"Soziale Milieus" und die Entstehung sozialer Ungleichheit. Ein angemessener Erklärungsansatz?
Zusammenfassung
Bis heute wurden zahlreiche Theorien und Ansätze entwickelt, die die Entstehung sozialer Ungleichheit insbesondere durch verschiedene Begriffe wie Klassen, Stände und Schichten zu erklären vermögen. Dabei beschäftigen sie sich vor allem mit den objektiven, das heißt äußeren Bedingungen sozialer Ungleichheit wie Einkommen, Bildung und Beruf. Eine andere Perspektive schlägt der Ansatz der „sozialen Milieus“ vor, der – aufbauend auf den Ideen des Soziologen Pierre Bourdieus – die subjektive Seite sozialer Ungleichheit untersucht. Seine Grundannahme ist, dass soziale Ungleichheit – zwar durchaus abhängig, aber weniger von objektiven Faktoren wie Einkommen, Bildung und Beruf entstehe, sondern vielmehr durch milieuspezifische Lebensstile, ‚Geschmäcker’ und Mentalitäten.
In wie weit der Milieuansatz, der sich insbesondere seit den 1980er Jahren in der sozialwissenschaftlichen Debatte in Deutschland durchgesetzt hat, als ein angemessenes Instrument zur Erklärung sozialer Ungleichheit darstellt, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden.
Dazu wird zunächst der Begriff ‚soziale Ungleichheit’ definiert und dargestellt, was seine grundlegenden Problematiken sind. Anschließend folgt ein historischer Überblick über die wichtigsten Theorien und Ansätze zur Erklärung sozialer Ungleichheit in Deutschland.
Es folgt im Rahmen dieser Diskussion die Vorstellung des Milieuansatzes und dessen Beitrag zur Erklärung sozialer Ungleichheit, die insbesondere auf der Kapital- und Habitustheorie Bourdieus beruhen. Anschließend werden die Anwendungsmöglichkeiten des Milieuansatzes, dessen Stärken und Schwächen diskutiert und seine Möglichkeiten zur Erklärung sozialer Ungleichheit im Kontext der aktuellen Entwicklungen in Deutschland resümiert.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Soziale Ungleichheit
2.1 Definition
2.2 Theorien sozialer Ungleichheit: Klassen, Stände und Schichten
3. Soziale Milieus
3.1 Definition und Grundannahmen
3.2 Entstehung sozialer Milieus
3.3 Anwendung und Empirie
3.4 Kritik
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Soziale Ungleichheit gab es vermutlich in allen Gesellschaften und zu jeder Zeit. Seit ihrer Entstehung setzen sich daher die Sozialwissenschaften und im speziellen die Ungleichheitsforschung mit sozialer Ungleichheit auseinander.
Bis heute wurden zahlreiche Theorien und Ansätze entwickelt, die die Entstehung sozialer Ungleichheit insbesondere durch verschiedene Begriffe wie Klassen, Stände und Schichten zu erklären vermögen. Dabei beschäftigen sie sich vor allem mit den objektiven, d.h. äußeren Bedingungen sozialer Ungleichheit wie Einkommen, Bildung und Beruf. Eine andere Perspektive schlägt der Ansatz der „sozialen Milieus“ vor, der – aufbauend auf den Ideen des Soziologen Pierre Bourdieus – die subjektive Seite sozialer Ungleichheit untersucht. Seine Grundannahme ist, dass soziale Ungleichheit – zwar durchaus abhängig, aber weniger von objektiven Faktoren wie Einkommen, Bildung und Beruf entstehe, sondern vielmehr durch milieuspezifische Lebensstile, ‚Geschmäcker’ und Mentalitäten.
In wie weit der Milieuansatz, der sich insbesondere seit den 1980er Jahren in der sozialwissenschaftlichen Debatte in Deutschland durchgesetzt hat, als ein angemessenes Instrument zur Erklärung sozialer Ungleichheit darstellt, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden.
Dazu wird zunächst der Begriff ‚soziale Ungleichheit’ definiert und dargestellt, was seine grundlegenden Problematiken sind. Anschließend folgt ein historischer Überblick über die wichtigsten Theorien und Ansätze zur Erklärung sozialer Ungleichheit in Deutschland.
Es folgt im Rahmen dieser Diskussion die Vorstellung des Milieuansatzes und dessen Beitrag zur Erklärung sozialer Ungleichheit, die insbesondere auf der Kapital- und Habitustheorie Bourdieus beruhen. Anschließend werden die Anwendungsmöglichkeiten des Milieuansatzes, dessen Stärken und Schwächen diskutiert und seine Möglichkeiten zur Erklärung sozialer Ungleichheit im Kontext der aktuellen Entwicklungen in Deutschland resümiert.
2. Soziale Ungleichheit
2.1 Definition und Grundannahmen
Allgemein kann unter sozialer Ungleichheit ein Zustand regelmäßiger und dauerhafter Formen der Begünstigung und Benachteiligung von Menschen in einer Gesellschaft verstanden werden. Anlehnend an Hradil sprechen Solga et. al. von sozialer Ungleichheit, wenn „Menschen [...] einen ungleichen Zugang zu sozialen Positionen haben und diese sozialen Positionen systematisch mit vorteilhaften oder nachteiligen Handlungs- und Lebensbedingungen verbunden sind.“ (Solga/Powell/Berger 2009: 15).
Soziale Ungleichheit ist demnach ein Phänomen der Sozialstruktur[1] einer Gesellschaft. Die Sozialstruktur einer Gesellschaft gibt darüber Auskunft, welche Ressourcen (Kapital, Bildung, Einkommen, Macht) gesellschaftlich relevant sind und trägt – also durch die Verteilung dieser Ressourcen und der Bevorzugung bzw. Benachteiligung bestimmter Gruppen – selbst zu sozialer Ungleichheit bei (Vgl. Solga/Powell/Berger 2009: 13).
Die Ungleichheitsforschung widmet sich seit ihrer Entstehung der Frage, wie es zu sozialer Ungleichheit kommt und wie diese beschrieben werden kann. Darüber hinaus beschäftigt sich die Ungleichheitsforschung zudem auch schon immer mit der Frage, in wie weit soziale Ungleichheit natürlich, fair und legitim ist und welche Bedingungen und Mittel nötig seien, um soziale Ungleichheit aufrechtzuerhalten bzw. zu beseitigen. Die Thematisierung sozialer Ungleichheit weist daher oftmals normativen Charakter auf, womit sich eine rein deskriptive Betrachtung sozialer Ungleichheit als problematisch darstellt. Soziale Ungleichheit und auch die Ungleichheitsforschung selbst muss also immer im Kontext der jeweiligen Sozialstruktur einer Gesellschaft und deren historischen, politischen sowie sozialen Rahmenbedingungen betrachtet werden.
Die Betrachtung des Phänomens sozialer Ungleichheit in Deutschland kann zudem nur unter Berücksichtigung der historischen Auseinandersetzung mit derselben verstanden werden, weswegen im Folgenden die wichtigsten Theorien zur Erklärung sozialer Ungleichheit in Deutschland in einem historischen Überblick vorgestellt werden.
2.2 Theorien sozialer Ungleichheit: Klassen, Stände und Schichten
Bereits seit der Antike setzt man sich mit den Bedingungen sozialer Ungleichheit auseinander.
So ist es insbesondere Aristoteles, der gegebene Herrschafts- und Machtstrukturen mit einer „natürlichen Ungleichheit“ begründet, welche auf biologischen Merkmalen und „Fähigkeiten“ beruhe. Während des Mittelalters und bis in die Neuzeit vertrat vor allem die christliche Lehre
die Auffassung, dass diese natürliche Ungleichheit „gottgegeben“ sei und ungleiche Machtverhältnisse (z.B. zwischen Adel und Klerus, der „Herrschaft“ des Mannes über die Frau, etc.) rechtfertige (Vgl. Bolte/Hradil 1988: 36). Bis in die Gegenwart (beispielsweise im indischen Kastensystem) wird in bestimmten Religionen eine ähnliche Auffassung vertreten.
Erst mit der europäischen Aufklärung im 17. Jahrhundert wird die Auffassung einer „natürlichen“ Ungleichheit in Frage gestellt. Die Aufklärung fußt ganz allgemein auf dem Gedanken, dass ein vorgesellschaftlicher „Urzustand“ bestehe, in dem es keine Macht- und Herrschaftsverhältnisse, hingegen aber eine „naturrechtliche Gleichheit“ unter den Menschen, gebe. Diese Vorstellung schlug sich schließlich in der Forderung des Bürgertums während der französischen Revolution und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 (Vgl. Bolte/Hradil 1988: 37 f.) nieder:
„Die moralische und rechtliche Gleichheit aller Menschen war das revolutionäre Prinzip, das die Aufklärung dem ancien régime, der Gesellschaft der Stände, der Privilegien und der von Gott gewollten Ordnungen, entgegenhielt.“[2]
Eine der wichtigsten Schriften ist dabei zweifelsfrei die 1754 verfasste ‚Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen’ von Jean Jacques Rousseau, in der sich der Autor erstmals „mit der Bedeutung von Privateigentum für das Auftreten von Ungleichheit befasst“ (Bolte/Hradil 1988: 25). Rousseau kann damit als wichtiger Vordenker in der Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit verstanden werden.
Mit der Bedeutung von Privat- und Besitzeigentum für die Entstehung sozialer Ungleichheit setzt sich während der Industrialisierung Karl Marx (1818-1883) auseinander. Seine Grundannahmen manifestieren sich in einer umfangreichen, bis heute bedeutenden Analyse sozialer Ungleichheit in der modernen, kapitalistischen Industriegesellschaft.
Im Kern sieht Marx soziale Ungleichheit als Folge von Arbeitsteilung und den unterschiedlichen Produktionsverhältnissen von Bourgeoisie (den Besitzenden bzw. Kapitalisten) auf der einen und dem Proletariat (den Nicht-Besitzenden bzw. Arbeitern) auf der anderen Seite. Aufgrund dieser Machtasymmetrien im Produktionsprozess kontrolliere die Bourgeoisie das „politische, wissenschaftliche und religiöse Leben und unterwirft sich das Proletariat so völlig“ (Bolte/Hradil 1988: 40). Dies führe in der Folge zu einer massiven Verelendung und Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie, insbesondere in den Großstädten. Marx sieht die Überwindung dieser sozialen Ungleichheit in der Solidarisierung der Arbeiterschicht zu einer Klasse und in Form eines Klassenkampfes zwischen Kapitalisten und Arbeitern (Vgl. Bolte/Hradil 1988: 39).
[...]
[1] Dabei handelt es sich um ein System relativ stabiler Beziehungen, welches durch Werte und Normen, Herrschafts- und Autoritätsbeziehungen sowie durch Routinen, Rituale und Gesetze erzeugt bzw. reproduziert wird (Vgl. Solga/Powell/Berger 2009: 13)
[2] http://www.bpb.de/wissen/07046934831035092380562845107449,0,0,Ungleichheit.html, aufgerufen am 12.09.2011