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Eine vergleichende Betrachtung der Geschichtsphilosophien von Karl Marx und Francis Fukuyama

Das „Ende der Geschichte“ im Wandel der Zeit

©2012 Bachelorarbeit 52 Seiten

Zusammenfassung

Zwei Philosophen – zwei Enden der Geschichte. Der eine (Marx) gilt heute in dieser Angelegenheit – ironischerweise von der Geschichte selbst – als widerlegt, der andere (Fukuyama) wurde aufgrund seines naiv-optimistischen Fortschrittsglaubens vielfach belächelt und zu Unrecht unterschätzt. Betrachtet man beide allerdings im Zusammenhang mit dem jeweiligen historischen Kontext, so zeigt sich – unter Einbeziehung weiterer Denker, wie etwa Hegel und Kojève – ein höchst interessanter politisch-philosophischer Diskurs. Verschiedene Zeitepochen bringen ganz offensichtlich unterschiedliche Auffassungen vom Ende der Geschichte hervor bzw. beeinflussen sie maßgeblich. Diese Arbeit wagt im Rahmen einer vergleichenden Betrachtung den Versuch, sich vorurteilsfrei darauf einzulassen.

Auf welcher Grundlage prognostizierten Marx und Fukuyama jeweils das Ende der Geschichte, was sind die Voraussetzungen? Auf welche Weise wird das Ende der Geschichte erreicht, welche Entwicklungsschritte der Menschheit sind dafür notwendig? Inwiefern haben wir es mit teleologischen bzw. deterministischen Ansätzen zu tun? Wie sieht das Ende der Geschichte konkret aus und welche Rolle nimmt der Mensch in seiner letzten Bestimmung ein? Dies sind einige Fragen, an denen sich die vorzunehmende Untersuchung orientieren soll, um schließlich einen Vergleich der beiden Konzepte vorzunehmen. Die Untermauerung oder aber Widerlegung einer These („Marx und Fukuyama prophezeiten das Ende der Geschichte in Anbetracht der jeweiligen historischen Ausgangssituation unter umgekehrten Vorzeichen, bedienten sich aber derselben Methoden“) steht dabei im Zentrum der Analyse und bildet die konkrete Fragestellung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Aufbau und Methodik
1.3 Forschungsstand

2 Karl Marx
2.1 Historischer Hintergrund / Ausgangslage
2.2 Geschichtsphilosophie: Historischer Materialismus
2.3 Das Ende der Geschichte als Weltkommunismus
2.4 Kritik

3 Francis Fukuyama
3.1 Historischer Hintergrund / Ausgangslage
3.2 Geschichtsphilosophie
3.3 Das Ende der Geschichte: Siegeszug der liberalen Demokratie
3.4 Kritik

4 Vergleich
4.1 Hegel-Rezeption
4.2 Universalismus, Teleologie und Determiniertheit
4.3 Ende der Geschichte?
4.4 Mögliche Gegenwartsbezüge

5 Schlussbetrachtung
5.1 Fazit
5.2 Ausblick

6 Bibliographie

1 Einleitung

1.1 Problemstellung

Findet die menschliche Entwicklungsgeschichte jemals ein Ende? Und falls ja: Unter welchen Umständen? Wann? Eine Fragestellung, die in kleiner Runde – je nach eingenommenem Standpunkt – womöglich zu angeregten Diskussionen führt oder aber als absurd, grotesk und an sich schon paradox abgelehnt wird, beschäftigt große und weniger große Denker seit vielen Jahrhunderten. Auch wenn es sich zugegebenermaßen um eine Nische abseits allgemein bewährter Theorien des Seins handelt, haben geschichtsphilosophische Einlassungen, also das Sinnieren über Gesetzmäßigkeiten im Verlauf, den Zweck sowie ein mögliches Endziel von „Geschichte“, auch (oder gerade?) in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt nichts von ihrer eigentümlichen Faszination verloren.

Den wohl wichtigsten neueren Beitrag lieferte der 1952 geborene Politikwissenschaftler und Philosoph Francis Fukuyama. Als damaliger Mitarbeiter des US-amerikanischen Außenministeriums veröffentlichte er seine Grundgedanken im Sommer 1989 zunächst in Form eines Aufsatzes mit dem Titel „The End of History?“[1] für die renommierte Fachzeitschrift „The National Interest“. Schon wenige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer – und das erscheint im Nachhinein besonders bemerkenswert – machte dieser Artikel deutlich, wie Fukuyama die globale Zukunft sah: Mit dem endgültigen Verschwinden der marxistisch-leninistischen Ideologien in China und der Sowjetunion würde die „Common Marketization“, d.h. eine auf marktwirtschaftlichen Prinzipien basierende Organisation der internationalen Beziehungen gestärkt werden, während sich die Wahrscheinlichkeit größerer Konflikte zwischen den Staaten in gleicher Weise verringert. Und schlussendlich gäbe es nach dem Ausscheiden von Faschismus und Kommunismus keine ernstzunehmenden Alternativen mehr zur liberalen Demokratie.[2] Zur näheren Begründung dieses für viele Zeitgenossen überraschenden Standpunkts berief er sich vor allem auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel[3] (1770-1831) und dessen Auslegung durch Alexandre Kojève (1902-1968).

Die enorme Resonanz in der breiten Öffentlichkeit sowie die überwiegend harsche Kritik aus der Wissenschaft veranlassten Fukuyama, seine Thesen weiter zu entwickeln und 1992 erheblich detailreicher in Buchform auszuführen. Er schien sich seiner Sache gewiss zu sein, denn der Kalte Krieg war mittlerweile tatsächlich vorbei und das Fragezeichen aus dem ursprünglichen Titel verschwand.[4] Für Fukuyama zeigte sich der Wegfall der Systemkonkurrenz durch das Scheitern des sowjetischen Kommunismus-Modells gleichbedeutend mit dem Erreichen des Endpunktes der „ideologischen Evolution der Menschheit“[5] und der „Universalisierung der westlich-liberalen Demokratie als definitiver Regierungsform des Menschen“[6], kurz: dem Ende der Geschichte.

Anderthalb Jahrhunderte vor Fukuyama versuchte sich ein weltberühmter und bis in die Gegenwart höchst umstrittener Denker der Neuzeit ebenfalls an einer Geschichtsphilosophie, die die politische Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend (mit)prägen sollte: Karl Marx (1818-1883). Den ideengeschichtlichen Startpunkt bildet auch hierbei Hegel, der Geschichte als eine zielgerichtete und dialektisch verlaufende Abfolge von menschlichen Entwicklungsstufen begriff, die von der freien Entfaltung des Geistes bestimmt wird und im Wesentlichen durch herausragende Individuen zur Realisierung kommt, in denen sich ein unbewusst herausgebildeter kollektiver Volksgeist kulminiert.[7]

Sein Schüler Marx vertrat hingegen die Ansicht, dass „nicht [...] das geistige, sondern das in sinnlicher Erfahrung erlebte und sozioökonomisch determinierte Sein der Menschen der Träger und der Motor der Geschichte“[8] sei. Er übernahm zwar die Methode, an die Stelle des von Hegel propagierten Idealismus trat jedoch der Materialismus Feuerbachs, erweitert um eine historische Dimension. Auf diesem in jungen Jahren gesetzten Fundament entwickelte Marx ein Geschichtsverständnis, das für sich selbst in Anspruch nahm, „die Hegelsche Dialektik [...] vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt“[9] zu haben. In einer der bekanntesten Schriften, die umgangssprachlich als „Kommunistisches Manifest“ bezeichnet wird, heißt es: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“[10].

Umstürze, in denen sich eine unterdrückte Masse als revolutionäres Subjekt gegenüber einer herrschenden Schicht durchzusetzen vermag, bilden demnach die gesetzmäßigen Zäsuren im Lauf der Geschichte. Marx identifizierte die von der Industrialisierung geprägte, kapitalistische Gesellschaftsformation seiner Zeit als deren vorletztes Kapitel und glaubte an eine finale Revolution, die den – für ihn dichotomischen – Klassengegensatz zwischen (unterdrücktem) Proletariat und (herrschender) Bourgeoisie für immer aufheben sollte.[11] Marx’ Anspruch, ein theoretischer Wegbereiter historischen Handelns im globalen Maßstab zu sein, wurde mit dem Aufruf „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“[12] eindrucksvoll unterstrichen. Auch den zu beschreitenden Pfad von der kurzfristigen „Diktatur des Proletariats“ über die Errichtung eines sozialistischen Gesellschaftssystems bis hin zum universalen „Weltkommunismus“ zeichnete er vor – so zumindest die Lesart vieler Marxisten. Im Absterben des Staates und dem Ende der Politik in einer klassenlosen Gesellschaft sah Marx die vollständige Befreiung des Menschen, die er mit der Vollendung der Geschichte gleichsetzte.

Zwei Philosophen – zwei Enden der Geschichte. Der eine (Marx) gilt heute in dieser Angelegenheit – ironischerweise von der Geschichte selbst – als widerlegt, der andere (Fukuyama) wurde aufgrund seines naiv-optimistischen Fortschrittsglaubens vielfach belächelt und zu Unrecht unterschätzt. Betrachtet man beide allerdings im Zusammenhang mit dem jeweiligen historischen Kontext, so zeigt sich – unter Einbeziehung weiterer Denker, wie etwa Hegel und Kojève – ein höchst interessanter politisch-philosophischer Diskurs. Verschiedene Zeitepochen bringen ganz offensichtlich unterschiedliche Auffassungen vom Ende der Geschichte hervor bzw. beeinflussen sie maßgeblich. Diese Arbeit wagt im Rahmen einer vergleichenden Betrachtung den Versuch, sich vorurteilsfrei darauf einzulassen.

Auf welcher Grundlage prognostizierten Marx und Fukuyama jeweils das Ende der Geschichte, was sind die Voraussetzungen? Auf welche Weise wird das Ende der Geschichte erreicht, welche Entwicklungsschritte der Menschheit sind dafür notwendig? Inwiefern haben wir es mit teleologischen bzw. deterministischen Ansätzen zu tun? Wie sieht das Ende der Geschichte konkret aus und welche Rolle nimmt der Mensch in seiner letzten Bestimmung ein? Dies sind einige Fragen, an denen sich die vorzunehmende Untersuchung orientieren soll, um schließlich einen Vergleich der beiden Konzepte vorzunehmen. Die Untermauerung oder aber Widerlegung einer These („Marx und Fukuyama prophezeiten das Ende der Geschichte in Anbetracht der jeweiligen historischen Ausgangssituation unter umgekehrten Vorzeichen, bedienten sich aber derselben Methoden“) steht dabei im Zentrum der Analyse und bildet die konkrete Fragestellung.

1.2 Aufbau und Methodik

Die Ausführungen in Kapitel 2 widmen sich inhaltlich der Geschichtskonzeption von Karl Marx. Aufgrund ihrer – von mir angenommenen – Bedeutung erfolgt zunächst eine Darstellung der historischen Ausgangslage, bevor Theoriebildung und Rezeption sowie die Geschichtsphilosophie selbst und „Das Ende der Geschichte als Weltkommunismus“ einen breiten Raum einnehmen werden. Das abschließende Unterkapitel dient der kritischen Auseinandersetzung mit den Marxschen Thesen.

Der Abschnitt über Francis Fukuyama (Kapitel 3) weist eine analoge Gliederungsstruktur auf, um tendenziell bereits eine gewisse Vergleichbarkeit herzustellen. Hinsichtlich der Rezeption richtet sich das Hauptaugenmerk vor allem auf Alexandre Kojève, der eine Art „philosophische Scharnierfunktion“ zwischen Marx und Fukuyama einnimmt und gleichzeitig die Verbindung zu Hegel ist.

Im letzten Teil der Arbeit kommt es zum Vergleich der beiden Endzeittheorien (Kapitel 4). Die Kriterien dafür sind jeweils a) das Verhältnis zu Hegel, b) universalistische, teleologische und deterministische Aspekte in der Geschichtsphilosophie, c) der eigentliche Charakter des „Endes der Geschichte“ sowie d) ein möglicher Gegenwartsbezug. Ob sie das vermeintliche Ende der Geschichte tatsächlich unter umgekehrten Vorzeichen prophezeiten und wie bzw. unter welchen Umständen Marx und Fukuyama ihre Argumentationslinien aufbauten, soll nach der Gegenüberstellung ihrer Konzepte klar erkennbar sein.

Die nachfolgende Schlussbetrachtung fasst die Ergebnisse der Arbeit noch einmal in kompakter Form zusammen. Im Zuge dessen soll auch kurz erörtert werden, inwiefern die Geschichtsphilosophien von Marx und Fukuyama für die Zukunft (noch) einen „Wert“ haben, und ob ein Ende der Geschichte überhaupt denkbar ist oder nur die Einordnung als Utopien in Frage kommt. Am Ende steht ein Ausblick auf offene bzw. weiterführende Fragestellungen, die im Rahmen künftiger Abhandlungen aufgegriffen werden könnten.

1.3 Forschungsstand

Wie eine umfassende Literaturrecherche ergeben hat, ist die Marxsche Geschichtsphilosophie Gegenstand zahlreicher Publikationen. Die Entwicklung der materialistischen Geschichtsauffassung thematisiert beispielsweise Alfred Braunthal in seinem 1920 erschienenen Buch „Karl Marx als Geschichtsphilosoph“[13]. Trotz seiner Schwerpunktlegung auf ökonomische Aspekte des Marxismus gelingt auch Karl Kühne ein gut verständlicher Überblick über die Marxsche Geschichtskonzeption.[14] Ergänzend dazu liefert zum Beispiel Iring Fetschers „Der Marxismus“[15] wichtige Erkenntnisse in Form von Dokumenten, Anmerkungen und Schriften anderer Autoren. Die zudem verfügbaren Vergleiche der Marxschen Theorien mit denen von Kant[16] bzw. Hegel[17] runden das breite Spektrum ab und dienen nicht zuletzt der ideengeschichtlichen Einordnung.

Die explizite Auseinandersetzung mit Fukuyamas Variante vom „Ende der Geschichte“ erfolgt(e) hauptsächlich über diverse Aufsätze in Fachzeitschriften oder journalistische Beiträge in Print- bzw. Onlinemedien. Eine Reihe von Buchveröffentlichungen mit Bezug auf die von Fukuyama in Gang gesetzte Diskussion zeigt aber, dass durchaus ein dezidiertes wissenschaftliches Interesse daran besteht, sich mit der Problematik zu befassen. So wird von verschiedenen Autoren (Anderson[18], de Berg[19] ) die Linie Hegel – Kojève – Fukuyama gezogen, die es näher zu untersuchen gilt. Ansonsten scheint Fukuyama nicht sonderlich beachtet zu werden, was seinen philosophischen Leistungen in keiner Weise gerecht wird.

Ein direkter Vergleich der Geschichtsphilosophien von Karl Marx und Francis Fukuyama ist mir nicht bekannt, was unter anderem den Ausschlag dafür gegeben hat, diese Lücke in Form einer Bachelorarbeit zu füllen.

2 Karl Marx

2.1 Historischer Hintergrund / Ausgangslage

Wie der emeritierte Professor Dr. Alfons Söllner in seinen Vorlesungen zur politischen Theorie und Ideengeschichte stets sinngemäß zu sagen pflegte, steht neben und hinter jedem Text auch ein Kontext – schließlich lebte keiner der großen Denker im sprichwörtlichen „luftleeren Raum“. Und so sollte auch, wer Karl Marx verstehen will, den Blick zunächst auf dessen Zeit, sprich: sein historisches Umfeld richten.

Marx hatte – wenn man so will – das Privileg, in ein außerordentlich turbulentes Zeitalter hineingeboren zu werden. Als er im Jahre 1818 in Trier das Licht der Welt erblickte, erfasste die Industrialisierung, welche in England bereits weit fortgeschritten war, zunehmend auch Kontinentaleuropa und beschleunigte sich innerhalb weniger Dekaden derart, dass sich für diese epochale Entwicklung recht schnell der bei Forschern umstrittene, aber bis heute gängige Begriff der „Industriellen Revolution“ einbürgerte. Die Ausbreitung neuartiger Technologien, Erfindungen und Produktionsweisen veränderte den Arbeitsprozess in der Tat grundlegend, die Mechanisierung ganzer Gewerbe führte zur zentralisierten Fabrikproduktion. Deren Konzentration an verkehrs- bzw. handelstechnischen Knotenpunkten hatte wiederum eine weitgehende Urbanisierung zur Folge, der die Freisetzung ehemals landwirtschaftlicher Arbeitskräfte aufgrund von Produktivitätssteigerungen und Agrarreformen weiteren Schub verlieh. Die negativen Begleit- und Folgeerscheinungen dieser rasend schnellen strukturellen Veränderungen führten dazu, dass die Soziale Frage immer dringlicher wurde. Zugleich wandelte sich das Gemeinwesen hin zu einer bürgerlichen Gesellschaft.

Schon früh entwickelte Marx ein ausgeprägtes Interesse für die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse, die sich vor seinen Augen abspielten, suchte nach Zusammenhängen, Erklärungen und systemimmanenten Entwicklungstendenzen. Das 1835 aufgenommene Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte sollte den intellektuellen Ausgangspunkt für ein wissenschaftliches Gesamtwerk bilden, welches sich durch eine große Geschlossenheit auszeichnet und „auf die Analyse der inneren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft und ihre theoretische wie auch praktisch-politische Überwindung [zielt]“[20]. Während anfangs noch die kritische Auseinandersetzung mit der vom Hegelschen Idealismus geprägten Philosophie und „Ideologie“ stand, verlagerte sich der Untersuchungsschwerpunkt zusehends auf den realen Industrialisierungsprozess und dessen innere Widersprüche.[21] Marx versuchte also den Brückenschlag von der Theorie zur Praxis, denn wie er in seiner elften These über Ludwig Feuerbach um 1845 selbst anmerkte, haben „die Philosophen [...] die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern[22]. Genau in diesem Sinne kann sein breit angelegtes journalistisches, publikatorisches und rhetorisches Engagement für die kommunistische Bewegung verstanden werden – welches jedoch eine Vielzahl politischer Repressalien nach sich zog und ihn deshalb einige Male zwang, das Aufenthaltsland zu wechseln bzw. ab 1849 endgültig nach London ins Exil zu gehen.[23]

Noch ein Jahr zuvor veröffentlichte Marx zusammen mit dem mittlerweile zum Freund gewordenen Finanzier Friedrich Engels eine der berühmtesten Schriften, die zugleich „die Ausrichtung seines weiteren Lebenswerks [vorzeichnete]“[24]: das „Kommunistische Manifest“ gilt manchem als „geschlossenste, wuchtigste und geformteste Arbeit, die er je vorgelegt hat“[25]. Keine andere Publikation vermag es, die Marxsche Weltanschauung und das ihr zugrunde liegende Geschichtsverständnis prägnanter zum Ausdruck zu bringen – doch wurde sie häufig fehlinterpretiert bzw. verkürzt dargestellt und als bloßer Aufruf zur „proletarischen Revolution“ (miss)verstanden.

In der Folgezeit – und bis zu seinem Tod im Jahre 1883 – entstand eine Reihe von Schriften (u.a. „Lohnarbeit und Kapital“, „Zur Kritik der politischen Ökonomie“), in denen Marx versuchte, seine Sicht auf die Entwicklung der „kapitalistischen Gesellschaft“ durch die ausführliche wissenschaftliche Darstellung sozioökonomischer Zusammenhänge zu untermauern. Als alle bisherigen Überlegungen kulminierendes Haupt- und Lebenswerk folgte schließlich „Das Kapital“, von dessen drei Bänden jedoch nur der erste durch Marx selbst fertig gestellt und 1867 veröffentlicht wurde.[26] Im Vorwort zur zweiten Auflage heißt es ob des prognostizierten und als wahrscheinlich angesehenen baldigen gesellschaftlichen Umsturzes süffisant: „Seit 1848 hat sich die kapitalistische Produktion rasch in Deutschland entwickelt und treibt heutzutage bereits ihre Schwindelblüte“[27].

Abgesehen von den allgemein- bzw. realhistorischen Umständen und Entwicklungen wurde das Marxsche Denken maßgeblich durch drei große ideengeschichtliche Strömungen beeinflusst, die seinerzeit in Europa vorherrschten. Neben dem schon angesprochenen deutschen Idealismus, vorrangig repräsentiert durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, waren dies der französische Sozialismus (Saint-Simon) sowie die englische Nationalökonomie (Adam Smith, David Ricardo, John Stuart Mill).[28] Kritisch rezipierend und verwerfend, korrigierend und ergänzend erarbeitete Marx eine eigene Gesellschaftstheorie, der wiederum eine bestimmte Geschichtsphilosophie immanent ist. Deren Ausbildung soll nun thematisiert werden.

2.2 Geschichtsphilosophie: Historischer Materialismus

„Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte“[29] – diese großen Worte wählte Friedrich Engels am Grab seines Freundes, um dessen von ihm in die Nähe der naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie gerückte sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu würdigen. Was Engels jedoch nicht sagte: Der als „Historischer Materialismus“ bekannt gewordenen Geschichtskonzeption haftet ein erkenntnistheoretischer Makel an, denn „eine einzelne Schrift, in welcher der Historische Materialismus zusammenhängend entwickelt würde, existiert nicht“[30]. Stattdessen zieht er sich fragmentarisch durch das Marxsche Gesamtwerk, wenngleich mit der „Deutschen Ideologie“[31] und dem „Kommunistischen Manifest“[32] zumindest zwei Schriften vorliegen, in denen die spezifische Auffassung von Geschichte einen breiten Raum einnimmt.

Um jene von Grund auf zu verstehen, ist es notwendig, in Form eines kurzen Exkurses zunächst noch einmal näher auf die Geschichtsphilosophie Hegels einzugehen. Zum einen kommt diesem nämlich eine Schlüsselrolle bei der Etablierung jener Disziplin zu[33], zum anderen konnte Marx sich genauso wenig wie seine Zeitgenossen der allgegenwärtigen Präsenz der Hegelschen Lehre entziehen.

Die zentralen Begrifflichkeiten, mit denen Hegel argumentiert, sind „Geist“ und „Vernunft“. Verschiedene Formen des Geistes finden sich auf unterschiedlichen Ebenen der menschlichen Existenz: der subjektive Geist wirkt im individuellen Bewusstsein, der objektive Geist kommt in den kulturellen Erzeugnissen von Völkern zum Vorschein und die als absolut bezeichnete Variante des Geistes wird als transzendente Quelle alles Seienden verstanden.[34] Weltgeschichte zeigt sich nun in der „Darstellung des Geistes [...], wie er zum Wissen dessen zu kommen sich erarbeitet, was er an sich ist“[35]. Der Geist soll bzw. wird sich also seiner Freiheit ebenso wie seiner selbst bewusst werden. Somit „geht dem historischen Fortschritt ein Fortschritt im Denken voraus und leitet jenen an“[36]. Vernunft ist in dieser Konstellation wiederum „der unveränderliche Urgrund des Geistes und damit auch der Geschichte“[37]. Hegel hatte keine Zweifel an der objektiven, von Natur aus gegebenen „Vernünftigkeit“ der Geschichte, und auch deren zielgerichtete Entwicklung stand für ihn außer Frage.

Auch wenn der „teleologische Charakter der Geschichte [...] nicht a priori unterstellt“[38] wird, beschreibt Hegel eine von Osten nach Westen zeigende Verlaufsform, die – so meint er – vier welthistorische Reiche als Ausdruck der Fortentwicklung des Geistes hervorbrachte: dem orientalischen folgten das griechische, das römische und schließlich das germanische Reich.[39] Es lässt sich ein stufenförmiger geistiger Reifungsprozess erkennen, der jedoch nicht ohne den Staat denkbar wäre – wobei „‚Weltgeschichte’ in ihrem ‚universellen’ Begriff [...] diejenige Geschichte [ist], in der die – innere und äußere – Partialgeschichte des Staates mit denen der Kunst, der Religion und der Philosophie verflochten ist“[40].

Der Übergang von einer Stufe auf die nächst höhere erfolgt nach Hegel in einem dialektischen Prozess, was bei ihm die „Aufhebung“ von „Gegensätzen“ im doppelten Sinne bedeutet. Denn neben der tatsächlichen Überwindung eines historischen Stadiums werden dessen zivilisatorische Leistungen in der folgenden, geistig fortgeschritteneren Epoche bewahrt.[41] Obwohl jedes Volk einen eigenen Volksgeist besitzt, fällt stets nur einem Volk das absolute und über allen anderen stehende Recht zu, gleichzeitig auch „Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein“[42]. Doch „an der Spitze aller Handlungen, somit auch der welthistorischen, stehen Individuen als die das Substantielle verwirklichenden Subjektivitäten“[43]. Diese auch als „Geschäftsführer des Weltgeistes“ bezeichneten historischen Individuen sind die eigentlichen Akteure, die sich – durchaus unbewusst – in besonderer Weise um das Voranschreiten des Geistes auf dem Weg zur universellen Freiheit verdient machen bzw. dessen Explikation erst ermöglichen.[44]

Obgleich Hegel Geschichte (verstanden in der Selbstentfaltung des Geistes) prinzipiell als Bewegung darstellte, die unweigerlich auf ein Ziel hinausläuft, wagte er selbst keine eindeutige Prognose über deren etwaiges „Ende“. Dies taten – wie sich bald zeigen wird – andere für ihn. Festzuhalten bleibt zunächst, dass „die Frage nach dem Ende der Geschichte [nach Hegels Geschichtstheorie] von sekundärer Bedeutung“[45] ist und an dieser Stelle auch (noch) keine Relevanz besitzt.

Zwar verstand Hegel seine Philosophie als abschließend, es ließe sich auch sagen: absolut, doch traten insbesondere nach seinem Tod heftige Kontroversen auf, welche dazu führten, dass die Hegel-Schule in Form der als konservativ bzw. orthodox geltenden Rechts- und der als eher progressiv angesehenen Linkshegelianer zwei gegensätzliche Hauptströmungen herausbildete. Während die Rechtshegelianer weitestgehend an der ursprünglichen Lehre festhielten, emanzipierten sich die Linkshegelianer, in deren Umfeld sich auch der junge Marx bewegte, zumindest teilweise von Hegel und stellten bestimmte Denkkategorien in Frage. So wird Ludwig Feuerbach, neben Hegel einer der „Wegbereiter der Marxschen Anthropologie“[46], zugeschrieben, den Hegelschen Idealismus abgesetzt bzw. überwunden zu haben, indem er dessen „absoluten Geist“ als Christengott entlarvte und den universellen Charakter des menschlichen Individuums herausstellte, welches „nicht inspiriert von irgend einer ewigen, übersinnlichen Idee, sondern veranlaßt und bedingt durch die Gegenstände der Erfahrungs-, der sinnlichen Welt“[47] handelt.

[...]


[1] Vgl. Fukuyama, Francis: The End of History? In: The National Interest, Summer 1989. Unter: http://www.wesjones.com/eoh.htm (abgerufen am 24.05.2012).

[2] Vgl. ebd.

[3] Vgl. zu Hegels Geschichtsverständnis auch die Ausführungen auf der nachfolgenden Seite.

[4] Vgl. Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? (Originaltitel: The End of History and the Last Man), München 1992. Anm.: Es erscheint schleierhaft, warum der Originaltitel nicht wörtlich ins Deutsche übersetzt und somit in gewisser Weise verfälscht bzw. unzulässig verkürzt wurde. Gerade der Zusatz „and the Last Man“, der zweifelsohne eine Anspielung auf den „letzten Menschen“ in Nietzsches „Zarathustra“ ist, verweist auf das für die Gesamtkonzeption des Buches durchaus bedeutende (selbst)kritische Schlusskapitel.

[5] Fukuyama, Francis, zitiert nach Vorländer, Hans: Die Wiederkehr der Politik und der Kampf der Kulturen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 52-53/2001, S. 3.

[6] Ders./ebd.

[7] Vgl. Wiersing, Erhard: Geschichte des historischen Denkens. Zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte, Paderborn 2007, S. 329.

[8] Ebd., S. 396.

[9] Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Ausgewählte Werke. Moskau 1976b, S. 636.

[10] Marx, Karl / Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Ausgewählte Werke. Moskau 1976, S. 35.

[11] Nach der gescheiterten Februarrevolution 1848 musste Marx allerdings zugeben, dass dieser von ihm gezeichnete Klassengegensatz zum damaligen Zeitpunkt (noch) nicht ausschlaggebend war und gesellschaftliche Konfliktlinien anderweitig verliefen. Vgl. dazu Marx, Karl (Autor) / Brunkhorst, Hauke (Kommentator): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Kommentar von Hauke Brunkhorst. Frankfurt/M. 2007.

[12] Marx / Engels (1976), S. 63.

[13] Vgl. Braunthal, Alfred: Karl Marx als Geschichtsphilosoph, Berlin 1920.

[14] Vgl. Kühne, Karl: Geschichtskonzept und Profitrate im Marxismus, Neuwied 1976.

[15] Vgl. Fetscher, Iring: Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten. Band 1: Philosophie und Ideologie, 7. – 9. Tsd., München 1965.

[16] Vgl. Lutz-Bachmann, Matthias: Geschichte und Subjekt. Studie zu Bedeutung und Problematik der Geschichtsphilosophie im Werk von Immanuel Kant und Karl Marx, Frankfurt/M., Univ., Diss., 1981.

[17] Vgl. Ley, Hermann: Vom Bewußtsein zum Sein. Vergleich der Geschichtsphilosophie von Hegel und Marx, Berlin 1982.

[18] Vgl. Anderson, Perry: Zum Ende der Geschichte (Originaltitel: The Ends of History), Berlin 1993.

[19] Vgl. De Berg, Henk: Das Ende der Geschichte und der bürgerliche Rechtsstaat. Hegel – Kojève – Fukuyama. Tübingen 2007.

[20] Brock, Ditmar u.a.: Soziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons, München 2007, S. 58.

[21] Vgl. ebd.

[22] Marx, Karl: Thesen über Feuerbach. In: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Ausgewählte Werke. Moskau 1976a, S. 28.

[23] Vgl. Friedenthal, Richard: Karl Marx. Sein Leben und seine Zeit, Neuausgabe April 1990, 2. Aufl., 28. – 32. Tsd. (1. Aufl., 1. – 5. Tsd. dieser Ausgabe), München 1990, S. 626f.

[24] Brock (2007), S. 58.

[25] Friedenthal (1990), S. 329.

[26] Band 2 und 3 wurden nach Marx’ Ableben auf der Grundlage von Manuskripten und Entwürfen durch Friedrich Engels herausgegeben. Vgl. Brock (2007), S. 58.

[27] Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Der Produktionsprozess des Kapitals, 2. Aufl., Köln 2001, S. 39.

[28] Vgl. Brock (2007), S. 59f.

[29] Engels, Friedrich: Das Begräbnis von Karl Marx. In: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Ausgewählte Werke. Moskau 1976a, S. 453.

[30] Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens. Die Neuzeit. Die politischen Strömungen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2008, S. 162.

[31] Vgl. Marx, Karl / Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer, und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, 4. Aufl., 51. – 60. Tsd., Berlin 1960.

[32] Vgl. Marx / Engels (1976).

[33] Vgl. Jaeschke, Walter: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart; Weimar 2003, S. 403.

[34] Vgl. Wiersing (2007), S. 322.

[35] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. In: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich / Heer, Friedrich (Hrsg.): Hegel, Frankfurt/M. und Hamburg 1955, S. 86.

[36] Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Schriften, Band 4, Nachdruck der Ausgabe aus dem Suhrkamp Verlag 1978-1989, Springe 2004, S. 213.

[37] Wiersing (2007), S. 325.

[38] Marcuse (2004), S. 200.

[39] Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, 4. Aufl., Frankfurt/M. 1995, S. 509. Für eine feingliedrigere Aufteilung der Weltgeschichte in Unterperioden vgl. Hegel (1955), S. 111ff.

[40] Jaeschke (2003), S. 403.

[41] Vgl. Wiersing (2007), S. 330.

[42] Hegel (1995), S. 506.

[43] Ebd.

[44] Vgl. Jaeschke (2003), S. 410ff.

[45] Maurer, Klemens Reinhart: Hegel und das Ende der Geschichte, 2. Aufl., erweitert um den Beitrag „Teleologische Aspekte der Hegelschen Philosophie“, Freiburg/München 1980, S. 177.

[46] Fetscher (1965), S. 105.

[47] Braunthal (1920), S. 40.

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Titel: Eine vergleichende Betrachtung der Geschichtsphilosophien von Karl Marx und Francis Fukuyama