Die 1970er und 1980er Jahre markieren in der Medientheorie einen so
genannten „medial turn“, einen Medienwechsel und Traditionsbruch mit
klassischen Kommunikationsweisen. Die Verbreitung der „Neuen Medien“
und die Digitalisierung und Mediatisierung der Gesellschaft beeinflussen das gesamte System der Künste. So entsteht eine neue „digitale Kultur“, die
Kunst und Wissenschaft verbindet und einen medienhistorischen Bruch
einleitet. Auch Javier Marías bricht in seinem Roman „Corazón tan blanco“
mit traditionellen Kommunikationsformen. Die folgende Analyse, die sich mit
den Kapiteln 10 und 11 des Romans befasst, unterliegt der Frage nach dem
medialen Mehrwert, den die Videotechnik leistet. Ausgangspunkt der Analyse
ist eine Definition des Begriffs Medium. Anschließend soll Sybille Krämers
Vorstellung eines Mediums als Spur und als Apparat unter Berücksichtigung
des Romas näher erläutert werden. Zuletzt wird auf Walter Benjamins Begriff
der Aura eingegangen und die Funktion des Kameramanns und die
Kameraführung auch in Bezug auf den Roman näher bestimmt
Inhaltsverzeichnis
1. „Neue Medien“ und ihr Mehrwert
2. Zum Medienbegriff
2.1 Techniktheoretischer Ansatz
2.2 Semiotischer Ansatz
3. Das Medium als Spur
3.1 Definition nach Sybille Krämer
3.2 Spuren in „Corazón tan blanco“
4. Das Medium als Apparat
4.1 Instrument vs. Medium
4.2 Welterzeugung in „Corazón tan blanco”
5. Einfluss der Reproduktionstechnik auf das Medium
5.1 Der Begriff der Aura
5.2 Der Verlust der Aura
6. Das Medium und der Kameramann
6.1 Die Stellung des Kameramanns
6.2 Kameraführung in „Corazón tan blanco“
7. Fazit
1. „Neue Medien“ und ihr Mehrwert
Die 1970er und 1980er Jahre markieren in der Medientheorie einen so genannten „medial turn“[1], einen Medienwechsel und Traditionsbruch mit klassischen Kommunikationsweisen. Die Verbreitung der „Neuen Medien“ und die Digitalisierung und Mediatisierung der Gesellschaft beeinflussen das gesamte System der Künste. So entsteht eine neue „digitale Kultur“[2], die Kunst und Wissenschaft verbindet und einen medienhistorischen Bruch einleitet. Auch Javier Marías bricht in seinem Roman „Corazón tan blanco“ mit traditionellen Kommunikationsformen. Die folgende Analyse, die sich mit den Kapiteln 10 und 11 des Romans befasst, unterliegt der Frage nach dem medialen Mehrwert, den die Videotechnik leistet. Ausgangspunkt der Analyse ist eine Definition des Begriffs Medium. Anschließend soll Sybille Krämers Vorstellung eines Mediums als Spur und als Apparat unter Berücksichtigung des Romas näher erläutert werden. Zuletzt wird auf Walter Benjamins Begriff der Aura eingegangen und die Funktion des Kameramanns und die Kameraführung auch in Bezug auf den Roman näher bestimmt.
2. Zum Medienbegriff
Bevor der Mehrwert der Videotechnik aufgezeigt werden kann, muss zunächst geklärt werden, was man unter einem „Medium“ versteht. Marshall McLuhan und Niklas Luhmann haben eine unterschiedliche Auffassung des Medienbegriffs, der im Folgenden näher erläutert werden soll.
2.1 Techniktheoretischer Ansatz
Der techniktheoretische Ansatz des Medientheoretikers Marshall McLuhan stammt aus den 1960er Jahren. Er geht davon aus, dass mechanische Techniken die körperlichen Funktionen des Einzelorganismus auslagern und überträgt dies auf die elektronischen Medien. Diese erweitern die Sinnesorgane, indem das Zentralnervensystem als kollektives, weltweites Netzwerk fungiert. So wird die Neutralisierung von Raum- und Zeitunterschieden ermöglicht. Ein Videofilm kann also räumliche und zeitliche Distanzen auflösen, auditive und visuelle Wahrnehmung über Ohren und Augen exteriorisieren. Techniken und Medien fungieren im techniktheoretischen Ansatz als eigendynamische Mittel. Sie prägen die Botschaft, die sie vergegenwärtigen, mit. Das Medium ist also die Botschaft.[3]
2.2 Semiotischer Ansatz
Niklas Luhmann tritt in seinem semiotischen Ansatz aus den 80er Jahren vollkommen aus dem Technikdiskurs heraus. Er geht vom Zeichen aus, dessen Zeichenträger und Zeichenbedeutung eine arbiträre Verbindung eingehen, wobei der Zeichenträger als Transportmittel fungiert und keine Bedeutung trägt. Die Zeichenlehre überträgt Luhmann auf die Form-Medium-Distinktion. Zeichenträger verhält sich zur Zeichenbedeutung wie die Form zum Medium. Dabei ist das Medium das Vorauszusetzende, das eine Unmenge möglicher Formen bedingt. Das Medium zeichnet sich durch lose Elemente aus, denen potenziell Struktur verliehen werden kann. Die Form ist die tatsächliche Verknüpfung dieser Elemente und die daraus entstandene und dem Medium zugewiesene Struktur. Die Materialität des Mediums spielt keine Rolle, es ist neutral.3 In Bezug auf die Videotechnik nimmt der Betrachter nicht das Medium des leeren Videobandes wahr, sondern erst die durch Kopplung entstandene Form des bespielten Videobandes.
3. Das Medium als Spur
Auch Sybille Krämer geht in ihrer Medientheorie von einem semiotischen Ansatz aus und spricht von einer wechselseitigen Bedingtheit von Medium und Zeichen. Im Gegensatz zum arbiträren Charakter von Zeichen sind Medien fremdbestimmt. Medien treten in den Hintergrund und bringen den Sinn in Form der Botschaft an die Oberfläche. Die Materialität des Mediums bringt einen Mehrwert an Sinn zum Vorschein, der nicht der Natur des Mediums entspricht. Man spricht auch von der Spur des Mediums, die an der Botschaft haftet.3 Diese Spur soll im Folgenden näher erläutert werden. Anschließend werden Beispiele aus „Coranzón tan blanco“ gegeben, die im Text genau diese Spur des Mediums aufweisen.
3.1 Definition nach Sybille Krämer
Entscheidend für das Hinterlassen von Spuren und den damit entstehenden Überschuss an Bedeutung ist die unbeabsichtigte Nutzung des Mediums. Ist dies nicht gegeben, handelt es sich um ein Zeichen. Man spricht auch von der Eigensinnigkeit des Mediums, da es Bedeutung enthält, die vom Nutzer nicht angestrebt war. Die Auswirkungen der Spuren stellen für die Botschaft einen quantitativen Mehrwert an Bedeutung dar.[4]
3.2 Spuren in „Corazón tan blanco“
Dieser Mehrwert an Bedeutung wird im 10. Kapitel von „Corazón tan blanco“ ersichtlich. Es geht um ein Video, das die Freundin des Erzählers Juan, Berta, von einem Unbekannten namens Bill von einer Agentur erhält. In diesem Video ist ein männlicher Oberkörper in einen Bademantel gehüllt zu sehen. Das Bild bewegt sich nicht und Bill versucht seine Identität zu verschleiern, indem er weder sein Gesicht zeigt, noch in seiner Muttersprache spricht:
„Durante los tres o cuatro minutos grabados el plano no cambió, fue siempre el mismo, la cámara quieta, y lo que en él se veía era un torso sin rostro, el encuadre cortaba la cabeza del hombre por la parte de arriba (...) y por abajo no alcanzaba más que hasta la cintura, la figura eruida.”[5]
Die Videoaufzeichnung ähnelt eher einer Fotographie als einem bewegten Bild. Bill versucht dem Video seine charakteristischen Eigenschaften zu nehmen und Berta möglichst wenig von sich preiszugeben. Die Umkehrung des medienhistorischen Prozesses gelingt jedoch nur teilweise, da Bill nicht beabsichtigte Spuren hinterlässt, die so seiner Botschaft einen Mehrwert im Sinne Krämers verleihen. Das Standbild wird durch die Bewegung des Adamsapfels unterbrochen. Außerdem ist im Hintergrund anfangs leise Musik zu hören. Desöfteren erscheint sein Kinn im Bild und nach Beendigung der Aufnahme kann man das Hotelzimmer Bills sehen, der aufstehen muss, um die Kamera auszuschalten. Außerdem hinterlässt Bill Spuren durch die Nutzung des Englischen: „Hablaba en inglés (…) pero su acento lo delataba como español (…).“[6] Sein Akzent und die Wortwahl machen deutlich, dass Bill Spanier ist. Die eingeschränkte Kameraperspektive ist statisch und macht somit jede kleinste Bewegung Bills umso ersichtlicher. Durch das Fehlen eines Kameramannes und die begrenzte Fokussierung auf den Oberkörper Bills, werden unbewusst Spuren hinterlassen, die Bertas Interesse und Vorstellungskraft wecken, jedoch wieder verschwimmen, so dass Berta das Video wiederholt ansehen muss. Der Überschuss an Bedeutung eröffnet Spielraum für Spekulationen zwischen Berta und Juan. In qualitativer Hinsicht reicht dieser Mehrwert jedoch nicht aus, um Bill zu identifizieren. Bill versucht den medienhistorischen Prozess umzukehren, unterschätzt jedoch die Wirkungskraft des Mediums. Letztendlich schafft er es nicht das Medium Video zu überlisten. Die Technik setzt sich durch und tritt vor das „Standbild“. Roland Galle spricht von einer „ausgeprägten Krise des Porträts“[7]. Einerseits durch den Medienwandel von der Malerei zur Fotografie, bis hin zum Video. Andererseits durch das „Verschwinden des Subjekts“[8] und die beginnende Entindividualisierung des Dargestellten in der Fotographie, die sich eher der Momentaufnahme zuwendet, anstatt charakterliche Eigenschaften des Motivs zu repräsentieren. Dieser Traditionsbruch wird im übertragenen Sinn als „Porträt ohne Kopf“[9] bezeichnet und kann im wörtlichen Sinn auf Bills Video übertragen werden. Bills Videoszenario stellt die Schwelle zwischen Porträt und Fotographie dar. Das Video soll einer Fotographie gleichen und seine Anonymität wahren. Jedoch durchdringen dieses Foto Spuren, die Anzeichen eines Porträt, und somit Individualität, aufweisen. Die bewegten Bilder eines Videos können also als Exploration des Porträts verstanden werden, womit die Fotographie zwar einen Medienbruch des Porträts einleitete, jedoch mit dem Genre Film eine erneute Personalisierung in Rückgriff auf das Porträt erfolgte.
[...]
[1] Mersch (2006): 131
[2] Mersch (2006): 134
[3] http.//www.wmg-seminar.de/html/texte/sk/das-medium-als-spur-und-apparat.htm
[4] http.//www.wmg-seminar.de/html/texte/sk/das-medium-als-spur-und-apparat.htm
[5] Marías (2006): 182
[6] Marías (2006): 182
[7] Galle (2000): 48
[8] Galle (2000): 47
[9] Galle (2000): 54