"Als Trakl am 24.August 1914 als Medikamentenakzessist mit einer Sanitätskolonne von Innsbruck aus ins Kriegegebiet an die Front in Galizien fuhr, ahnte keiner seiner Freunde, dass es für ihn eine Reise ohne Wiederkehr sein würde..."
Trakls bekanntes Gedicht "Grodek" als Absage auf unmittelbar erlebtes Kriegsgeschehen, und "Klage" als persönliches Schicksal zwischen Hoffnung und Untergang.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorgeschichte und historischer Hintergrund zur Entstehung
2. Inhaltliche Interpretation von Grodek
2.1. Die Verfallsthematik
2.2. Die ungeborenen Enkel
3. Besonderheiten der letzten Schaffensphase
4. Zur inneren Struktur von Grodek
5. Interpretation von Klage
6. Ahnung und Erfahrung
7. Schlussbetrachtung
8. Literaturverzeichnis
1. Vorgeschichte und historischer Hintergrund zur Entstehung
Als Trakl am 24. August 1914 als Medikamentenakzessist mit einer Sanitätskolonne von Innsbruck aus ins Kriegsgebiet an die Front in Galizien fuhr, ahnte keiner seiner Freunde, dass es für ihn eine Reise ohne Wiederkehr sein würde.
In seinen Erinnerungen schreibt Ludwig von Ficker über Trakls Abfahrt an die Front:
Es war eine zauberhaft erhellte, traumhaft stille Mondmitternacht Ende August, als auf dem Hauptbahnhof von Innsbruck, Trakl, eine rote und bei jedem Abschiedsnicken fast gespenstisch mitnickende Nelke auf der Mütze, den Viehwaggon bestieg, der ihn, den Lebenden und in dieser Stunde Heiteren, für immer entführte [...][1]
Wie manch andere Dichter seiner Zeit, die dem Expressionismus zugerechnet werden, scheint auch Trakl den Kriegsbeginn zunächst durchaus positiv gesehen zu haben. Aus einer patriotisch bürgerlichen Familie stammend, war es für ihn selbstverständlich, dass er, wie auch seine Brüder Gustav und Fritz der Mobilmachung ohne geistigen Widerstand nachkam.[2]
Trakl dürfte seine Kriegsteilnahme auch als eine Fluchtmöglichkeit aus seiner schweren seelischen Krise betrachtet haben, einer Krise, die in einem verzweifelten Brief vom November 1913 an Ludwig von Ficker Ausdruck gefunden hatte. Nicht nur, dass er bei militärischen Stellen (Kriegsministerium) um seine Reaktivierung bemüht war, sondern es gab auch einen vergeblichen Versuch, bei der holländisch-niederländischen Kolonialverwaltung als Apotheker in Holländisch-Indien eine Anstellung zu erhalten.
Auf Feldpostkarten übermittelte, wegen der Militärzensur knappe Nachrichten klangen zunächst noch zuversichtlich. An seine Mutter (der Vater war bereits 1910 verstorben) schrieb er:
Seit einer Woche reisen wir kreuz und quer durch Galizien herum und haben bis jetzt noch nichts zu tun gehabt. An Ficker: Wir haben vier Wochen angestrengtester Märsche durch ganz Galizien hinter uns. Seit zwei Tagen rasten wir in einer kleinen Stadt Westgaliziens inmitten eines sanften und heiteren Hügellandes und lassen es uns nach all’ den großen Ereignissen der jüngsten Zeit in Frieden wohl sein. Morgen oder übermorgen marschieren wir weiter. Und als Nachsatz: Es scheint sich eine neue große Schlacht vorzubereiten. Wolle der Himmel uns diesmal gnädig sein.[3]
Die befürchtete Schlacht ereignete sich in Galizien zwischen dem 6. und 11. September 1914 in Grodek / Rawa Ruska.
Ende Oktober erhält Ficker eine besorgniserregende Nachricht aus Krakau. Die Karte trägt den Ortsvermerk: Garnisonsspital Nr. 15, Abt. 5.
Verehrter Freund. Ich bin seit fünf Tagen hier im Garnisonsspital zur Beobachtung meines Geisteszustandes. Meine Gesundheit ist wohl etwas angegriffen und ich verfalle recht oft in eine unsägliche Traurigkeit. Hoffentlich sind diese Tage der Niedergeschlagenheit bald vorüber. Die schönsten Grüße an Ihre Frau und Ihre Kinder. Bitte telegraphieren Sie mir einige Worte. Ich wäre so froh, von Ihnen Nachricht zu bekommen.[4]
Auf diese Nachricht hin entschloss sich Ludwig von Ficker, unverzüglich nach Krakau zu reisen.
Er traf am 24. Oktober im Garnisonsspital in Krakau ein und blieb zwei Tage in der Stadt, die sich durch den herannahenden Feind bereits in einer bedrohlichen Lage befand.
In seiner ‚Erinnerung an Georg Trakl’[5] hat Ludwig von Ficker einen genauen und erschütternden Bericht über Trakls Situation verfasst.
Er schildert seine Gespräche mit den behandelnden Ärzten, denen gegenüber er den Wunsch aussprach, Trakl mit nach Hause nehmen zu dürfen. Trakls Depressionen seien nichts Außergewöhnliches und würden sich in heimatlicher Umgebung sicher wieder bessern.
In einer Zelle im Erdgeschoss der Psychiatrischen Klinik traf er Trakl am Bettrand sitzend an. Mit ihm waren sein Bursche und ein anderer Patient im Raum.
Bei einem kurzen Spaziergang im Spitalsgarten erzählte ihm Trakl in beherrschtem Ton von den Erlebnissen der vergangenen Tage: Über die verlorene Schlacht bei Grodek, über seinen ersten Sanitätseinsatz in einer Scheune, wo er die Betreuung von neunzig Schwerverwundeten übernehmen musste. Verzweiflungstaten Verwundeter und an Bäumen gehenkte, justifizierte Ruthenen, hätten eine Situation geschaffen, die er nicht mehr ertragen konnte. Deshalb sei er auf dem Rückzug eines Abends aus dem Kreis seiner Kameraden gelaufen und hätte sich draußen die Pistole an den Kopf gesetzt. Man hatte ihm die Pistole entwinden können und vierzehn Tage später sei er hier gelandet. Seine Befürchtung war es nun, auch noch wegen Feigheit vor ein Militärgericht gestellt zu werden.
Am nächsten Nachmittag las ihm Trakl dann mit leiser Stimme seine zwei Gedichte ‚Grodek‘ und ‚Klage‘ vor, die er noch im Feld, wie er erklärte, geschrieben hatte. Das Gedicht ‚Grodek‘ war am Schluss mit dem Vers der „ungebornen Enkel“ noch etwas breiter angelegt, und wies noch nicht jene perspektivische Verkürzung auf, wie es in der später brieflich zugestellten Fassung der Fall war. Ficker versprach, sie im Frühjahr in der nächsten Brenner-Ausgabe herauszubringen. Die erste, gelesene Version des Gedichtes ist nicht überliefert. Und noch etwas erwähnt Ficker in seinem Bericht: Auf Trakls Nachtkästchen lag ein Reclam-Bändchen mit Gedichten von Johann Christian Günther. Trakl wies auf zwei Gedichte des Barockdichters hin, die ihm besonders zu Herzen gegangen wären. Und dass Günther jung gestorben sei, mit 27 Jahren.
Die besorgte Frage seines Freundes, ob er noch „Gifte“ bei sich hätte, bejahte Trakl und fügte hinzu, er sei doch Apotheker, aber die Ärzte dürften es nicht erfahren.
In Innsbruck trafen noch zwei, vom 27. Oktober datierte Briefe Trakls und eine Feldpostkarte ein. Dem Brief lag neben der verbesserten Anfangsstrophe des Sonetts ‚Traum des Bösen‘ die neue vierstrophige Fassung des ursprünglich sechsstrophigen Gedichts ‚Menschliches Elend‘ von 1911 bei, Trakl hatte den Titel in ‚Menschliche Trauer‘ umgeändert. Merkwürdigerweise wurde diese zweite und endgültige, um vieles stärkere Fassung, in der sich folgendes Bild findet: „Es scheint, man hört der Fledermäuse Schrei / im Garten einen Sarg zusammenzimmern“, erst in der vierten Auflage (1939) der ‚Dichtungen‘ aufgenommen.[6]
Der zweite Brief enthält neben den beiden letzten Gedichten auch sein Vermächtnis.
Lieber, verehrter Freund!
Anbei übersende ich Ihnen die Abschriften der beiden Gedichte, die ich Ihnen versprochen. Seit ihrem Besuch im Spital ist mir doppelt traurig zu Mute. Ich fühle mich fast schon jenseits der Welt. Zum Schlusse will ich noch beifügen, daß im Fall meines Ablebens, es mein Wunsch und Wille ist, daß meine liebe Schwester Grete, alles was ich an Geld und sonstigen Gegenständen besitze, zu eigen haben soll. Es umarmt Sie, lieber Freund innigst
Ihr Georg Trakl.[7]
Genaue Angaben betreffend Georg Trakls Ableben erhielt sein Halbbruder Wilhelm. Auf seine Anfrage nach den näheren Umständen des Todes wurde ihm von der Spitalsleitung mitgeteilt, sein Bruder hätte am 2. November 1914 einen Selbstmordversuch durch Kokainvergiftung unternommen und sei am 3. November um 9 Uhr abends an den Folgen gestorben. Beerdigt wurde er am Rakoviczer Friedhof.
Bei Trakls Begräbnis war allein sein Bursche, der Bergarbeiter Mathias Roth, anwesend. 1925 wurden des Dichters Gebeine nach Innsbruck überführt und am Friedhof Mühlau bestattet.
2. Inhaltliche Interpretation von Grodek
Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.[8]
Abend und Wald scheinen eine friedliche Atmosphäre einzuleiten, doch sofort wird dieses Bild gebrochen. Die Instrumente in diesem konzertanten Zusammenspiel sind nicht die Stimmen der Natur, es sind menschliche Vernichtungswaffen. Die Waldlandschaft nimmt die Misstöne der in der Gegend stattgefundenen kriegerischen Auseinandersetzungen auf und hallt davon wieder.
Diese Technik der Brechung vergleicht Albert Hellmich mit der Technik musikalischer Komposition. Verwandte Bilder werden in Motivketten verbunden. Motiv und Gegenmotiv wechseln einander ab. Der kontrapunktische Aufbau erstreckt sich eigentlich auf das ganze Gedicht.[9]
Symbolcharakter haben die Farben Blau und Gold. Die Farbe Blau, von der Goethe in seiner Farbenlehre sagt, sie stimme „zu einer unruhigen, weichen und sehnenden Empfindung“ und wir würden das Blaue gern ansehen, „weil es uns nach sich zieht“ (Farbenlehre). Blau tritt in Trakls Gedichten oft in Verbindung mit Gold auf. Beide Farbadjektive haben eine positive Konnotation. „Die goldnen Ebenen / Und die blauen Seen“ vermitteln das Bild einer paradiesischen, intakten Landschaft.
Doch die Sonne, die dieses Gemälde beleuchtet, bevor es Nacht wird, ist kein freundliches Gestirn. Der absolute Komparativ „düstrer“, im Bezug zur Sonne ein Oxymoron, lässt auf eine nahende Bedrohung schließen. Verstärkt durch das Verb “hinrollt“ wird aus dem Leben spendenden Gestirn eine apokalyptische Sonne, die nichts Gutes verheißt.
Man ist versucht, sie mit einer der Sonnen van Goghs in seiner letzten Schaffensphase zu vergleichen.
[...]
[1] Ludwig von Ficker: Erinnerung an Georg Trakl, Innsbruck 1926. Neuausgabe Salzburg 1959. In: Walter Methlagel: Brenner-Archiv Innsbruck. Georg Trakl 1887 – 1914. Eine Ausstellung des Forschungsinstitutes Brenner-Archiv. Innsbruck 1995
[2] Vgl. Georg Trakl mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Otto Basil. Rowohlts Monographien. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH. Reinbeck bei Hamburg 1965. S. 146
[3] Ebd. S.148
[4] Ebd. S. 149
[5] Ludwig von Ficker: Lebensdaten und Begegnungen . In: Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926. Neuausgabe Salzburg 1959
Erinnerungen an Georg Trakl . In: Etudes germaniques 15 / 1960
[6] Otto Basil: Georg Trakl mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlts Monographien. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH. Reinbeck bei Hamburg 1965. S. 152
[7] Methlagel, Walter: Brenner-Archiv Innsbruck: Georg Trakl 1887 – 1914. Eine Ausstellung des Forschungsinstituts „Brenner Archiv“. Innsbruck 1995.
[8] Georg Trakl: Das dichterische Werk. Auf Grund der historisch-kritischen Ausgabe von Walter Killy und Hans Szklenar. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 2005. S. 94
[9] Vgl. Albert Hellmich: Klang und Erlösung. In Trakl-Studien Bd. 8 .Otto Müller Verlag. Salzburg 1971. S. 83