber nur „Regeln der Geschicklichkeit, oder Ratschläge der Klugheit“, doch nie „Gebote (Gesetze) der Sittlichkeit“8. Auch distanziert er sich von einer teleologischen Ethik mit ihrer Grundidee von dem Menschen naturgegebenen Zielen und zu erreichenden Zwecken. Kant verfolgt vielmehr eine deontologische Ethik, es geht ihm nicht um den Zweck der Handlung an sich, sondern einzig darum, dass die Maxime dem Gesetz gemäß ist. Nur die formale Struktur der Maxime ist also entscheidend, taucht nach der Verallgemeinerung der Maxime ein Strukturwiderspruch auf, ist sie nicht moralisch. Für die unvollkommenen Pflichten wird diese Tatsache das entscheidende Problem sein, und der Grund aus dem Kant oft versteckter Utilitarismus vorgeworfen wurde.9
2.3 KANTS WILLENS- UND MAXIMENBEGRIFF
Wie bereits angerissen wurde, nimmt der Wille in Kants Ethik eine entscheidende Rolle ein. Während der Wille in der vorkantischen Ethik zum Großteil als determiniert betrachtet und nur am Rande behandelt wurde, führt Rousseau ihn als autonom ein.10 Kant übernimmt diese Einschätzung und macht sie zum Grundpfeiler seiner Ethik. Der Wille ist für ihn „nichts anderes als die praktische Vernunft selbst“11, eine Tatsache in Kants Begrifflichkeit, die an späterer Stelle hier von entscheidender Bedeutung sein wird. Damit ist der Wille auch in der Lage, sich selbst Gesetze aufzuerlegen12. Das Einzelergebnis dieser Selbstgesetzgebung nennt er „Maxime“, sie ist „das subjektive Prinzip des Wollens“. Als solche meint eine Maxime aber noch keine konkrete Handlung, sondern den Gedanken aus dem Handlungen entspringen sollen. Sie ist außerzeitlich zu betrachten, als das bloße Konstrukt für folgende Handlungen. Als solche weist sie eine Prinzipstruktur auf, wenn dies auch nicht bedeutet, dass die entspringenden Handlungen notwendig keine Ausnahmen zuließen.
2.4 NATUR UND FREIHEIT
Um verstehen zu können, welchen Unterschied Kant zwischen den beiden Formen der Pflicht vor dem „allgemeinen Naturgesetze“ meint, muss geklärt werden welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede er in den Begriffen „Natur“ und „Freiheit“ sieht. Dazu muss ein Exkurs in den dritten Teil der GMS vorgenommen werden. Er beginnt dieses Kapitel mit folgendem Satz:
„Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; so wie Naturnotwendigkeit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt zu werden.“13
Es wird hier zuerst der Begriff des Willens als eine Form von Kausalität aufgegriffen, anzutreffen - und das ist entscheidend - im vern ü nftigen Wesen. Der Begriff der Freiheit ist hierzu die Bedingung. Das ganze Kapitel ist ein Versuch, die Freiheit des Willens und damit der Vernunft zu beweisen, wenngleich er zu dem Schluss kommt Freiheit sei nur eine Idee der Vernunft und objektiv zweifelhaft14 und man, „wie Freiheit möglich sei, niemals begreifen könnte.“15 Die Willensfreiheit wird letztendlich also ‚nur‘ negativ bewiesen: die Freiheitsthese tritt in keinen Widerspruch zur Argumentation und muss als notwendige Bedingung der Möglichkeit zur Moralität angenommen werden. Es stellt sich die Frage der Freiheit wovon und die einzige Antwort kann lauten: Freiheit vom Naturdeterminismus. Natur oder „Naturnotwendigkeit“, wie Kant es ausdrückt bedingt eine Kausalität durch „fremde Ursachen“, gültig für vernunftlose Wesen. Die Vernunft ist also in gewissem Sinne isoliert zu betrachten, wenngleich das vernünftige Wesen „sich wie ein Phänomen in der Sinnenwelt (welches er wirklich auch ist) wahrnimmt“16. Um diesen Widerspruch aufzulösen stellt er die Begriffe Ding in der Erscheinung und Ding an sich selbst gegenüber und behauptet, es enthielte nicht den mindesten Widerspruch, dass das vernünftige Wesen als ersteres betrachtet der Naturkausalität und als letzteres der Vernunft und damit der Willenskausalität unterlegen sei.17
[...]
1 Kant (1903), S. 424.
2 ders., S. 424.
3 Kant (1903), S. 393.
4 ders., S. 400.
5 ders., S. 402.
6 ders., S. 421.
7 Kant (1903), S. 417.
8 ders., S. 416.
9 Schöndorf (1985), S. 549.
10 vgl. Thies (2006), S. 555.
11 ders., S. 555.
12 vgl. Kant (1903), S. 402.
13 Kant (1903), S. 446.
14 vgl. ders., S. 455.
15 ders., S. 456.
16 ders., S. 457.
17 vgl. ders., S. 457.