Kritik ist meistens produktiv und progressiv. Deshalb äußern sich Kritiker auch zu allen nur denkbaren Themen in Kultur, Gesellschaft, Politik und Literatur, um ihre Thesen zu verbreiten und zum Nachdenken anzuregen. Es gibt Kritiken zu fast jedem sozialen Ereignis und zu jeder Entwicklung. Fast! Denn ein Feld, das einen immer dominanteren Standpunkt in unserem Leben einzunehmen scheint, bleibt, was kritische Stellungnahmen angeht, häufig außen vor. Medien und Computer! Nicht, daß es keine Kritiken gäbe. Etliche kann man jeden Tag an Kiosken in Form von Magazinen oder in Buchhandlungen und Bibliotheken in Form von Ratgebern und Tutorials einsehen und erstehen. Jedoch finden sich hier meistens Lob, Anerkennung und vielfach großartige Thesen, wie sich unsere Welt zum Besseren verändern wird. Wie Computer Armut und Klassenunterschiede beseitigen. Wie das Internet einem hilft, Freunde zu finden. Wie Schüler global und interaktiv lernen und sich 24 Stunden lang bilden können. Kurz: Viele Kritiken beschränken sich darauf, die Vorzüge und Ideale der neuen "vernetzten Gesellschaft" zu präsentieren und zu loben.
Ziel dieser Hausarbeit soll es sein, auf Werke hinzuweisen und einzugehen, die sich äußerst kritisch bis sogar ablehnend mit den neuen Medien beschäftigen und somit den Horizont des Lesers erweitern oder zumindest dazu anregen, die "schöne neue Welt" einmal kritisch zu reflektieren. Besonders hervorheben möchte ich die Arbeiten von Clifford Stoll, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Im zweiten Teil wird der Leser dann mit einigen weiteren bekannten und auch mit weniger bekannten Kritikern der neuen Medien konfrontiert.
Inhalt
Einleitung
1. Kulturkritik nach Clifford Stoll
1.1 Clifford Stoll
1.2 „Die Wüste Internet“
1.3 Der Gegensatz zwischen E-Mail und Brief
1.4 Überblick über die übrigen Themen in „Wüste Internet“
1.5 Cliff Stoll: „High Tech Heretic“
2. Thesen anderer Kritiker
2.1 Überblick
2.2 „Neue Medien – Neue Gesellschaft?“
2.3 Neil Postman und sein „Verschwinden der Kindheit“
Fazit und kritische Beurteilung
Bibliographie
Einleitung
Kritik ist meistens produktiv und progressiv. Deshalb äußern sich Kritiker auch zu allen nur denkbaren Themen in Kultur, Gesellschaft, Politik und Literatur, um ihre Thesen zu verbreiten und zum Nachdenken anzuregen. Es gibt Kritiken zu fast jedem sozialen Ereignis und zu jeder Entwicklung. Fast!
Denn ein Feld, das einen immer dominanteren Standpunkt in unserem Leben einzunehmen scheint, bleibt, was kritische Stellungnahmen angeht, häufig außen vor. Medien und Computer!
Nicht, daß es keine Kritiken gäbe. Etliche kann man jeden Tag an Kiosken in Form von Magazinen oder in Buchhandlungen und Bibliotheken in Form von Ratgebern und Tutorials einsehen und erstehen. Jedoch finden sich hier meistens Lob, Anerkennung und vielfach großartige Thesen, wie sich unsere Welt zum Besseren verändern wird. Wie Computer Armut und Klassen-unterschiede beseitigen. Wie das Internet einem hilft, Freunde zu finden. Wie Schüler global und interaktiv lernen und sich 24 Stunden lang bilden können. Kurz: Viele Kritiken beschränken sich darauf, die Vorzüge und Ideale der neuen „vernetzten Gesellschaft“ zu präsentieren und zu loben.
Ziel dieser Hausarbeit soll es sein, auf Werke hinzuweisen und einzugehen, die sich äußerst kritisch bis sogar ablehnend mit den neuen Medien beschäftigen und somit den Horizont des Lesers erweitern oder zumindest dazu anregen, die „schöne neue Welt“[1] einmal kritisch zu reflektieren.
Besonders hervorheben möchte ich die Arbeiten von Clifford Stoll, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist.
Im zweiten Teil wird der Leser dann mit einigen weiteren bekannten und auch mit weniger bekannten Kritikern der neuen Medien konfrontiert.
1 Kulturkritik nach Clifford Stoll
1.1 Clifford Stoll
Um Clifford Stoll und sein schriftstellerisches Talent und seine Fähigkeit zum ironischen Witz darzustellen, braucht es eigentlich nicht viel mehr, als die Wiedergabe seiner Selbstcharakterisierung: Er fertige wöchentlich eine Sicherungskopie seiner Daten an, zahle alle seine shareware-Gebühren, verwende Zahnseide und lebe mit seiner Frau, zwei Kindern und drei Katzen, die er nicht leiden könne, in Oakland, Kalifornien.[2]
Eine „richtige, normale“ Biographie hat Cliff Stoll natürlich auch. Eigentlich ist der 1951 geborene Amerikaner studierter Astronom und einer der Pioniere des Internet.
Bekannt geworden ist er unter anderem durch die Erforschung der Jupiteratmosphäre. Er arbeitet am „Harvard-Smithsonian Centre for Astrophysics“ und hat neben seinen zwei medien-kritischen Büchern „Silicon Snake Oil – 2nd thoughts on the information highway“ (deutsch: „Die Wüste Internet – Geisterfahrten auf der Datenautobahn“) und „High Tech Heretic“ (deutsch: „Warum Computer nicht ins Klassenzimmer gehören“) mit seinem Spionageroman „Kuckucksei“ auch fernab der wissenschaftlichen Fachpresse viel Lob und Anerkennung erhalten.
In den folgenden Kapiteln möchte ich versuchen zunächst einen Gesamteindruck über sein Buch „Die Wüste Internet“ zu geben, um dann etwas detaillierter auf seine Thesen des Gegensatzes von E-Mail und handschriftlichem Brief einzugehen, der für mich exemplarisch die Idee Stolls wiedergibt.
Nach einem kurzen Überblick über seine übrigen Thesen, werde ich dann, weniger akzentuiert, sein erst kürzlich erschienenes zweites Buch „High Tech Heretic“ vorstellen, aus dem sich für mich aber keine neuen Thesen mehr ergeben haben, die zum Verständnis des Gesamtkontextes der Hausarbeit beitragen könnten.
1.2 Die Wüste Internet
„Die Wüste Internet – Geisterfahrten auf der Datenautobahn“ oder „Silicon Snake Oil – 2nd thoughts on the information highway“ ist mehr als Kritik. Es ist ein Versuch, die Euphorie um Datenautobahn und Vernetzung, Internet und Computer, Multimedia und Interaktivität ein wenig zu dämpfen. Stoll möchte zeigen, daß nicht alles, was neu und medial ist, auch das Prädikat sinnvoll und gut verdient.
Im Gegenteil, er zeigt in einer Mischung aus Sachkenntnis, trockenem Witz und Wärme, daß das Leben sich eben doch woanders abspielt als vor dem Bildschirm.[3]
In 13 Kapiteln beleuchtet er anhand von Beispielen, zum Teil aus seinem eigenen Erleben, wie die zunehmende Vernetzung unserer Gesellschaft einzelne Menschen isoliert.
Er beschreibt, wie Computer eine virtuelle Welt vorgaukeln, in welcher jedes persönliche Empfinden, Menschlichkeit, Emotionen und Gefühle irrelevant und überflüssig werden.
Er zeichnet eine Welt, in der Individualität verloren geht, Menschen sich von ihren Familien und Freunden entfremden und lieber anonym im Netz chatten als einen Spaziergang zu machen und dem Gesang der Vögel im Wald zu lauschen.
Ferner kritisiert er die Zunahme von Computern in Schulen und Bibliotheken, durch deren Anschaffung an anderer Stelle, zum Beispiel beim Kauf neuer Bücher und bei der Einstellung neuer Lehrer gespart werden muß. Er verkündet den Niedergang großer und kleiner Büchereien, ja sogar das Verschwinden von Büchern überhaupt zugunsten von CD-Roms.
Das Bedrückende daran ist: In vielem, was er sagt, hat Stoll Recht. Reflektiert man nur einmal seine eigenen Umgangsweisen mit dem Internet bzw. betrachtet man sein Umfeld auf der Grundlage von Stolls Lektüre etwas genauer, so erkennt man viele Thesen, die Stoll 1995 bei Erstausgabe des Buches aufstellte, bestätigt.
Die beste Zusammenfassung seines Buches liefert Cliff Stoll selbst im letzten Kapitel:
„Der volkstümliche Mythos will es, daß Netze leistungsstark, weltumspannend, schnell und preiswert sind. Sie sollen der rechte Ort sein, um Freunde zu treffen und Geschäfte zu machen. Man findet dort angeblich Unterhaltung, Fachwissen und Bildung. Kurz: Es kommt darauf an, online zu sein.
Das ist nicht unbedingt der Fall.
Unsere Netze können frustrierende, teure und unzuverlässige Verbindungen sein, die sinnvoller Arbeit in die Quere kommen. Es ist eine hochgejubelte, inhaltsleere Welt, der jegliche Wärme und Mitmenschlichkeit fehlt.
Die vielgepriesene Informations-Infrastruktur geht an den meisten sozialen und wirtschaftlichen Zeitfragen vorbei. Gleichzeitig bedroht sie wertvolle Bestandteile unseres gesellschaftlichen Lebens, wie Schulen, Büchereien und soziale Institutionen.
Vögel singen da nicht.
Allen Verheißungen virtueller Gemeinschaft zum Trotz: Es ist wichtiger, ein wirkliches Leben in einer wirklichen Umgebung zu führen...“[4]
1.3 Der Gegensatz zwischen E-Mail und Brief
Auf den ersten Blick erscheint es klar und deutlich. E-Mail ist schneller, billiger und einfacher als ein handgeschriebener Brief, versandt mit der normalen Post.
Daß dem nicht so ist, sondern oftmals eher das Gegenteil eintritt, versucht Cliff Stoll anhand von einfachen und nachvollziehbaren Beispielen im zehnten Kapitel seines Werks „Die Wüste Internet“ klar zu machen. In „Eine Untersuchung zum Briefverkehr, ein Experiment mit dem Postamt und ein Kommentar über Geheimschriften“ zeigt sich über 25 Seiten exemplarisch Stolls Kritik am Internet.
Zu Beginn wirft er die Frage auf, wie die vielgeschmähte schwerfällige, altmodische, ineffiziente und unendlich langsame „Schneckenpost“ denn überhaupt mit der elektronischen Kommunikation konkurrieren kann?
Ganz einfach, so meint Stoll: Indem sie überallhin liefert und das billig, rasch und zuverlässig.[5]
Auf Deutschland übertragen läßt sich sagen, daß man für eine Mark und zehn Pfennig einen Brief irgendwohin im ganzen Land verschicken kann und allermeistens kommt dieser dort binnen eines oder weniger Tage an.
Da jeder heute mit der Postzustellung vertraut ist, stellt man hohe Ansprüche daran. Bei E-Mail hingegen, so Stoll, wisse kaum jemand, wie es eigentlich funktioniert und deshalb ignoriert man Fehler und Probleme eher.
Er bringt das Beispiel von einem verdrossenen Postbeamten, der einen Sack Briefe verbrennt. Dies, so sagt er, mache Schlagzeilen im ganzen Land. Wenn aber einmal ein Universitätsrechner abstürzt und drei Tage Posteingang vernichtet, zucken die meisten nur mit den Schultern.[6]
Ferner weist der Autor darauf hin, daß E-Mail äußerst unstandardisiert ist. Das bedeutet einerseits, daß verschiedene Programme unterschiedliche Wege anbieten, um E-Mails abzurufen. Die Beherrschung des Mail-Abrufs bei AOL bedeutet daher also nicht direkt eine Vertrautheit mit dem Mailsystem von T-Online oder anderen Anbietern. Andererseits, so Stoll, kann man auch nie sicher sein, ob der Empfänger der E-Mail eingebundene Grafiken oder Töne mit seinem Mail-Programm überhaupt lesen kann oder nur unverständliche Fehlermeldungen erhält. Die „normale“ Post hingegen funktioniert selbst über Ländergrenzen hinweg ähnlich und versenden lassen sich neben Text natürlich auch Bilder, Zeichnungen und dergleichen.
Ein weiterer Kritikpunkt Stolls ist die Vergänglichkeit der E-Mail. Sie wird empfangen, schnell durchgelesen und dann „weggespeichert“, ohne sie wirken zu lassen oder mehrmals zu lesen. Briefe hingegen überdauern. Stoll berichtet von einer kleinen Kiste auf seinem Speicher, in welcher er alte Briefe sammelt und gelegentlich durchstöbert:
„Alle paar Monate klettere ich die Leiter hinauf und gelange durch eine Luke auf meinen Dachboden. Dort drüben neben einem staubigen Sonnenstrahl steht ein grauer Schuhkarton mit Briefen. Hier ist ein Valentinsgruß aus meinem elften Lebensjahr; da eine Postkarte meines besten Freundes. Ein Liebesbrief meiner Freundin aus der Studienzeit. Es kann leicht eine Stunde dauern, bis ich die gesuchte Post finde, weil ich mir für jede Erinnerung Zeit lasse. Wie schön – Korrespondenz, die mein Herz berührt.
Briefen aus dem Netz fehlt die Wärme, selbst, wenn sie zehn Jahre alt sind. Kein alterndes Papier, keine verblassenden Namenszüge. Zukünftige Generationen werden ihre Abenteuer vielleicht auf Floppy Discs und Internet Uniform Record Locators abspeichern. Ich bestehe auf meinem Schukarton mit alten Briefen.“[7]
Im folgenden beschreibt Cliff Stoll wie es möglich ist, durch alte Briefe Erinnerungen wiederzuwecken und sogar nach Jahren wieder Interesse für alte Freunde und Bekannte zu entwickeln. Fremde Briefmarken und Poststempel würden zu Reisen animieren und alte Adressangaben erinnerten an das Haus eines Freundes, in dem man einst zu Besuch war. Dies alles biete E-Mail nicht. Er resümiert:
„E-Mail eignet sich weder für Hochglanzwerbung noch für parfümierte Liebesbriefe. Ich kann keine Tafel Schokolade abrufen oder mir per Datenübertragungsprotokoll das Fingerfarbengemälde meiner Nichte schicken lassen, und ich möchte es auch gar nicht. Ich will das Orginal sehen, und zwar an der Kühlschranktür.“[8]
Gegen Ende dieses Gedankengangs weist Stoll, indem er den Hilferuf per E-Mail einer sechzehnjährigen Bosnierin zu Zeiten des Bürgerkrieges in Ex-Jugoslawien darstellt, jedoch darauf hin, daß für eine wirklich ausdrucksstarke Botschaft das Medium eigentlich zweitrangig ist.[9]
[...]
[1] Eine Anspielung auf Huxleys Roman ist hier durchaus nicht zufällig, sondern beabsichtigt!
[2] Selbstcharakterisierung auf der Innenseite des Covers zu „Die Wüste Internet“
[3] Innenseite Cover, Buchbeschreibung des Fischer Verlag, „Wüste Internet“
[4] Stoll, Cliff. „Die Wüste Internet“, Kapitel 13, Seite 336
[5] Stoll. „Wüste Internet“, Kapitel 10, S. 227 und 228
[6] Stoll. „Wüste Internet“, Kapitel 10, S. 228
[7] Stoll. „Wüste Internet“, Kap. 10, S. 230, 231
[8] Stoll. „W.I.“,Kap. 10, S.239
[9] Stoll. „W.I.“, Kap. 10, S.236